9punkt - Die Debattenrundschau

Das rebellische Zwerchfell

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.12.2021. In der NZZ beschwört Alexander Kluge das Vertrauen auf Verstand und Gefühl. Querdenker sind weder rechts noch links, sondern nihilistisch, erkennt Claus Leggewie in der FAZ. Cancel Culture ist keine Erfindung der Rechten, ruft die Jungle World, und in Deutschland betreiben sie Akademikerinnen, die Kathleen Stock zur Unperson machen. Auf ZeitOnline blickt die syrische Journalistin Dima Al-Bitar Kalaji dem farblosen Gott der Autokraten ins Gesicht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.12.2021 finden Sie hier

Ideen

Im NZZ-Interview mit Paul Jandl gibt sich Alexander Kluge wie gewohnt freischwimmend dem Strom seiner Gedanken hin - über die Strapazierfähigkeit des Menschen, die Möglichkeit der Utopie oder den Mut, sich der Empathie zu bedienen. Er vertraue auf Gefühl und Verstand: "Man muss die Gefühle respektieren, auch wenn sie irren. Im Irrtum kann manchmal mehr Erfahrung stecken oder mehr Substanz als in einer bloßen Verstandeseinsicht. Gleichzeitig sind die Gefühle nicht mit Sentimentalität zu verwechseln. Gefühle stehen immer für das Unterscheidungsvermögen. Unsere Sinne haben ein Gefühl für Unterschiede: heiß und kalt. Hell und dunkel. Aggressiv und zärtlich. Das kann das Ohr unterscheiden. Im Ohr sitzt außerdem der Gleichgewichtssinn. Wie fein ist das zusammengesetzt! Dass unsereins in der Evolution der Erde herumläuft, und es entsteht so etwas wie das Ohr. Oder das rebellische Zwerchfell."

Es ist reiner Nihilismus, der die kruden, zersetzenden Theorien der Querdenker und ihre übersteigerte Notwehrbehauptung befeuert, erkennt in der FAZ Claus Leggewie: "Es geht also nicht darum, etwas zu bewirken, gar eine andere Gesellschaft zu begründen (und sei es eine neofaschistische); es geht um die Ausschaltung aller wahrheitsverbürgenden Institutionen wie der Wissenschaft, der unabhängigen Medien und der Gerichte, letztlich um einen Angriff auf den demokratischen Staat und dessen repräsentative Organe, die ohnehin an Vertrauen verlieren. Eine allgemeine Nervosität angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart kommt dem zu Hilfe, ubiquitäre Ängste formen einen 'Zeitgeist'. Dieser erinnert an die von Georg Lukács thematisierte 'Zerstörung der Vernunft', die den völkischen Bewegungen zupasskam, oder an den 'paranoiden Stil' (Richard Hofstaedter) der McCarthy-Ära, dessen Familienähnlichkeit mit dem Antisemitismus unverkennbar ist."

Cancel Culture ist keine Erfindung der politischen Rechten, ruft Vojin Saša Vukadinović in der Jungle World und verweist darauf, wie etwa deutsche Akademikerinnen den Fall der britischen Philosophin Kathleen Stock bewerten (unsere Resümees), die von einem misogynen Aktivistenmob von der Uni vertrieben wurde: "Die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky sagte über den Fall Stock im Bayerischen Rundfunk, es sei 'schwer zu beurteilen, wer geht da wie zu weit'. Stock sei ihr 'als durchaus fundamentalistisch argumentierend' bekannt - als hielten sich anonyme Morddrohungen gegen die lesbische Feministin Stock, von denen diese berichtet hat, und Kritik an der esoterischen Rede von 'Geschlechtsidentität' die Waage, und als bedürften systematisch von misogynen Aktivisten bedrängte Frauen in Großbritannien einer an Butler geschulten Schlichterin aus Deutschland, die ihnen nahelegt, dass sie, wenn sie 'fundamentalistisch' argumentieren, mit schuld daran seien, wenn sie belästigt werden. Noch übertroffen hat dies Andrea Geier. Die an der Universität Trier tätige Literaturwissenschaftlerin und Genderforscherin sagte im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur, natürlich könne Stock nicht abgesprochen werden, 'dass sie sich bedroht fühlt'... Es müsse 'unbedingt umgekehrt auch anerkannt werden, dass sich Studierende bedroht fühlen, wenn jemand ihr Existenzrecht in Frage stellt' - als hätte Stock jemals gesagt oder nahegelegt, dass Transmenschen umgebracht werden dürften."
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Politik

Auf ZeitOnline kommt die syrische Journalistin Dima Al-Bitar Kalaji, die zusammen mit der Autorin Annett Gröschner am Projekt "Der Geruch der Diktatur" arbeitet, zu dem Schluss, dass der Gott der Autokraten farblos sein muss: "Die Diktatur überzieht die Farben mit einer feinen Schicht Trockenheit, so wie die Depression eine transparente Folie der Traurigkeit über das Leben derer legt, die unter ihr leiden und durch diese Folie hindurch leben müssen. Diktaturen verfügen über eine eigene Farbpalette. Rot ist rot und blau ist blau, aber ich sehe die Farben nur trübe, wie verstaubt. Man könnte meinen, die Bilder sind schlecht gedruckt oder die Papierqualität ist mies. Doch ich glaube, dass Diktaturen den Farben das Leben entziehen, so wie die Depression dem Leben das Leben raubt.

In der SZ sträuben sich Hilmar Klute die Nackenhaare, wenn sich ihm Robert Habeck mit menschelnden Offenbarungen anschmiegt: Dass er Müsli mit Wasser essen musste, dass er vergessen hat den Müll, rauszubringen: "Im richtigen Leben schaut man, sobald wer so ein Zeug erzählt, auf die Uhr, weil einem plötzlich einfällt, dass man jetzt diesen Teams-Termin hat und an den Rechner muss. Sagt nun hingegen ein Politiker, er frage sich selbst, wie man nur so doof sein kann, regieren zu wollen, sendet die Filterblase eine Armee von Herzen und applaudierenden Händen. Eine nachgerade Emoji-Invasion erfolgte, als Habeck seine Gefühlsdialektik mit dem Satz auf die Spitze trieb, die Zweifel seien nicht dem professionellen Politiker über die Lippen gegangen, sondern, so Habeck über Habeck: nur dem 'müden Robert'. Es war als habe Robert Habeck einem lieb den Kopf an die Schulter gelehnt. Darf man mal sagen: Herr Habeck, wir möchten das nicht?"
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Gesellschaft

In der taz geht Christian Jakob zusammen mit Kollegen von Falter und WOZ ausführlich der Frage nach, was die große Impfskepsis in den deutschsprachigen Ländern erkläre? Ist es die Romantik, die Homöopathie, die Demokratiefeindschaft? Am Ende erklärt ihm aber auch die Gesundheitspsychologin Nina Knoll, dass es am mangelnde Vertrauen in den Staat liege und an der Unterschätzung von Corona: "Die Impfbereitschaft hängt von der Güte der Kommunikation der Impfkampagne ab. Bremen bestätigt Knolls Befund: Die Zweitimpfungsquote liegt hier bei 81 Prozent - bundesweite Spitze. Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke) erklärt dies so: 'Wir haben Daten erhoben, wo die Inzidenzen besonders hoch sind: Dort, wo die Arbeits- und Wohnverhältnisse prekärer sind. Und für uns war klar, hier muss man unterstützen, aufklären und Angebote schaffen.'"

Daniel Böldt stellt in einem weiteren taz-Artikel fest, dass ein großer Teil der anthroposophischen ÄrztInnen die Corona-Impfung befürworten: "Das anthroposophische Krankenhaus Havelhöhe hat es in der Region Berlin-Brandenburg in den vergangenen Wochen zu einiger Bekanntheit gebracht. Nicht nur weil hier jeden Tag gegen Corona geimpft wird, sondern auch weil die Organisation funktioniert."
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Stichwörter: Corona, Homöopathie, Inzidenzen

Überwachung

Telegram arbeitet zwar nicht mit staatlichen Stellen zusammen, das heißt aber noch lange nicht, dass der Dienst sicher ist, erklärt Malaika Rivuzumwami in der taz: "Der Messengerdienst bietet beispielsweise eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nicht als Grundeinstellung an. Diese muss für jeden einzelnen Kontakt aktiviert werden. Das unverschlüsselte Chatten nennt Telegram 'cloud chat'. Was nett klingt, bedeutet, dass private Gespräche auf den Telegram-Severn abgespeichert werden. Auch verzichtet Telegramm nicht komplett darauf, Metadaten zu sammeln. Laut ihren Datenschutzbestimmungen wird die IP-Adresse erfasst, wodurch Nutzer:innen geortet werden können. Konkret heißt das in der App: 'Wir erfassen deine IP-Adresse, welches Gerät du nutzt etc.' Was genau hinter 'etc.' steckt, erklärt Telegram nicht."
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Stichwörter: Telegram, Clouds

Geschichte

Im taz-Interview mit Andreas Fanizadeh dröselt der Historiker Stephan Malinowski den Hohenzollern noch einmal ihre Familiengeschichte auf, weil sie bis heute nicht glauben wollen, dass Kronprinz Wilhelm von Preußen als reaktionärer Nazi-Sympathisant erheblichen Einfluss hatte (unsere Resümees): "Man sollte zur Person des Wilhelm Prinz von Preußen zwei Punkte festhalten: Erstens, dieser Mann hat von Anfang bis Ende radikal und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Republik gearbeitet. Und zwar scharf, unnachgiebig und auf Seite der extremen Rechten. Und zweitens, im Kern seiner Bemühungen stand die Zusammenführung aller rechtsradikalen Kräfte in einem Bündnis. Er hat so spätestens mit dem Jahr 1930 den Nationalsozialismus und die NS-Bewegung offen und massiv unterstützt. Als prominent hervorgehobene Figur hat der frühere Kronprinz dem Vormarsch der NS-Bewegung konsequent Vorschub geleistet. Wie auch seine Ehefrau, die meisten seiner Brüder, sein Vater und andere Mitglieder dieser Familie, wie auch zeitweise sein Sohn Louis Ferdinand. Sie alle haben den Nationalsozialismus öffentlich sowie im internen Bereich des rechten Milieus massiv befördert."
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