9punkt - Die Debattenrundschau

Kommunikationslüftchen statt Winde

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.12.2021. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine steht nicht kurz bevor, er dauert schon seit sieben Jahren, erinnert der im Donbass lebende Dichter und Musiker Serhij Zhadan in der NZZ. SZ und Monopol untersuchen den Effekt der "NFT" auf den Kunstmarkt. Bari Weiss und andere wollen eine Universität gegen "Cancel Culture" gründen. Das tun sie nur aus Geldgier, sagt der Professor Adrian Daub im Philomag. Ein Projekt in Berlin will, dass Straßen, die nach Antisemiten benannt sind, umbenannt werden. Aber warum nur der Richard-Wagner-Platz, und nicht die Karl-Marx-Allee, fragt die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.12.2021 finden Sie hier

Europa

Ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine steht nicht kurz bevor, er dauert schon seit sieben Jahren, erinnert der im Donbass lebende Dichter und Musiker Serhij Zhadan in der NZZ. "Wenn die Feriengäste im Sommer am Asowschen Meer am Strand stehen oder in den seichten Wellen planschen, hören sie den Lärm der Kämpfe, die nur wenige Kilometer von den Ferienorten entfernt ausgetragen werden. Man habe sich inzwischen an den Krieg gewöhnt, heißt es. Und in gewisser Weise stimmt das auch. Doch es ist nur eine äußere Ruhe und Routine. Alle wissen, dass sich das schnell ändern kann, sobald sich die Lage zuspitzt. Eine Stadt in Frontnähe muss auf das Äußerste vorbereitet sein. Vielleicht tritt das Äußerste dann nicht ein." Die Bevölkerung ist nicht gleichgültig, so Zhadan, aber sie weiß, dass sie "auf sich selber angewiesen ist. Und auf die eigene Armee. Politiker - ukrainische, europäische und aussereuropäische - sind viel zu fragwürdig, als dass man sich auf sie verlassen könnte."

In dieser Woche beginnen Prozesse gegen Memorial und Memorials Menschenrechtsorganisation Memorial International. Klaus-Helge Donath hat für die taz die Zentrale der Organisation besucht, die mit ihrer Auflösung rechnen muss: "Mitarbeiter gehen davon aus, dass Erinnerungsarbeit auch nach einem Verbot weiterlaufen kann. Nur schwieriger, komplizierter, unbequemer und vor allem langsamer könnte es werden, fürchten die meisten. 'Die Staatsmacht hat immer Recht', fasste Arsenij Roginsky, ehemaliger Vorsitzender Memorials, die Erfahrungen mit dem Sowjetstaat zusammen. Auch er hat einige Jahre in einem Lager gesessen. An dem fragilen Verhältnis von Staat und Recht, daran hat sich auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nichts wirklich verändert. Wie sollte es auch, wenn Geheimdienste und Sicherheitskräfte die Geschäfte bestimmen."

Zunächst seien Nichtregierungsorganisationen von russischen Behörden als "ausländische Agenten" eingestuft worden, erläutert Kerstin Holm in der FAZ. "Seit 2017 werden außerdem Medien als Ausländische Agenten eingestuft, seit zwei Jahren obendrein natürliche Personen, die 'Nachrichten für eine unbegrenzte Zahl von Empfängern', also etwa Internet-Posts veröffentlichen. Der Kreml rechtfertigt das Gesetz damit, dass die russischen Auslandssender RT und Sputnik sich in den USA als ausländische Staatsmedien registrieren lassen mussten."

Barbara Oertel wirft in der taz einen kritische Blick auf die 2009 ins Leben gerufene "Östliche Partnerschaft" der EU mit der Ukraine, Moldau, Belarus, Georgien, Armenien und Aserbaidschan (ÖP): "Zwar sind mit der Ukraine, der Republik Moldau und Georgien Assoziierungsabkommen nebst umfassenden Freihandelsabkommen in Kraft getreten. Auch ihre Visumspolitik hat die EU gegenüber diesen drei Staaten liberalisiert. Doch in Sachen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Sicherheit ist die Strategie gescheitert."
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Urheberrecht

Frohlocken in den Verlagen. Die Verlegerbeteiligung an den Ausschüttungen der VG Wort für die Autoren ist wiederhergestellt. Sie hatte sich nach Klagen des Juristen Martin Vogel (mehr hier) als unrechtmäßiog erwiesen, und ist über den Umweg der europäischen Urheberrechtsreform wieder eingeführt worden, berichtet der Buchreport: "Mit den jetzt getroffenen Beschlüssen der Mitgliederversammlung werden Verlage künftig wieder rechtssicher pauschal an den Ausschüttungen der VG Wort für gesetzliche Vergütungsansprüche beteiligt."
Archiv: Urheberrecht

Kulturpolitik

Rund hundert rechtsextreme Übergriffe hat es nach Recherchen der SZ in den letzten fünf Jahren auf Kultureinrichtungen gegeben, "darunter mehrere Brand- und Sprengstoffanschläge, zahlreiche, zum Teil sehr konkrete Morddrohungen, versuchte Körperverletzung, Sachbeschädigungen und die Verletzung der Privatsphäre der attackierten Künstler", schreibt Peter Laudenbach in der SZ und empfiehlt für mehr Informationen Wilhelm Heitmeyers Studie "Rechte Bedrohungsallianzen", der darin die "Legitimationsbrücken" beschreibt, die AfD-Politiker kriminellen Akteuren bauen, auch wenn sie mit deren Anschlägen direkt dann nichts zu tun haben. "Seine Analyse der Übergriffe auf die Kunstfreiheit ist klar: 'Um rechte Bedrohungsallianzen zu verstehen, muss man die Bedeutung der Legitimationsbrücken ernst nehmen. Deshalb sehe ich zumindest indirekt eine Mitverantwortung der AfD an diesen Übergriffen.' In der Regel handelt es sich dabei um symbolische Akte, die Gegner einschüchtern und Feindbilder markieren sollen. Aber die Grenzen zum offenen Rechtsextremismus sind fließend."
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Kulturmarkt

Wie wenig der Kunstmarkt mit Kunst zu tun hat, lernt man in Kolja Reicherts Buch "Kryptokunst", schreibt Miryam Schellbach in der SZ. Dabei gehören heute einige der angebotenen Bilder in diesem Bereich zur teuersten Kunst überhaupt. "Jeder kann seine Kunstware als NFT anbieten. Bisher, so schreibt Reichert, ist 'Krypto-Kunst weitestgehend frei von ästhetischem oder konzeptuellem Orientierungssinn', was eine freundliche Formulierung dafür ist, dass hier ein Warhol-PDF unsortiert neben dem Spontan-Selfie einer Unbekannten feilgeboten werden kann. Was davon Kunst ist, wird dann, so ist Reicherts abgründige Beobachtung, einzig und allein dadurch bestimmt, ob es sich zu guten Preisen verkauft, 'die zum historischen Ereignis hochgejubelte Transaktion konstituiert erst das Werk'."

Kryptokunst wird über NFTs verkauft, sogenannte "non-fungible token". Damit kann man auch Filme produzieren, erklärt ebenfalls in der SZ Andrian Kreye. "Das ist vor allem eine basisdemokratische Form des Wirtschaftswesens, bei der sich Computer zusammenschließen und ein System von Vertrauen und Kontrolle automatisieren. Das eliminiert die traditionellen Mittelsmänner wie Banken, Regierungen und Aufsichtsbehörden und überträgt alle Macht dem Kollektiv der Nutzer und Maschinen", so Kreye. Der Filmproduzent Niels Juul will die nächsten Filme von Martin Scorsese so produzieren, so Kreye. "Wobei man alle möglichen Funktionen in so ein NFT einbauen kann. Zum Beispiel, dass die Produzenten und Filmschaffenden an jedem Weiterverkauf beteiligt werden. Was die beiden aber auch erobern, ist eine vollkommen neue Generation Investoren." Juul jedenfalls ist begeistert: "Ich werde zu Marty und all meinen alten Freunden in Hollywood zurückgehen und sagen: Leute, das ist es. Ihr könnt direkt mit eurem Publikum sprechen, und sie können eure Investoren sein. Und ich denke, das ist Demokratisierung und Dezentralisierung." Es gab schon unauffälligere Versuche, Leuten Geld aus der Tasche zu plaudern.

Bei Monopol berichtet Daniel Völzke über die App Clubhouse, die vor einigen Monaten als der neue heiße Scheiß vorgestellt wurde und heute kaum noch jemanden hervorlockt. "Was die Kunstwelt angeht, war Clubhouse indes vor allem der Nebeneffekt eines größeren Hypes: In der App wurde endlos diskutiert, was NFTs sind, wie sie die digitale Kunst verändern und ob sie den Kunstmarkt demokratisieren können. Mehr als einmal wurde in einem Panel die Ansicht vertreten, dass NFTs Galerien und Kunstmessen überflüssig machen würden". Das ist bisher nicht passiert, dafür gleicht das Clubhouse heute "selbst einer Ruine, nur dass bloß noch Kommunikationslüftchen statt Winde hindurchwehen".
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Medien

Stefan Buchen, Fernsehautor beim NDR, etwa bei "Panorama", greift in der FAZ die Recherchen des Vice-Magazins zur Deutschen Welle auf. Vice hat bekanntlich viele antisemitische Äußerungen von DW-Mitarbeitern dingfest gemacht (unsere Resümees). Allerdings hat Vice selbst einen arabischen Dienst, der sich ebenso äußert, belegt Buchen, der zwar von der Deutschen Welle eine Aufarbeitung verlangt, aber auch Verständnnis für arabische Journalisten einfordert: "Hiesige Kritiker können nicht erwarten, dass die jordanische, libanesische oder palästinensische Öffentlichkeit Israel so betrachtet, wie es die deutsche nach der Shoah und der Aufarbeitung der eigenen Schuld tut. Die arabischen Staaten und Gesellschaften des Nahen Ostens haben handfeste Konflikte mit Israel." Das sei akzeptabel, solange die Grenze zum Antisemitismus nicht überschritten werde, so Buchen, und "einen israelfreundlichen Medienpartner wird man dort .. auf absehbare Zeit nicht finden".
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Ideen

Ernst Nolte hat die Singularität des Holocaust gar nicht bestritten, meint der Autor und ehemalige Politiker Mathias Brodkorb in der FAZ (er hat vor zehn Jahren ein Buch zum Thema veröffentlicht). In Wirklichkeit sei es in der Attacke Habermas' damals um die Frage gegangen, wer die Deutungshoheit habe und Folgerungen für aktuelle Politik ziehen dürfe. Und ebenso sieht Brodkorb auch den von A. Dirk Moses entfachten "Historikerstreit 2.0": "Die Interventionen von Dirk Moses laufen letztlich nicht auf eine Klärung historiografischer Grundlagenfragen, sondern darauf zu, die Besetzung Palästinas durch Israel zu einem fortgesetzten Akt des Kolonialismus zu erheben und auf diese Weise Boykottaufrufe gegen Israel - diesmal von links - politisch zu entstigmatisieren."

Die ehemalige New-York-Times-Kolumnistin Bari Weiss und andere gründen in Austin eine Uni, die von "Cancel Culture" frei sein will. Nun gibt es aber gar keine Cancel Culture, sagt Adrian Daub, Professor in Stanford, im Gespräch mit  Dominik Erhard vom Philomag - jedenfalls nicht so, wie von Bari Weiss beschrieben. Daub unterstellt den Gründern der Uni von Austin vor allem Geldgier: "Viele der involvierten Personen verdienen seit Jahren daran, dass sie vor 'Cancel Culture' warnen. Deshalb liegt für mich der Gedanke nahe, dass diese Uni eine weitere Einkommensquelle werden soll, um weiter Spenden einzusammeln, ein bisschen Kursgebühren, damit am Ende nochmal ein Häuschen im Grünen rausspringen könnte." (Erzähl das Robin DiAngelo.)
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Gesellschaft

Der Politikwissenschaftler Felix Sassmannshausen hat eine Liste Berliner Straßennamen erarbeitet, die nach Antisemiten benannt sind sind. Auftraggeber ist der Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus, Samuel Salzborn, der damit auf entsprechende postkoloniale Listen reagiert. Empfohlen wird entweder eine Kontextualisierung oder eine Umbenennung der Straßennamen, berichtet Claudius Prößer in der taz, dem aber Lücken auffallen: "Während das Dossier den ebenso notorischen Antisemiten Richard Wagner mitsamt seiner Frau Cosima sowie einigen seiner Werknamen (Rienzi, Tannhäuser, Lohengrin) lieber aus dem Straßenbild verbannen will, taucht ein anderer großer Name des 19. Jahrhunderts gar nicht auf: Karl Marx. Dabei hat der in seiner Schrift 'Zur Judenfrage' Dinge geschrieben, die aus heutiger Sicht zumindest stark eingeordnet werden müssen. Dazu von der taz befragt, sagte Sassmannshausen, er habe auch eine 'Liste von Zweifelsfällen', bei denen ihm der Forschungsstand zu unsicher gewesen sei."

Der Medizinhistoriker Malte Thießen untersucht die Entstehung von Verschwörungstheorien im Kontext von Epidemien. Im Gespräch mit Katrin Richter von der Jüdischen Allgemeinen sagt er: "Opferstilisierungen haben in der politischen Kultur schon seit den siebziger, achtziger Jahren diese Tradition. Bei gesundheitspolitischen Themen ist das lange Zeit eher ein Projekt der Linken. Wie zum Beispiel bei Aids: Dort spielte das Dritte Reich bei der Kritik an der Erfassung der Infizierten eine große Rolle. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich diente so als Warnung, welche Auswüchse die Pandemie-Politik annehmen kann." Die Proteste gegen Impfpflicht haben dagegen eine uralte Tradition in der extremen Rechte, zeigt Thießen etwa am Beispiel der Proteste gegen Pockenimpfungen in der Kaiserzeit.
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Internet

Die deutsche Politik will den Messengerdienst Telegram schärfer kontrollieren, berichtet Konrad Litschko in der taz. Telegram sei kein Messengerdienst, sondern ein soziales Medium. Dort organisieren sich inzwischen die Coronaleugner und die extreme Rechte. Den Dienst zu sanktionieren ist eine zwiespältige Sache, die Miro Dittrich von Cemas, einer Monitoringstelle für Verschwörungsmythen, mit dem Litschko gesprochen hat, aber befürwortet: "Experten sehen die Politik durchaus in der Pflicht. 'Das Beispiel Russland zeigt, dass Staaten durchaus Handlungsmöglichkeiten haben', so Dittrich ... Dort löschte Telegram wegen einer drohenden Sperre in den Appstores im September mehrere regierungskritische Kanäle. 'Die Sperrung ist ein brachialer Schritt, der mit Blick auf regierungskritische Stimmen in anderen Ländern durchaus bedenklich ist', so Dittrich zur taz. 'Aber wenn sich ein Unternehmen partout nicht an geltendes Recht halten will, könnten ihm als letzter Schritt auch so die Grenzen aufgezeigt werden.'"
Archiv: Internet
Stichwörter: Telegram, Coronaleugner