9punkt - Die Debattenrundschau

Wir werden uns alle irgendwann anstecken müssen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.11.2021. Voilà, willkommen in der vierten Welle! "Ich halte es für sicher, dass man kontakteinschränkende Maßnahmen braucht", sagt Christian Drosten in der Zeit. In Österreich wird das Gänseessen zum Martinstag schon storniert, berichtet die taz. Bei Unherd erzählt Ayaan Hirsi Ali, wie sie lernte, dass Cancel Culture nicht nur islamistisch ist. Die FAZ prüft die Pläne für eine antiwoke Uni in Austin. In der Welt ruft Deniz Yücel an die Adresse der polnischen Grenzsoldaten: "Lasst sie doch einfach kommen." Die SZ will lieber Sanktionen gegen Belarus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.11.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Virologe Christian Drosten sagt im Gespräch mit Giovanni Di Lorenzo und Andreas Sentker von der Zeit einige Hammersätze über die neueste Coronawelle. Als eine "Pandemie der Ungeimpften" will er sie nicht sehen, denn "Wir haben eine Pandemie, zu der alle beitragen - auch die Geimpften, wenn auch etwas weniger." Außerdem "bin ich überzeugt davon, dass wir nur einen geringen Nutzen von vollständig geimpften Erwachsenen haben, die sich nicht boostern lassen." Und trotz allen Impfens: "Wir werden uns alle - hoffentlich auf dem Fundament einer vollständigen Impfimmunisierung - irgendwann anstecken müssen, schon damit wir eine relevante Immunisierung kriegen." Und dann noch die frohe Botschaft für die Weihnachtszeit: "Ich halte es für sicher, dass man kontakteinschränkende Maßnahmen braucht. Wie genau die aussehen werden, ist, wie gesagt, eine Sache der Politik." Nebenbei erklärt Drosten, dass die Laborthese nur von Nicht-Experten vorgebracht wird. Und er kritisiert die Medien: "Einzelne Medien in Deutschland haben - auch mit der Auswahl ihrer Quellen und Gäste - über Monate hinweg mit einer unverhohlenen Agenda der Bevölkerung suggeriert, dass die Gefahr gar nicht so groß ist." Noch mehr Drosten gibt's wie gewohnt im NDR.

Immer mehr Pflegekräfte und Ärzte kommen durch die "extrem aufwendige" Betreuung von Covid-Patienten an ihre Belastungsgrenzen, weiß Felix Hütten in der SZ und ärgert sich umso mehr über die Impfverweigerer, denn sie tragen bei zum "Leid all jener Patienten, die im Unterschied zu Impfverweigerern keine freie Entscheidung über einen Schutz vor ihrer Erkrankung treffen konnten. Es ist das Leid der Bauchspeicheldrüsenkrebs-Patientin, die dringend operiert werden müsste. Die OP aber wird verschoben, weil es für die Überwachung nach dem Eingriff kein freies Bett gibt. Dieser Konflikt zermürbt auch das Personal auf den Intensivstationen."

Wie die nächsten Wochen laufen könnten, erzählt ein Gastronom aus Österreich, wo die Inzidenzen noch höher sind, in einer Reportage von Ralf Leonhard in der taz: "Der Bärenwirt, dessen Gourmet-Restaurant weit über Petzenkirchen im niederösterreichischen Mostviertel Gäste anzieht, hatte Einbrüche erwartet. Aber keine solch drastischen. Am Samstag sei das Lokal mit 50 Gästen noch voll gewesen: 'Gestern waren es fünf.' Allein für den November seien 650 Reservierungen storniert worden. Rund um den Martinstag am 11. November kommen normalerweise kleine und größere Gruppen zum traditionellen Gänseessen, zudem beginnen die Weihnachtsfeiern. 'Wenn eine Achtergruppe reserviert hat und einer ist nicht geimpft, sagen alle ab', sagt Mayrhofer jetzt: 'Die Firmen trauen sich nicht und sagen lieber ganz ab.'"
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Ideen

Die Pläne für eine Universität in Austin, die gegen die Sprachregelungen der modischen Linken angeht (unser Resümee), scheinen recht konkret zu sein, berichtet Thomas Thiel in der FAZ: "Allem Anschein nach handelt es sich bei der Universität von Austin um einen ernstzunehmenden Versuch, aus dem konstatierten Meinungskerker auszubrechen. Die Hochschule soll einen physischen Ort haben. Angeblich wird gerade über ein Grundstück verhandelt. Die Akkreditierung ist beantragt. Im Frühling soll die Lehre mit dem Programm 'Verbotene Kurse' beginnen, in dem über genau jene Dinge gesprochen werden soll, über die man andernorts nicht mehr reden dürfe. Kathleen Stock ist an der Konzeption beteiligt."

Auch Ayaan Hirsi Ali gehört zu den Gründungsmitgliedern der Uni. Bei Unherd erzählt sie, wie sie vor einigen Jahren zweimal wegen ihrer religionskritischen Positionen an amerikanischen Unis unter Druck geriet: "In beiden Fällen wurden akademische Freiheit und freie Meinungsäußerung von Islamisten in Frage gestellt. Aber das hat mich nicht beunruhigt: Als Abtrünnige, die viele Jahre damit verbracht hat, sie zu kritisieren, und im Gegenzug Todesdrohungen erhalten hat, war ich an ihre Antipathie gewöhnt. Der Sprung ins Jahr 2021 zeigt jedoch, dass es falsch war, diese zensorische Haltung als einen islamistischen Impuls abzutun."

Für die Zeit hat sich Cathrin Gilbert auf den Weg nach Berkeley gemacht, um mit Steven Pinker über freie Meinungsäußerung zu plaudern. Am gefährlichsten sei die rechte Troll-Kultur, weil sie Demagogen an die Macht befördere, "im Vergleich dazu haben die Apologeten der Cancel-Culture an Universitäten oder in den Verwaltungen eine geringe Macht." Aber: "Es gibt diese 'Woke'-Bewegung, die vorgibt, einen Krieg für die soziale Gerechtigkeit zu führen. (…) Vor ungefähr eineinhalb Jahren wurde diese Bewegung hier in den USA zu einer großen Modeerscheinung in der akademischen Welt. Ihre Anhänger sind fast in einem Wettbewerb, andere Leute der angeblich falschen Meinung, der unkorrekten Meinung zu überführen. Das ist ein idiotisches Streben, es geht zurück auf die Frankfurter Schule, die kritische Angsttheorie. Es liegt in der menschlichen Natur, dass Menschen sich ängstigen, wenn sie einer Minderheit angehören."
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Europa

Lukaschenkos "Waffe wäre keine, wenn Europa nicht eine derartige Panik vor ein paar Tausend Migranten hätte", meint Deniz Yücel in der Welt und fordert: "Lasst sie doch einfach kommen!". Denn: "Selbst wenn die gegenwärtige Krise gelöst wird, womöglich mit einer Mischung aus Drohungen und Zugeständnissen an die Adresse Lukaschenkos, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Nächste es mit derselben Erpressungsmethode veruschen wird, etwa die Ukraine, Russland, Marokko, Libyen, Algerien, Ägypten, Tunesien, oder bei Gelegenheit wieder die Türkei. Auch auf andere Weise rächt sich gerade Europas selbstverschuldete Erpressbarkeit: Dass sich unter den Flüchtlingen so viele Kurden und Jesiden befinden, hat auch etwas damit zu tun, wie untätig die EU den Einmarsch der türkischen Armee und ihrer dschihadistischen Hilfstruppen in Syrien geduldet hat, weil man sich in der Flüchtlingsfrage so abhängig von Erdogan gemacht hat. Und die Flüchtlinge aus Afghanistan sind auch ein Ergebnis der Kapitulation des Westens vor den Taliban."

In der SZ fordert Stefan Kornelius indes weitere Sanktionen gegen Belarus, auch wenn der "Drahtzieher" woanders sitze: "Die zynische Schleuseridee passt nicht so recht zum bäuerlichen Langzeitdiktator in Minsk, der ja befürchten muss, dass ihm Tausende Menschen aus seiner Erpressungsfracht für lange Zeit im eigenen Land erhalten bleiben. Vielmehr spiegelt sich auch im Migranten-Transport die umfassende Destabilisierungskampagne Russlands, die mit Cyberangriffen nicht begonnen hat und mit dem Gaspoker nicht enden wird. Ziel dieser Kampagne ist Deutschland, weil das Land so wunderbar gespalten ist in seiner Sicht auf Putin. Der Regierungswechsel hin zur (in Russland-Fragen) zerrissenen SPD und die Lähmung durch die mehrwöchige Regierungsbildung laden geradezu ein zur Neuvermessung der Möglichkeiten."

Sechzig Jahre nach dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen ist die Türkei selbst zum Einwanderungsland geworden, schreibt Volker Pabst in der NZZ. Mit Blick auf die allein 3,7 Millionen im Land lebenden syrischen Kriegsflüchtlinge rät er der Türkei, nicht die gleichen Fehler bei der Integration zu machen wie Deutschland: "Die türkische Regierung hat zwar relativ früh einige wichtige Weichen gestellt, allen voran mit dem Entscheid von 2016, die syrischen Kinder ins hiesige Schulsystem aufzunehmen. Beim Arbeitsmarkt sieht es aber viel schlechter aus. Die große Mehrheit der Syrer ist im informellen Sektor tätig, wegen des tiefen Ausbildungsniveaus, aber auch wegen administrativer Hürden bei regulären Jobs. Fast gänzlich fehlt eine Debatte über die gesellschaftliche Integration und die Rahmenbedingungen für ein langfristiges Zusammenleben. Stattdessen pflegt man die Illusion, dass die Syrer eines Tages alle wieder verschwinden werden."
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Internet

Das EU-Gericht bestätigte jetzt ein Urteil gegen Google von 2017, das den Konzern zu einer Strafzahlung von 2,4 Milliarden Euro verurteilte, weil Verbraucher bei Preisrecherchen mithilfe der Suchmaschine zum konzerneigenen Vergleichsdienst weitergeleitet wurden. In der SZ begrüßt Claus Hulverscheidt das Urteil und fordert außerdem: "Um das Problem zu beheben, sollte die Staatengemeinschaft die Giganten zwingen, Marktbetrieb und -verkauf in unabhängige Tochterfirmen auszulagern. Konzerne, die das nicht konsequent umsetzen, müssen förmlich aufgespalten werden. Das klingt nach Sozialismus, ist es aber nicht: Ähnliche Beschlüsse hat es wiederholt gegeben, etwa im Energie-, Telekom- und Bahnsektor. Auch eine zweite Idee, die im US-Kongress erörtert wird, verdient Beachtung: Die Parlamentarier wollen die Megafirmen zwingen, Kunden auf Wunsch eine Version ihrer Such- oder Social-Media-Plattformen anzubieten, die ohne personalisierenden Algorithmus arbeitet: Die Nutzer erhielten dann weniger passgenaue Anzeigen, aber auch weniger Falschnachrichten."
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Stichwörter: Google, Wettbewerb, Social Media