9punkt - Die Debattenrundschau

Noch bestehende Differenzen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.11.2021. China sei wie ein riesiger tausend Jahre alter Baum, mit einer prächtigen Krone, aber zur Hälfte bereits hohl und morsch, sagt Ai Weiwei in der NZZ. libmod.de und die Welt untersuchen chinesische Einflussnahme und vorauseilende Unterwerfung in Deutschland und Hollywood. In der SZ erklärt die Anthropologin Heidi Larson, wie sie mit einem Anthroposophen umgehen würde, der überzeugt ist, dass die Impfung seinen Inkarnationszyklus durcheinanderbringt. Die FAZ amüsiert sich über Gassenmonarchisten, die über Stubenjakobiner*innen schimpfen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.11.2021 finden Sie hier

Politik

China sei wie ein riesiger tausend Jahre alter Baum, mit einer prächtigen Krone, aber zur Hälfte bereits hohl und morsch, sagt Ai Weiwei im NZZ-Interview mit Sabine von Fischer. Darin spricht er natürlich auch über seinen Vater, den dissidenten Dichter Ai Qing, mit dem er während der Kulturrevolution in einem Erdloch leben musste: "Meine Erinnerungen der ersten zwanzig Jahre sind für Außenstehende fast surreal. Aber für die Chinesen ist das völlig normal, wir leben unter einer Autorität, die den Menschen niemals als individuellen Geist, sondern nur als Werkzeug für eine größere Ideologie sieht. Ich glaube nicht einmal, dass sie an eine Ideologie glauben, sondern einfach an die Macht der Kontrolle. So wurden Millionen von Menschen im sogenannten Klassenkampf der Kulturrevolution, der nichts mit Klasse zu tun hat, geopfert...Das Problem mit dem heutigen China ist, dass es denselben Weg weitergeht, mit denselben Systemen und Überzeugungen, die sich in der Vergangenheit als falsch erwiesen haben. Aber es wird darauf bestanden, dass sich nichts ändern wird. Es wird dafür gesorgt, dass niemand die Stimme erheben kann."

Die Zahl der Solidaritätsbekundungen mit Tibet in deutschen Städten und Gemeinden und die Zahl der Städtpartnerschaften mit China verhalten sich umgekehrt proportional: Je mehr China, desto weniger Tibet, schreibt Maximilian Kalkhof bei libmod.de unter Bezug auf eine Studie des Merics-Instituts, die chinesische Einflussnahme auf subnationaler Ebene untersucht: "Die Anreize für die deutschen Partner sind klar: Sie erhoffen sich von dem Austausch mit China Zugang zu einem riesigen Wirtschaftsmarkt, Direktinvestitionen und Tourismus. Doch der Austausch ist nicht ohne Risiken. Er birgt - wie subnationale Diplomatie mit jedem anderen Land - die Gefahr von Wirtschaftsspionage, Technologieabfluss, politischer Einflussnahme und Desinformation."

Hollywood ist noch wesentlich skrupelloser bei der Unterdrückung missliebiger Inhalte als deutsche Bürgermeister, schreibt Alan Posener in der Welt: "Manchmal werden besondere 'chinesische Versionen' globaler Blockbuster hergestellt, in denen Szenen fehlen, wo es etwa um die von der KP Chinas verpönte Liebe zwischen LGBTQ+-Personen geht. Das ist jedoch teuer. Inzwischen hat es sich laut PEN America eingebürgert, bei großen Produktionen chinesische Zensoren einzuladen, um von vornherein Konflikte auszuschließen." Nennen wir sie doch lieber Sensibilitätsberater! Posener bezieht sich übrigens auf einen Bericht des amerikanischen Pen-Clubs, der hier nachzulesen ist.
Archiv: Politik

Kulturpolitik

Viel war von der "Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur" Evelyn Zupke bisher nicht zu hören, schreibt Hubertus Knabe in seinem Blog. Aber nun habe sie einen Bericht vorgelegt, der es in sich hat: Hier kritisiert sie die scheidende Bundesregierung und besonders die zuständige Monika Grütters, das Thema schmählich vernachlässigt zu haben (hier der Bericht als PDF-Dokument). So sei es trotz eines Versprechens mit einem Mahnmal für die Opfer der DDR-Diktatur nicht vorangekommen, resümiert Knabe: "Statt eines Mahnmals für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft haben die Ampel-Parteien nun drei andere Erinnerungsorte vereinbart: ein Dokumentationszentrum 'Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa', ein Erinnerungs- und Begegnungsort für 'die Opfer der Besatzung Polens' sowie ein Konzept für einen 'Lern- und Erinnerungsort Kolonialismus', den die Grünen schon 2019 forderten. Die teure Überprüfung des 'kolonial belasteten Sammlungsgutes' soll ebenfalls weitergeführt werden. Dass es in Berlin bereits seit fünfzig Jahren ein mit der damaligen polnischen Regierung abgestimmtes Denkmal gibt, war den Koalitionären offenbar nicht bekannt."
Archiv: Kulturpolitik

Ideen

Die Populärphilosophin Svenja Flaßpöhler polarisiert. Die ehemalige Sonntags-FAZ fand sie wichtig genug für einen ganzseitigen Feuilletonaufmacher, in dem es auch um Richard David Precht ging und beiden von Feuilletonchefin Julia Encke vorgeworfen wurde, Diskurse der extremen Rechten in die Mitte zu tragen (unser Resümee). Ronald Pohl porträtiert sie im Standard und hat auch mit ihr gesprochen. Sie spricht unter anderem über ihr aktuelles Thema "Sensibilität", die ein Vehikel von selbstdefinierten Opfergruppen sei: "Diese Debatten, die wir über Rassismus und Sexismus führen, sind nur deshalb möglich geworden, weil wir in einer sehr fortschrittlichen Gesellschaft leben. Sie bilden den Ausweis dafür, wie gleichberechtigt westliche Gesellschaften heute eingerichtet sind. Das berühmte Tocqueville-Paradox bezeichnet das: Je gleichberechtigter Gesellschaften sind, desto sensibler werden wir für noch bestehende Differenzen."
Archiv: Ideen

Gesellschaft

Die Anthropologin Heidi Larson beschäftigte sich schon vor der Corona-Pandemie mit der Impfverweigerung, ihr Buch "Stuck" verfasste sie schon vor Corona. Ein besonders schlimmer Fall war die Verweigerung der Polio-Impfung durch islamistische Gruppen in Nigeria im Jahr 2003 und 2004, die zu einem neuerlichen Ausbruch der Krankheit führte. Larson plädiert im Gespräch mit Andrian Kreye von der SZ aber nicht einfach für Impfpflicht, weil Zwang Widerstände auslöse. Auf die Frage, wie man mit einem Anthroposophen umgehen soll, der steif und fest überzeugt ist, dass die Impfung seinen Inkarnationszyklus durcheinanderbringe, sagt sie: "Einige Menschen müssen sich von der Gesellschaft eben absondern, während dieser Sturm vorüberzieht. Wenn ihr Inkarnationszyklus nicht mit den Maßnahmen in Einklang gebracht werden kann, wenn ihr Inkarnationszyklus andere Menschen töten wird."

Mit der Studie der Basler Soziologen Nadine Frei und Oliver Nachtwey zu den grünen Strömungen in der Querdenker-Bewegung sieht Thomas Schmid in der Welt und in seinem Blog auch mit einem Irrtum aufgeräumt: "Wenn Lebensreformer und Anthroposophen auf Selbstheilungskräfte setzen und oft auch das Impfen generell ablehnen, klingt das, als sähen sie sich als bescheidener, in alles ergebener Teil der Natur. Doch das Gegenteil ist der Fall. Genau besehen sind sie radikale Individualisten. Die Basler Wissenschaftler haben mit zahlreichen heutigen 'Querdenkern' Tiefeninterviews geführt, etliche der Teilnehmer gaben an, früher die Grünen gewählt zu haben. Die Autoren kommen zu dem Schluss: 'Die Befragten verfügen über ein libertäres Freiheitsverständnis, in dem Individualität, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung nahezu absolut gesetzt werden.'"
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

Der Reader "Die Hohenzollerndebatte" ist doch recht einseitig: Hier kommen ausschließlich die Apologeten der Dynastie zu Wort, konstatiert Andreas Kilb in der FAZ. Und einer der Herausgeber des Bandes, Frank-Lothar Kroll, hat für seine Diskursgegner Begriffe wie "Kammerjäger", "Klosterforscherinnen" und "Stubenjakobiner*innen" parat. Gestern wurde der Band in Berlin vorgestellt, und Kroll beteuerte, diese Bezeichnungen seien humoristisch gemeint: "Ach, so ist das! Nun hat man bislang noch nicht gehört, dass einer der hohenzollernkritischen Experten den Preußen-Historiker Kroll etwa als Gassenmonarchisten oder Kasernenhofprofessor betitelt hätte."
Archiv: Geschichte

Europa

An der Grenze zur Ukraine konzentrieren die Russen mal wieder Truppen. Die Amerikaner fürchten eine Invasion, die Europäer wiegeln ab, berichtet Thomas Gutschker in der FAZ. Im Frühjahr war es schon mal so: "Eine Übung, sagten die Deutschen - ein Aufmarsch, sagten die Amerikaner. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte seine Landsleute in einer dramatischen Fernsehansprache vor einem bevorstehenden Krieg. Am nächsten Tag gab das russische Verteidigungsministerium das Ende der Übung und die Rückverlegung von Kräften aus dem mittleren Militärbezirk bekannt. Bestätigt fühlten sich davon beide Seiten: die einen, weil es ja nur Manöver gewesen seien; die anderen, weil erst die deutlichen Warnungen vor einer Invasion Putin von seinen Plänen abgebracht hätten."
Archiv: Europa