9punkt - Die Debattenrundschau

Fürsorglich, vor- und nachsorgend

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.11.2021. Die Grünen-Politikerin Claudia Roth wird Nachfolgerin Monika Grütters' als Kulturbeautragte des Bundes. Die Meldung überrascht, weil es eigentlich hieß, dass die SPD das Amt bekommen sollte, notieren die Zeitungen. Roth wird die freien Szenen stärken, vermuten sie. Die taz freut sich, dass die Ampelkoalition verspricht, den NSU-Komplex aufzuarbeiten. Die Welt recherchiert zur Ditib, die in vielen Bundesländern Partner für den Religionsunterricht wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.11.2021 finden Sie hier

Kulturpolitik

Die prominente Grünen-Politikerin Claudia Roth wird Nachfolgerin von Monika Grütters als Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), so der offizielle Titel des Amtes. Die Meldung kam am späten Donnerstagabend, berichtet Jörg Häntzschel in der SZ. Und noch am Tag zuvor hatte "die Nachricht, dass das Amt der Kulturstaatsministerin an die Grünen und nicht an die SPD fallen würden... für Verwunderung gesorgt. Ursprünglich war der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda fest vorgesehen für diesen Posten." Brosda hatte sogar zusammen mit Olaf Scholz einen programmatischen Artikel zur Kulturpolitik in der Zeit publiziert (unser Resümee).

Für Andreas Kilb in der FAZ ist das Amt dadurch tendenziell degradiert, denn es entsteht "eine parteipolitische Kluft zwischen Kanzler und Kulturressort. Grütters konnte sich im Zweifelsfall immer auf die Rückendeckung von Angela Merkel verlassen. Die neue Kraft wird dagegen nicht mehr automatisch mit der Unterstützung ihres Chefs rechnen können. Für die Rolle der Kultur in der gerade beginnenden Debatte über Corona-Lockdowns und pandemiebedingte Teilschließungen ist das kein gutes Vorzeichen." Für Kilb ist die Entwicklung des Humboldt-Forums eine zentrale Aufgabe der neuen Kulturministerin, "sie muss sofort beginnen: als konzeptionelle Sanierung bei laufendem Betrieb".

Nun hatte sich schon unter Monika Grütters gerade in den vornehmen, durch den Bund geförderten Institutionen ein BDS befürwortender Diskurs durchgesetzt, der sich in dem Aufruf der "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" (unsere Resümees) artikulierte. Diese Position dürfte unter Claudia Roth noch gestärkt werden, fürchtet Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen. Roth gehörte zu den Grünen Abgeordneten, die gegen die BDS-Resolution des Bundestags votiert hatten, deren Rücknahme das "Weltoffen"-Papier fordert. "Geht es um den Iran, dessen Mullah-Regime Homosexuelle an Baukränen aufhängt, Feministinnen einkerkert und die Jugend des Landes bei Protesten von der Straße schießen lässt, sieht Roth die Dinge lässiger. Unvergessen das Foto auf dem sie 2013 den damaligen Botschafter des Irans, Ali Reza Sheikh Atta, am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz mit 'High Five' begrüßte."

Rüdiger Schaper unternimmt für den Tagesspiegel eine Tour d'horizon durch die kulturpolitischen Passagen des Koalitionsvertrags: "Das Kulturverständnis der Ampel-Koalitionäre hat durchaus etwas Übergriffiges. Und dann wieder ist es fürsorglich, vor- und nachsorgend, wenn es zu den Freien und Selbstständigen in der Kreativwirtschaft kommt. Sie sollen gestärkt werden."
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Religion

Eine Rehabilitierung scheint für den türkischen Moschee-Verband Ditib, der direkt unter Tayyip Erdogans Kommando steht, greifbar, berichtet Lennart Pfahler in der Welt. NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen scheinen für den Religionsunterricht weiter mit der Ditib kooperieren zu wollen. Da könnte ein Artikel Marvin Hilds von der "Göttinger Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen" stören. Hild hat die Social-Media-Profile hochrangiger Ditib-Funktionäre in Deutschland untersucht und ist auf zahllose antisemitische Äußerungen und Leugnungen des Genozids an den Armeniern gestoßen. Lennartz zitiert auch eine Reaktion des Ditib-Verbands auf die Funde: "Man begrüße, 'dass sich Göttinger Wissenschaftler des Instituts für Demokratieforschung, die Mühe gemacht haben, die Inhalte der Facebook-Profile von über 2.000 aktiven Ehrenamtlern seit mindestens 2014 zu durchforsten'. Gleichzeitig hoffe man, 'dass dieses Engagement genauso effizient eingesetzt wird, wenn es um Angriffe im Bereich des anti-muslimischen Rassismus geht'."

In der NZZ skizziert Lucien Scherrer den wachsenden Einfluss des politischen Islam in Europa. Die Strategie der "gemäßigten" Islamisten beschreibt ihm der Politologe Lorenzo Vidino: "'Gegen innen sagen sie den Leuten 'Wir sind anders, wir haben eigene Werte, und die Gesellschaft will uns nicht'. Nach außen geben sie sich als tolerante, aber diskriminierte Minderheit, die Geld vom Staat braucht.' Dieses Schauspiel treiben manche Islamisten laut Vidino so weit, dass sie das Gendersternchen benutzen, Kontakte zu jüdischen Vereinen suchen und sich mit LGBT-Aktivisten fotografieren lassen. 'Am nächsten Tag laden sie dann einen Prediger ein, der Gewalt gegen Frauen befürwortet und Steinigungen von Schwulen rechtfertigt.'"
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Politik

Das "Tugend-Ministerium" der Taliban hat erlassen, dass afghanische Frauen nicht mehr in Filmen und Serien mitspielen dürfen - und dass Produktionen, die "gegen islamische Werte, die Moral oder die Traditionen des Landes" verstoßen, nicht mehr gezeigt werden dürfen, meldet Thomas Avenarius in der SZ: "Wer die drastische Taliban-Auslegung religiöser Vorschriften kennt, wittert schnell das Eigentliche: Am besten gar keine Frauen in der Öffentlichkeit. Moderatorinnen und Nachrichten-Sprecherinnern sollen in Zukunft jedenfalls nur noch mit Hidschab auf den Bildschirm kommen. Wie hochgeschlossen und wie tief verschleiert, das wird nicht dazu gesagt. Aber die Vorgabe dürfte nach Taliban-Art am Ende wie immer streng und extrem sein. Verboten sind nun auch ausländische Serien oder Filme, die Amoral schüren, gegen Kultur und Tradition verstoßen, auch hier ist der Raum für die Mullah-Cineasten weit und offen."
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Stichwörter: Taliban, Afghanistan, Frauen

Gesellschaft

Nicht die Impfverweigerer sind schuld an der aktuellen Lage, sondern das Pandemiemanagement der Politik, schreibt Jagoda Marinic in der SZ: Deutschland ist "von der Impfquote Spaniens nur etwa zehn Prozentpunkte entfernt. Diese zehn Prozentpunkte hätte man in jenen Sommermonaten mobilisieren müssen, in denen die deutsche Politik im Wahlkampfmodus war; eine Zeit, in der man in Spanien jedem Bürger digital eine Textnachricht mit konkretem Impftermin zukommen ließ. Nicht der Bürger hat eine Holschuld, nein, die Verwaltung liefert. Schwer vorstellbar für uns Deutsche. Die Forderungen nach einer Impfpflicht sollen nur die eigene Planlosigkeit kaschieren. Die Bürgerinnen und Bürger werden als Impfgegner und Impfwillige gegeneinander ausgespielt." Ein paar SZ-Seiten weiter ärgert sich Gerhard Matzig über die Impfverweigerer jenseits von Anthroposophen und Querdenkern: Die Achtsamen und Zweifler.
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Europa

Eine bemerkenswerte Passage im Koalitionsvertrag verspricht "die weitere Aufarbeitung des NSU-Komplexes", berichtet Konrad Litschko in der taz: "Zehn Jahre ist das Auffliegen der NSU-Terrorzelle inzwischen her, zentrale Fragen dazu sind jedoch bis heute ungeklärt. Gab es weitere Helfer? Wer beschaffte die vielen Waffen? Wonach wurden die Opfer ausgewählt? Die Ampel will es dabei nicht belassen. Die Frage ist nur: Was folgt daraus konkret? 'Der NSU-Terror bleibt eine schwelende Wunde', sagte Konstantin von Notz, der für die Grünen den Bereich Innere Sicherheit verhandelte, am Donnerstag der taz. 'Es herrschte Konsens in den Verhandlungen, dass bei dem Komplex relevante Fragen und Verantwortlichkeiten ungeklärt sind und wir uns damit nicht abfinden wollen.' Wie genau diese Aufarbeitung aussehen kann, ließ von Notz vorerst offen. Er schloss aber auch einen erneuten Untersuchungsausschuss nicht aus."

Der rechtsextreme jüdische Pétain-Verteidiger Eric Zemmour hat in Samuel Sandler einen Gegenpart gefunden, erzählt Jürg Altwegg in der FAZ. Sandler kommt aus einer jüdischen Familie. Sein Sohn Jonathan und seine Enkelkinder Gabriel, 3 Jahre, und Aryeh, 6 Jahre, wurden 2012 von dem Islamisten Mohamed Merah in Toulouse ermordet. Zemmour hat die Familie dafür beschimpft, dass sie ihre Kinder in Israel begraben ließ - und dies wird ihm in seinen Ambitionen auf eine Präsidentschaftskandidatur zum Verhängnis, so Altwegg, denn Sandler, der sich auch schon gegen antisemitische Ausfälle der französischen Linken gewehrt hatte, hat Zemmour scharf attackiert: "Nachdem Sandler am 13. November - am Jahrestag der Anschläge von Paris - von Zemmour im Parisien eine Entschuldigung einforderte, ist dessen unaufhaltsamer Aufstieg in Stocken geraten. Selbst seine Anhänger konstatieren einen Bruch in der Dynamik. In den Umfragen ist er weit hinter Marine Le Pen zurückgefallen."

In der SZ erklärt Nadia Pantel derweil den Erfolg Eric Zemmours bei den Konservativen: "Zemmour ist auf eine Art rechtsradikal, die auch Frankreichs Großbürgertum gefällt: gut sitzender Anzug, tadellose Manieren und immer einen historischen Vergleich zur Hand. Bevor Zemmour in seinen Auftritten Sätze sagt wie 'Die Feministinnen wollen den Tod Frankreichs' oder 'Wir müssen den Minderheiten, den Medien und der Justiz die Macht nehmen', referiert er minutenlang über die berühmten Männer der französischen Geschichte. Es ist ein royalistisches Namedropping (besonders hoch im Kurs: Chlodwig I., Ludwig XIV., Napoleon). Zemmours Erzählung geht so: Frankreich ist im Niedergang begriffen. Wenn ich, Zemmour, es nicht verteidige, wird es aufhören zu existieren."

Ein interessantes Bild Russlands zeichnet Memorial-Mitgründerin Irina Schtscherbakowa in einem Gespräch mit Klaus-Helge Donath von der taz. Auf seine Bemerkung, dass in letzten zehn Jahren ein "riesiger Gewaltapparat entstanden" entstanden sei, antwortet sie: "Der fußt aber nicht auf irgendeiner theoretischen Grundlage, selbst was den Entwurf der Zukunft angeht. Neues wird nicht entworfen. Alles dreht sich um die Vergangenheit, nur ohne Kontrolle einer Partei. Es geht nicht um einen neuen Menschen, einen 'reinrassigen', oder eine glückliche kommunistische Zukunft... sie sind in der Vergangenheit gefangen."
Archiv: Europa