9punkt - Die Debattenrundschau

Um dramatischer Effekte willen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.12.2021. In der SZ warnt der Nürnberger Arzt Matthias Baumgärtel die Ungeimpften: Die Nebenwirkungen der Medikation sind fataler als die der Impfung. In der NZZ macht Matheus Hagedorny auf interessante Widersprüche in der rechtspopulistischen bis -extremen Szene im Verhältnis zum Islam aufmerksam. Die Diagnose "Die Mittelschicht schrumpft", schrumpft bei näherer Betrachtung, fürchtet Jürgen Kaube in der FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.12.2021 finden Sie hier

Europa

Gestern der offizielle Abschied von Angela Merkel. Mit ihr hat sogar der "Große Zapfenstreich" seine Schrecken verloren!


Gut und richtig, dass die EU Polen hinsichtlich des Grenzkonflikts mit Belarus unterstützt, dennoch darf die Krise des polnischen Rechtsstaats darüber nicht vergessen werden, schreibt Philipp Fritz in der Welt: "Wenige Tage nach dem Luxemburger Richterspruch weitete das polnische Verfassungsgericht den Streit über die EU hinaus aus: Es erklärte, (…) dass Teile der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht mit polnischem Recht vereinbar seien. Es ist eine Entgegnung auf den Europäischen Menschengerichtshof (EGMR), der im Mai das polnische Verfassungsgericht für teilweise illegal erklärte. Das polnische Urteil ist von symbolischer Bedeutung. Denn die Menschenrechtskonvention haben alle 47 Staaten des Europarats anerkannt - außerhalb ihres Geltungsbereichs liegt lediglich der Folterstaat Belarus, gegen den Polen sich eigentlich positioniert, etwa mit der Unterstützung der belarussischen Opposition. Und trotzdem hat Warschau sich jetzt in dessen Gesellschaft manövriert."

Außerdem: Der Tagesspiegel berichtet über die belarussische Dissidentin Volha Zalatar, der eine fünfjährige Haftstrafe droht und bringt ihr Prozessstatement, in dem sie ihren Widerstand gegen das Lukaschenko-Regime mit ihrem katholischen Glauben begründet.
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Geschichte

In der SZ findet es der Historiker Norbert Frei an der Zeit, "zu klären, wie die Hohenzollern auch in der jungen Bundesrepublik politisch Einfluss zu nehmen suchten": "Glaubt man den Allensbacher Demoskopen, plädierte noch Mitte der Fünfzigerjahre immerhin ein Drittel aller Westdeutschen und die Hälfte der über Sechzigjährigen für eine Rückkehr zur Monarchie. Und im Bonner Parlament taten sich erstaunliche Dinge: Ausgerechnet in der Debatte über den Deutschlandvertrag Ende Februar 1955 nahm Louis Ferdinand auf der Besuchertribüne Platz, um hinterher, wie Hans Ulrich Kempski in der SZ berichtete, mit Bundestagspräsident Gerstenmaier, Staatssekretär Hallstein und Bundesminister Kaiser 'einen vertraulichen Lunch einzunehmen'. Fast noch interessanter war, was Kempski am Ende einer flammenden Preußen-Verteidigung beobachtete, die Hans-Joachim von Merkatz vortrug, der Fraktionschef der eigentlich den Welfen verpflichteten Deutschen Partei: 'Mit einer dezenten Verbeugung in Richtung eines bestimmten Punktes in den Zuhörerrängen trat Merkatz ab.'"
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Ideen

Die Coronalage zwingt die Menschen über Vorgänge in ihren eigenen Körpern durch Tests und Impfzertifikate zu informieren. ein symbolischer Eingriff in die Privatsphäre, der Grundsätzliches in Frage stelle, findet Miguel de la Riva in der FAZ: "Dass der eigene Körper als Privateigentum, mit dem man nach freier Willkür verfahren kann, der staatlichen Gewalt und gesellschaftlichen Verfügung allmählich entzogen wurde, war und ist Motor entscheidender zivilisatorischer Errungenschaften."
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Kulturpolitik

Ob berechtigt oder nicht, neue Lockdownmaßnahmen haben heftige Nebenwirkungen, fürchtet Hubert Spiegel in der FAZ: "Sechstausend Abonnenten hat die Oper Frankfurt beim letzten Lockdown verloren. Das benachbarte Schauspiel beklagt einen Rückgang der Abonnements um etwas mehr als ein Fünftel. Da droht etwas wegzubrechen, was über Jahre und Jahrzehnte gewachsen ist. Opernintendant Bernd Loebe wirft in einem Brandbrief an den hessischen Ministerpräsidenten Bouffier die Frage auf, ob die Oper sich davon jemals wieder erholen wird."
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Politik

Die WTA, die Vereinigung der professionellen Tennisspielerinnen, fällt durch eine für Sportverbände untypische Kompromisslosigkeit gegenüber China auf. Weil China nicht nachweisen kann, dass die der Öffenltichkeit entzogene Spielerin Peng Shuai frei reden und spielen kann, sagt der Verband sämtliche Turniere in China ab und verzichtet nebenbei auf Millioneneinnahmen. Anders als das Olympische Komitee, das sich in misslichen Situationen mit China stets duckt, kommentiert Johannes Kopp in der taz: "Das Bekenntnis der WTA zur Alternativlosigkeit seiner Entscheidung bringt das Internationale Olympische Komitee in Bedrängnis. Denn im IOC meint man, nach wie vor wählen und abwägen zu können zwischen dem Wohlergehen seiner Sportler:innen und dem seiner Geschäfte. Im Zweifelsfall wird den Geschäften größeres Gewicht zugemessen."
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Gesellschaft

Auf den Meinungsseiten der SZ berichtet der Nürnberger Oberarzt Matthias Baumgärtel von den unerträglichen Zuständen auf den Intensivstationen, der Überlastung des Pflegepersonals und dem Unverständnis gegenüber den Impfverweigerern: "Noch immer ist der weitaus größte Teil unserer Patienten nicht geimpft. Bei uns jedoch lassen sie sich einen Medikamentencocktail verabreichen, dessen Spektrum an Nebenwirkungen den des Impfstoffes um ein Vielfaches übertreffen kann. Immer noch bin ich erstaunt, mit welcher Wucht das Virus die Lunge und andere Organe zerstört. Während bei anderen Erkrankungen mit der Aufnahme auf die Intensivstation häufig die Heilung beginnt, kommt es bei Covid eigentlich immer zu einer Verschlechterung innerhalb der nächsten Stunden und Tage. Wir begleiten die Patienten mit einer Hochfluss-Sauerstofftherapie, mit Maskenbeatmung, womöglich mit Intubation und anschließender invasiver Beatmung. Was das bedeutet, wissen viele mittlerweile aus den Medien: Wir müssen sie in ein künstliches Koma versetzen, ob sie wieder aufwachen werden, weiß man nicht. Wir ermöglichen dann ein letztes Videotelefonat."

Ziemliche Befremdung herrscht nun langsam (sehr langsam) über die "Ständige Impfkommission". Deren Chef Thomas Mertens hat gestern zur allgemeinen Verunsicherung beigetragen, indem er in einem FAZ-Podcast sagte, wenn er in siebenjähriges Kind hätte, würde er es nicht impfen lassen. Die Stiko übte generell eine Kunst der Langsamkeit, die der ehemalige Leiter des israelischen Impfprogrammes, Ronnie Gamzuim, Gespräch mit "Panorama" gestern Abend scharf kritisierte: 'Der ehemalige Leiter des israelischen Impfprogrammes, Ronnie Gamzu, ist schockiert über die deutsche Langsamkeit: "Das war einfach total falsch. Wir hatten klare Beweise, wir haben die Daten. Es gab keine wissenschaftliche Basis dafür zu sagen, die Auffrischimpfung bringe nur den über 70-Jährigen etwas. Wir haben gesehen, dass die Zahl der Antikörper auch bei 40-Jährigen zurückgeht. Was für Beweise braucht man denn noch?'"

"Die Mittelschicht schrumpft", ist eine beliebte Diagnose bei besorgten Debatten um den Zustand unserer Gesellschaft. Jürgen Kaube guckt sich in der FAZ die Studien an, auf denen diese Behauptung beruht und findet schwankende Ergebnisse ohne Tendenz: Mal umfasst die Mittelschicht 65 Prozent, dann wieder 70 Prozent der Erwerbstätigen, je nach Messmethode und -zeitpunkt: "Man möchte also schlussfolgern, die Mittelschicht schrumpfe und wachse zugleich, je nachdem, wer wie misst, und je nachdem, welche Jahre um dramatischer Effekte willen zu Eckpunkten des Vergleichs herangezogen werden." Am Ende kann Kaube beruhigen: "Die Mittelschicht schrumpft nicht einmal in den Studien derer, die angeblich ihr Schrumpfen nachgewiesen haben. Sie schrumpft nur in vielen Medien."

Dass es mit dem Abtreibungsrecht in den USA abwärts geht, verdankt sich nicht nur den Manipulationen der Republikaner, schreibt die Feministin Rebecca Traister im NyMag, sondern in erster Linie auch einer Demokratischen Partei, die dabei nur zusah. Traister beschreibt den Prozess als Verrat der Eliten an der Mehrheit: "Die Demokraten haben sich von einem unzutreffenden, unehrlichen Framing - der Behauptung, Abtreibung sei ein heißes Thema und spalte das Land, obwohl der Schutz des Rechts auf Abtreibung einer der wirksamsten Trümpfe der Demokraten selbst in roten Staaten ist - davon abhalten lassen, politische Kämpfe über Abtreibung zu führen." Grund dafür sei auch, "dass die meisten Politiker, von denen die Mehrheit weiße Männer und viele der übrigen wohlhabende weiße Frauen sind, die selbst niemals ein Problem mit Zugang zu medizinischer Versorgung haben werden, das Thema Abtreibung eklig und abstoßend finden".

Matheus Hagedorny macht in der NZZ auf interessante Widersprüche in der rechtspopulistischen bis -extremen Szene im Verhältnis zum Islam aufmerksam: Während der populäre Rechtspopulismus mit Muslimfeindlichkeit auftrumpfen wolle, halte sich die extreme und eher untergründig einflussreiche Neue Rechte um Götz Kubitschek und Co. in dieser Frage auffällig zurück, so Hagedorny, denn sie möchte in sich nicht in einem Lager mit Verteidigern westlicher Werte wiederfinden. Hagedorny illustriert diesen Diskurs am Beispiel des norwegischen Bloggers Fjordman, der Anders Breivik zu seine Tat inspirierte: "Fjordman sieht den Feind weniger in den muslimischen Migranten. Vielmehr seien es diejenigen, die mit angeblich zu liberaler Gesellschaftspolitik den Untergang des 'weißen' Europas herbeiführten. Folgerichtig entfesselte Breivik seinen Terror nicht gegen Muslime, sondern gegen das Regierungsviertel und den Nachwuchs der regierenden Sozialdemokraten, die er für fatalen Multikulturalismus verantwortlich machte." Eine Klammer zwischen diesen beiden Diskursen bietet nach Hagedorny die Theorie vom "großen Austausch".
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