9punkt - Die Debattenrundschau

Im Gewand der unschuldigen Frage

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.11.2021. Der Hohenzollern-Streit geht in eine weitere Runde: Die taz fragt, ob der CDU-Experte Benjamin Hasselhorn ein neuer Rechter ist. Im Spiegel zieht Adam Michnik eine traurige Lehre aus der Geschichte: "In Polen spielt  die katholische Kirche eine entscheidende Rolle. Sie hat viel getan, um das Land in die Unabhängigkeit... zu führen. Heute steht sie auf der Seite der PiS." In der Berliner Zeitung spricht Hartwig Masuch, Chef der Bertelsmann Music Group, überaus kritisch über die Musikindustrie und fordert eine Verzehnfachung der Anteile der Musiker am Streaming.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.11.2021 finden Sie hier

Geschichte

Benjamin Hasselhorn  spielt als für die CDU tätiger pro-Hohenzollern-Experte im Historikerstreit um deren Rolle eine wichtige Rolle. Der Historiker Niklas Weber legt in der taz eine Recherche vor, wonach Hasselhorn unter dem Pseudonym Martin Grundweg offenbar in den neurechten Zeitschriften von Götz Kubitscheks "Instituts für Staatspolitik" (IfS) publiziert: "Mit der Berufung Hasselhorns durch die Unionsfraktion haben sich Strategie und Nachwuchsarbeit des rechten IfS offenbar ausgezahlt. Der alte Revisionismus kehrt durch die Hintertür zurück, im Gewand der unschuldigen Frage. Das neurechte Interesse am Hohenzollernstreit besteht dabei nicht in der unrealistischen Hoffnung auf eine Restauration der Monarchie, sondern in einer behutsamen Verschiebung des Geschichtsbilds. Die Zerstörung der Weimarer Republik durch die konservativen Eliten erscheint dann in Verkehrung der historischen Tatsachen als edelmütiger Versuch, den Nationalsozialismus zu verhindern."

Hasselhorn schreibt auch in dem Sammelband "Die Hohenzollerndebatte", der heute bei Duncker & Humblot erscheint und den der Historiker Dietmar Süß heute in der SZ bespricht. Mit "schartigen Dragonersäbeln" teile dort die pro-Hohenzollern-Fraktion gegen kritische Historiker aus, die sehr wohl denken, dass der Hohenzollern-Prinz "erheblichen Vorschub" leistete. Den Band "Die Hohenzollern und die Nazis" von Stephan Malinowski, der schon jetzt als Standardwerk gilt, konnten die in dem Band schreibenden Historiker noch nicht mal zur Kenntnis nehmen. Dass der Prinz eine Bastion des Konservatismus gegen Hitler gewesen sei, behaupte ohnehin keiner mehr, so Süß. Die Rückzugslinie der Pro-Hohenzollern-Fraktion paraphrasiert er so: "Letztlich sei der Kronprinz eher eine randständige Figur gewesen, einer, der sich zwar mit den Nationalsozialisten eingelassen, aber kaum über eigenständiges politisches Gewicht verfügt habe; ein Mann ohne Charisma, eine belächelte Figur des Weimarer Jetsets." Der Band, so Süß, versuche auch eine "eine Art Ehrenrettung der preußischen Geschichte".

Außerdem: In der FAZ fragt David Lindenfeld nach Kritierien deutscher Städte für die Umbenennung von Straßen. In Stuttgart wurde die Heinrich-von-Treitschke-Straße schon 2010 in Fritz-Bauer-Straße umbenannt, der Bezirk Berlin-Steglitz hält an seiner Treitschke-Straße bisher fest.
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Ideen

Richard David Precht und Svenja Flaßpöhler tragen dazu bei, jene "polemische Behauptungskette von Freiheitsberaubung und Selbstzensur" der Impfgegner "allmählich in die bürgerliche Mitte" zu transportieren, schreibt FAZ-Redakteurin Julia Encke in einem viel retweeteten Artikel. Die beiden äußerten Meinungen, "die man seit der Corona-Pandemie vor allem im rechten Spektrum findet: in der #allesdichtmachen-Aktion, mit der Schauspielerinnen und Schauspieler sich gegen Corona-Maßnahmen wehrten; immer wieder in der Bild-Zeitung, praktisch in jedem Leitartikel des Welt-Chefredakteurs Ulf Poschardt oder den Texten seiner Chefreporterin Anna Schneider, die sich hauptberuflich Gedanken darüber macht, warum es mit der Freiheit in Deutschland nicht gut bestellt ist - die damit übrigens beide sehr brav auf den Spuren ihres Verlegers wandeln, der sich in einer SMS ja auch bereits in einem DDR-Obrigkeitsstaat wähnte (das aber natürlich nur ironisch gemeint haben will)."
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Europa

Adam Michnik, einstiger Dissident und heute Chefredakteur der Gazeta Wyborcza, analysiert im Gespräch mit Jan Puhl vom Spiegel die politische Lage in Polen. Das Land sei - wie so viele - gespalten: "Die Hälfte des Landes ist empfänglich für ein antieuropäisches, nationalistisches Programm. Manche Wählerinnen und Wähler hat PiS aber vor allem durch soziale Wohltaten gewonnen - etwa durch die Einführung eines Kindergeldes oder die Rentenerhöhung. In Polen spielt zudem die katholische Kirche eine entscheidende Rolle. Sie hat viel getan, um das Land in die Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu führen. Heute steht sie auf der Seite der PiS. Vor allem im östlichen Teil des Landes ist der Klerus anfällig für nationalistische Parolen und Homophobie."

Bisher bedienten sich die im Bundestag vertretenen Parteien nach einvernehmlichen Beratungen aus Staatsgeldern, mit denen sie ihre"parteinahen Stiftungen" üppig finanzieren. Diese Stiftungen helfen bei der Institutionalisierung der Parteien. Nun müsste nach allgemeinen Brauch auch die AfD eine Stiftung bekommen, die als Desiderius-Erasmus-Stiftung auch schon in Gründung ist. Dagegen protestiert nun die "Zivilgesellschaft", schreibt Gareth Joswig in der taz. Joswig fragt auch, wie die bisherigen Stiftungen zu dem Thema stehen: Nun, sie wollen sicher weiter ihren Anteil aus den 700 Millionen Euro jährlich, auf die Heribert Prantl die Subventionen neulich bezifferte (unser Resümee). Aber eine Umfrage der taz zeigt nun auch: "Die parteinahen Stiftungen von CSU bis Linkspartei schließen eine Zusammenarbeit mit der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung grundsätzlich aus. Während normalerweise Kooperationen und auch gemeinsame Gespräche oder Bildungsangebote bestehen, lehnen alle Stiftungen eine Zusammenarbeit mit der Steinbach-Stiftung mit Verweis auf die Ausrichtung der AfD ab." Der Koalitionsvertrag, so Joswig, äußere sich aber nur in dürren Worten zum heiklen Thema. Und leider habe die Rosa-Luxemburg-Stiftung Probleme mit der Forderung, die Finanzierung von einem Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung abhängig zu machen, so Joswig, "wohl auch, weil die Linke-nahe Stiftung befürchtet, im Sinne der unterkomplexen Extremismus-Theorie, wonach sich die politischen Extreme wie in einer Hufeisenform einander annäherten, von einem ideologisch am Verfassungsschutz ausgerichteten Stiftungsgesetz in Mitleidenschaft gezogen zu werden". In einem Artikel für den Hauptstadtbrief fordert auch Meron Mendel Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, der Initator der Kampagne, noch einmal ein Gesetz, das die AfD ausschließt.

In der FAZ bekennt Cécile Wajsbrot ihre Bewunderung für das "Wir schaffen das" der Angela Merkel im Jahr 2015, das sie an das Aischylos-Drama "Die Schutzflehenden" erinnert. Auch hier geht es um die Aufnahme Fremder. Ihre Melancholie bestärkt, dass "ich aus einem Land komme, das einst ein ähnliches Willkommen wie Aischylos und Merkel aussprach, und zwar in Artikel 120 der Verfassung vom 24. Juni 1793. Dort hieß es: Das französische Volk 'gewährt Ausländern, die der Freiheit wegen aus ihrem Land verbannt wurden, Asyl' - ein fernes Vorhaben, das leider niemals umgesetzt wurde."
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Kulturmarkt

Im Gespräch mit Jochen Knoblach von der Berliner Zeitung spricht Hartwig Masuch, Chef der Bertelsmann Music Group, überaus kritisch über seine Kollegen von der Musikindustrie und ganz besonders über die Majors wie Universal, Sony und Warner. Das Streaming hat für ihn das Musikbusiness verbessert. Dass die Musiker aber aus dem Streaming so wenig Geld beziehen, liegt laut Masuch nicht an Spotify, "sondern an den Verträgen mit der Musikindustrie. Wenn vor Jahren jemand einen Vertrag unterschrieben hat, der ihm oder ihr fünf Prozent vom Verkaufspreis einer Schallplatte zusicherte, dann war das okay. Denn der größte Teil des Umsatzes ging nur dafür drauf, Platten zu pressen und in die Läden zu bringen. Es gab auch fette pauschale Abzüge für Retouren, kaputte Platten und Verpackungen, sogar eine Technologie-Abgabe für die CD. Diese Kosten gibt es im Streaming-Geschäft aber nicht mehr. Also sind fünf Prozent nicht mehr okay." Masuch plädiert für einen Anteil der Musiker von fünfzig Prozent.
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Gesellschaft

Niemand ist heute woker als die HerrInnen der ganz großen Konzerne. Warum aber ist der Kapitalismus so woke geworden und wirbt für sich mit schwarzen Models un Regenbogenfahnen, fragt Alexander Grau im Spiegel. Weil die Woken so nützlich für ihn sind: "Die Woken sind die ideologischen Sturmtruppen des globalisierten Kapitalismus spätmoderner Prägung. Ihre Empörung soll der Eliminierung der letzten Restbestände alteuropäischer Kulturtradition den Anschein moralischer Dringlichkeit verleihen und so der marktkonformen Vision einer Welt von entgrenzten, immer mobilen, sich permanent neu erfindenden und global konsumierenden Individuen den gesellschaftspolitischen Boden bereiten."
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Stichwörter: Woke, Wokeness, Woker Kapitalismus