9punkt - Die Debattenrundschau

Besonders blau in der Gegenwart

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.12.2021. Corona bestimmt nach wie vor die Debatten. Die Welt plädiert gegen die Impfpflicht, die FAZ thematisiert die problematische Rolle der Springer-Medien in der Pandemie. Die taz fragt: Warum Sachsen? Warum gibt es dort eine Inzidenz zwischen 1.000 und 2.200? Außerdem: In der FAZ erklärt Falter-Herausgeber Armin Thurnher , wie in Österreich die Inseratenkorruption funktionierte und Sebastian Kurz dann doch stürzte. In der SZ protestiert Frederik Obermaier gegen den finsteren juristischen Umgang mit Julian Assange.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.12.2021 finden Sie hier

Ideen

Anlässlich der Diskussion über eine Impfpflicht plädiert Nele Pollatschek in der SZ dafür, Freiheit künftig auf ihre Konsequenzen abzutasten, wenn es mit der Vernunft nicht so weit her ist: "Das bedeutet, dass man auf absolute Freiheit setzen sollte, da, wo auch die unvernünftige Entscheidung tragbar ist. Aber eben nicht da, wo man eigentlich vorher schon sicher ist, dass bestimmte Entscheidungen ausgeschlossen werden müssen. Wer weiß, dass sich eine große Mehrheit der Bürger impfen lassen muss, darf nicht so tun, als könnten alle Bürger frei entscheiden, im Vertrauen darauf, dass 'frei' automatisch 'vernünftig' heißt."

In der Welt argumentiert der Jurist Kai Möller mit viel klein-klein gegen eine Impfpflicht. Sein Hauptargument: Sie würde in erster Linie die bislang Ungeimpften schützen und die haben sich ja freiwillig für ihr Risiko entschieden. Entstehung von Corona-Varianten, die Überlastung des Pflegepersonals, der unnötige Tod von Patienten, deren Betten von Corona-Erkrankten belegt sind, kommen in seiner Rechnung nicht vor. Er glaubt eh, dass die Impfpflicht andere Gründe hat: "Würde eine Impfpflicht funktionieren? Der Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr sagt, dass sie zumindest in der aktuellen Situation nicht hilft, da sie zu spät kommen wird, um in diesem Winter noch etwas zu bewirken. Es kann also gut sein, dass der Vorschlag einer Impfpflicht weniger davon getrieben ist, ein Problem zu lösen, als vielmehr von Ressentiments gegenüber Ungeimpften - einer Haltung, die Deutschland und Österreich vielleicht noch auf die Füße fallen wird. Aber selbst wenn die Impfpflicht in gewissem Sinne ein Erfolg werden sollte ... wäre sie nur zu einem hohen Preis zu haben. Deutschland und Österreich sollten diesen Preis, nämlich den der Verletzung der Grundrechte und der Menschenwürde, nicht zahlen."

"Warum diese Fixierung auf die Freiheit, da sie doch in keinem ernstzunehmenden Sinn des Wortes gefährdet ist", fragt sich der italienische Philosoph Maurizio Ferraris in der NZZ. "Die Welt in Zeiten der Pandemie ist keineswegs freiheitsfeindlich, in ihr aber regiert nicht mehr die Hoffnung, sondern vielmehr die Angst. Vor ein paar Tagen hat Italiens bedeutendstes Institut für sozioökonomische Studien eine Erhebung zum Gemütszustand der Impfgegner durchgeführt. Die Untersuchung kam zum Ergebnis, dass Orientierungslosigkeit, prekäre Anstellungsverhältnisse, Einbuße an ökonomischem und sozialem Kapital, Statusverlust sowie Misstrauen gegenüber Institutionen und neuen Technologien zu den zermürbenden Folgen des Ausnahmezustands gehören. Es resultiert, mit anderen Worten, ein Verlust an sozialen Bindungen und darum auch der daraus sich ergebenden Verpflichtungen, die dem Dasein erst Sinn verleihen. Im Protest gegen die angebliche Bedrohung der Freiheit manifestiert sich also, schaut man genauer hin, insgeheim der Wunsch nach Aufmerksamkeit, nach Sicherheit und Leitlinien."
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Europa

Die serbische Teilrepublik droht sich nun offiziell aus dem gemeinsamen Staat Bosnien und Herzegowina abzuspalten. Der Anführer Milorad Dodik "kann sich der Unterstützung Russlands und Serbiens sicher sein", kommentiert Erich Rathfelder in der taz: "Eine Strategie der Neuordnung des Balkans scheint dort schon lange abgesprochen zu sein. Die Tatsache, dass Putin Dodik mehrmals in Moskau empfangen hat, bleibt Randnotiz. Entscheidend ist, dass Russland in den letzten Jahren die antidemokratischen Kräfte auf dem Balkan gestärkt und in dem serbischen Präsidenten Alexandar Vučić einen strategisch verlässlichen Partner gefunden hat." Hier Rathfelders Bericht.

Ein Glück, dass wir die klassischen Medien haben, die anders als das böse Internet stets eine abgewogen delibirierende Öffentlichkeit erzeugen. Außer vielleicht in Österreich, dessen Medien-Macht-System der Falter-Herausgeber Armin Thurnher in der FAZ so beschreibt: "Österreich hungert. Seine Medien waren von der Regierung Kurz mit Inseraten von Bund, Ländern und Gemeinden für mehr als 200 Millionen Euro im Jahr reich alimentiert worden. Sebastian Kurz gab sie gezielt aus, um Boulevardmedien zu füttern. Fast ein Viertel des Geldes ging an sie (die offizielle Presseförderung beträgt nicht einmal zehn Millionen). Diese Art der Medienbindung war nur ein Teil des als Message-Control bekannten Medienregimes. Kurz' Team im Kanzleramt gab die Themen vor, die dann von einzelnen Ministern und Ministerinnen in Sprechpuppenart repetiert und von den Medien wiedergekäut wurden." Eine ganz andere Frage ist, wie viel Geld deutsche Regierungsstellen für Inserate ausgeben, und warum eigentlich nur in Zeitungen?

In dieser Woche stehen Prozesse an, die über das Schicksal der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial entscheiden. Die Slawistin Franziska Thun-Hohenstein schreibt bei geschichtedergegenwart.ch: "Die Mitarbeiter von 'Memorial' lassen keinen Zweifel daran, dass sie ihre Arbeit selbst in dem Fall fortsetzen werden, wenn der staatliche Angriff zu einer Auflösung ihrer Organisation führen sollte. Nicht nur international, auch in Russland regt sich Protest gegen eine Anklage, deren rein politische Motivation auf der Hand liegt. Allein in Russland haben über 100.000 Menschen eine Petition gegen das Verbot der Organisation unterzeichnet."
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Gesellschaft

Im Gespräch mit Manuela Heim von der taz erklärt der Augsburger Anästhesist Axel Heller, wie die Abwägung, wer zuerst behandelt wird und wer eventuell zuerst von rettenden Geräten getrennt wird, in seinem Krankenhaus gehandhabt würde, sofern Triage nicht mehr zu vermeiden wäre: "Es ist ein Gebot der Fairness, dass man alle Patienten, die zu dem Zeitpunkt in Behandlung sind, in die Bewertung mit reinnimmt. Auch einer, der gestern mit einem Herzinfarkt gekommen ist, wird im selben Verfahren eingeschlossen. Und derjenige, der die schlechtesten Erfolgsaussichten hat, der müsste dann als Erster von der Ressource getrennt werden." Diese Entscheidung wird nicht von den behandelnden Ärzten getroffen, sondern es entscheidet "ein dreiköpfiges Team aus Intensivmedizinern und Pflegekräften, das nicht unmittelbar an der Behandlung dieses Patienten beteiligt ist, um auch eine gewisse Objektivität zu haben. Und dieses Gremium würde dann jeden Tag über die Intensivstationen gehen und jeden Tag neu evaluieren." Laut Gereon Asmuth, ebenfalls in der taz, zeigt sich schon jetzt an leicht abnehmenden Sterbezahlen, dass Boostern Hunderte Leben rettet.

In der FAZ fordert der Genomforscher Alexander Dilthey im Gespräch mit Timo Steppat, dass sich die Politik schon jetzt auf die fünfte und sechste Welle im nächsten Jahr vorbereitet: "Wir müssen jetzt über künftige Booster reden. Damit geht die Frage einher, dass Vorverträge mit Impfstoffherstellern abgeschlossen werden, die über den Lieferumfang und den zeitlichen Ablauf bestimmen. Das kostet jetzt Geld, das dürfte aber deutlich weniger sein als die Folgekosten der nächsten Wellen, die womöglich zu Freiheitseinschränkungen führen."

Warum Sachsen? Sachsen hat 40 Prozent Impfverweigerer und Inzidenzen zwischen 1.000 in Dresden und 2.200 in Meißen. Michael Bartsch sucht in der taz nach einer historischen Erklärung für die sächsische Mischung aus Larmoyanz und Renitenz: "Man kann dieses Gefühl aus den Traumata der militärischen Niederlagen im 18. und 19. Jahrhunderts sowie aus dem erheblichen Gebiets- und europäischen Bedeutungsverlust nach dem Wiener Kongress 1815 herleiten. Das daraus resultierende Bedürfnis nach Anerkennung ist bis heute ebenso spürbar wie eine latente Aggressivität. Solche kollektiven Neurosen führen zu den nur scheinbar widersprüchlichen Extremen von besonderem Opportunismus einerseits und Renitenz andererseits. Sachsen war besonders braun und besonders rot im 20. Jahrhundert und ist besonders blau in der Gegenwart."

Neulich präsentierte die Bild-Zeitung drei Wissenschaftler als "Lockdown-Macher". Joachim Müller-Jung, Wissenschaftsredakteur der FAZ, greift die problematische Rolle der Springer-Medien, besonders der Bild in der Corona-Pandemie auf. "Die Frage, bei der wir mit diesen und in sozialen Medien tausendfach wiederholten Attacken gegen Wissenschaftler inzwischen angekommen sind, lautet angesichts der Radikalisierung nicht mehr wie vor einem Jahr noch: Werden wir von Fachleuten regiert, oder bastelt die Regierung gar an einer 'Expertokratie'? Vielmehr lautet sie nun: Müssen die Forscher vor der schamlosen Diffamierung künftig besser geschützt werden?" Müller-Jung berichtet heute auch, dass Boostern auch gegen Omikron hilft, wenn auch nicht im gleichen Maß wie gegen Delta.
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Medien

Am Freitag hat der Londoner High Court beschlossen, dass Wikileaks-Gründer Julian Assange in die USA ausgeliefert werden darf. In der SZ ist Frederik Obermaier alarmiert: "Es ist eine bittere Fußnote der Geschichte, dass der Londoner High Court Assanges Auslieferung ausgerechnet am internationalen Tag der Menschenrechte abgesegnet hat - an jenem Tag, an dem die philippinische Journalistin Maria Ressa und ihr russischer Kollege Dmitrij Muratow in Oslo den Friedensnobelpreis entgegengenommen haben. Ressa sagte in ihrer Dankesrede: 'Ich lebe mit der realen Gefahr, den Rest meines Lebens im Gefängnis zu verbringen, nur weil ich Journalistin bin.' Künftig gilt das nicht nur für Journalistinnen auf den Philippinen, sondern für Journalisten auf der ganzen Welt."

"Man kann über die Einordnung der Person Assange streiten", meint Meike Laaf auf Zeit online, "aber: Das britische Urteil droht infrage zu stellen, wie sicher sich Journalistinnen, Verleger und Whistleblowerinnen fühlen können, wenn sie geheime Dokumente veröffentlichen, staatliche Missstände anprangern, Unbequemes zutage befördern. Und das ist gefährlich."

Der arabische Dienst der Deutschen Welle hat nicht nur Mitarbeiter beschäftigt, die sich in den sozialen Medien antisemitisch äußerten (unsere Resümees), sondern auch jahrelang mit dem ehemaligen Al-Jazeera Korrespondenten Aktham Suliman zusammmengearbeitet, einem prononcierten Anhänger des Assad-Regimes, berichtet Lennart Pfahler in der Welt: "2018 bezeichnete er im ZDF Giftgasangriffe der syrischen Regierung gegen das eigene Volk als ein inszeniertes 'Theaterstück'. Thesen wie diese haben ihm fragwürdige Bewunderer eingebracht. Bei einer Veranstaltung des Compact-Magazin, das vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wird, ließ sich Suliman 2013 vom Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen interviewen." Schon im Juli hat der oppositionelle syrische Journalist Yahya Alaous, der im deutschen Exil lebt, in den Übermedien auf Sulimans Äußerungen der und andere Probleme des arabischen Dienstes der Deutschen Welle hingewiesen.
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