9punkt - Die Debattenrundschau

Etwas ganz Essenzielles

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.12.2021. Claus Leggewie nimmt sich in der SZ eine Menge vor und verlangt ein Bündnis mit China und Bürgerräte, die gegen Rechtspopulismus kämpfen, was ohne öffentlich-rechtliche soziale Medien nicht funktionieren wird. In der taz erklärt die Kölner Museumsleiterin Nanette Snoep, warum die Kuratorin Peju Layiwola Benin-Bronzen ohne Museumshandschuhe anfassen durfte. In der FR weigert sich  Bruno Preisendörfer, den Eisernen Kanzler als Pionier der Sozialpolitik zu sehen. Und die FAZ macht Hoffnung. Bald ist Corona nur noch ein Schnupfen. Und wir wünschen unseren Lesern und Leserinnen, dass sie sich dann wieder umarmen können, ohne sich vor Aerosolen zu fürchten. Guten Rutsch dahin!
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.12.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Das Atomkraftwerk Grundremmingen wird abgeschaltet. taz-Redakteur Ulrich Gutmair erinnert sich, wie er seinerzeit auf einem Schiff auf der Donau gegen Atomkraft unterwegs war: "Das AKW Gundremmingen erzeugte gut ein Viertel des in Bayern verbrauchten Stroms, was wir nicht wussten, und produzierte bei klarem Wetter schöne weiße Wolken, die sich vom blauen Himmel abhoben. Im Schiff verwandelten sich derweil ein paar Leute in autonome Kämpfer, als es darum ging, die Atommüll-Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf zu verhindern. Sie erzählten stolz von Schlachten mit der Polizei und davon, wie man eine Zwille bedient. Jungs halt. Oder Buaba, wie man bei uns sagt." Eine Stromlücke wird es trotz der Abschaltungen nicht geben, berichtet Hannes Koch im politischen Teil der Zeitung. Und Ulrike Herrmann bleibt dabei: "Atomkraft, nein danke!"

Was Corona angeht, hat Joachim Müller-Jung in der FAZ Trost parat: "In der sich so anbahnenden postpandemischen Phase wird die Immunität der Menschen gegen SARS-CoV-2 insgesamt so weit aufgerüstet sein, dass jede weitere Infektionswelle auch vom vulnerablen Teil der Bevölkerung einigermaßen glimpflich durchgestanden wird."

Impfpflicht ist ein Thema, seit es Impfen gibt. Und sie war oft ein stumpfes Schwert, schreibt Malte Thießen, Autor des Buchs "Auf Abstand - Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie", in der taz: "Die Zwangsimpfung mit Gewalt ließ sich schon im Kaiserreich schwer durchsetzen. Geld- und Gefängnisstrafen wiederum erhöhten die Impfquote wenig. Eltern kauften sich entweder von der Impfpflicht frei oder ein gefälschtes Impfzeugnis, mit dem wiederum das Risiko versteckter Infektionsherde stieg. Die Impfpflicht machte das Spannungsverhältnis zwischen Staat und Staatsbürger:in also mit Händen greifbar. Sie verschärfte den Tonfall der Debatte und eröffnete Nebenschauplätze, mit hohen Reibungsverlusten."

Der Bayern-München-Fan Michael Ott hat dafür gesorgt, dass der Vorstand des Vereins wegen des Sponsoring-Vertrags mit dem Emirat Qatar heftig in die Bredouille geriet. Im Gespräch mit Robert Herr von den Ruhrbaronen spricht er über politische Einflussnahme, die  mit solchen Verträgen verbunden ist: "Wissen kann man da nichts, die Verträge sind schließlich geheim, aber es würde mich schon sehr wundern, wenn in den Verträgen nicht vereinbart worden wäre, dass man keine Kritik äußern darf. Alles andere würde dem Sinn eines Sponsoringvertrages völlig zuwiderlaufen, wenn der Sponsoringpartner öffentlich den Sponsor kritisiert. Einblick habe ich in die Verträge keinen, aber das könnte einen Anhaltspunkt dafür liefern, warum der Verein sich so verhält, wie er sich verhält. Da hätte man sich allerdings vor Abschluss des Vertrages darüber Gedanken machen müssen, ob man sich auf sowas einlässt und das Schweigen erkaufen lässt, oder nicht."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Der Theatermann Milo Rau hat im Kongo ein "Kongo Tribunal" organisiert. Hier ging es um Ausbeutung von Bodenschätzen durch westliche Konzerne, schreibt er in der taz: "Die koloniale Gewalt hat den afrikanischen Kontinent nur scheinbar verlassen. Sie kehrt zurück, wenn es darum geht, die verbrecherisch angeeigneten Minen-Konzessionen gegen die Einheimischen zu verteidigen. Schon seit Generationen bauen kongolesische Schürfer*innen die Vorkommen aus, die Glencore in den nuller Jahren 'entdeckte'. Allein in Katanga zählt man etwa 200.000 einheimische Bergbäuer*innen. Doch die 'Zonen für handwerklichen Abbau' genannten Gebiete schrumpfen mit jedem Deal, der in Kinshasa gemacht wird. Um irgendwie zu überleben, schleichen sich nachts die Einheimischen deshalb auf die Konzessionen, um Kobalt abzubauen und an chinesische Zwischenhändler zu verkaufen." Ob in dem Tribunal auch der Angeklagte zu Wort kam, verrät Rau nicht.

Angesichts von Rechtspopulismus und Klimakrise müssen innen- wie außenpolitisch neue Bündnisse geschmiedet werden, fordert Claus Leggewie in der SZ ohne besonders konkret zu werden. Klimapolitisch werde man sich etwa mit China "zusammenraufen" müssen, meint er. Innenpolitisch plädiert Leggewie für Bürgerräte: "In den deutschen Koalitionsvertrag aufgenommen wurde endlich die Einrichtung konsultativer und deliberativer Bürgerräte auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene, die das parlamentarische System, aber auch den Regierungsapparat und die Justiz nicht etwa umgehen, sondern stützen sollen. Dazu müssen Abgeordnete regelmäßig substantielle Gespräche mit einer Zufallsauswahl ihrer Wählerinnen und Wähler über anstehende Vorhaben führen. Unterstützen können das Stiftungen nach dem Vorbild des National Endowment for Democracy in den USA, das eine Million demokratische Führungskräfte im ganzen Land zu rekrutieren beabsichtigt. Voraussetzung ist die Neuausrichtung der sozialen Medien, die europäisch gesprochen eine 'öffentlich-rechtliche' Form annehmen müssen, um ihnen den destruktiven und paranoiden Stachel zu ziehen."

Nun bekommt Wladimir Putin, was er wollte: er wird "umworben", schreibt Alexandra Föderl-Schmidt in der SZ. Aber Joe Biden hätte nicht mit Putin unter Ausschluss der EU sprechen dürfen, meint sie: "Denn für Putin ist es das ein wirkmächtiger Erfolg: das Signal, dass Russland wieder als Supermacht wahr- und ernstgenommen werde, dass Moskau einen direkten Draht zu Washington habe. Damit verbunden ist die verhängnisvolle Botschaft: Die USA und Russland machen untereinander aus, was im Rest der Welt geschieht. Die Europäer werden von Washington allenfalls beigezogen; selbst wenn es sie direkt betrifft. Das erinnert an den Kalten Krieg und widerspricht der Ankündigung Bidens, auf Multilateralismus zu setzen."
Archiv: Politik

Kulturpolitik

Sabine Seifert unterhält sich für die taz mit Nanette Snoep, Direktorin des Kölner Rautenstrauch-Joest-Museums, die sich seit 25 Jahren für die Rückgabe von Kolonialkunst einsetzt. In ihrem Museum findet jetzt die Ausstellung "Resist" statt, die 500 Jahre Widerstand gegen Kolonialismus thematisiert. Hier hat Snoep auch mit der nigerianischen Künstlerin und Kuratorin Peju Layiwola zusammengearbeitet, einer Nachfahrin der Könige von Benin. Sie durfte die Bronzen sogar anfassen: "Ja, ohne Museumshandschuhe. Der Moment wurde in der ARD-Sendung 'Titel, Thesen, Temperamente' gezeigt. Wir haben das als symbolische Geste zugelassen, als Akt der Empathie. Museumsarbeit ist auch Care-Arbeit. Wir wollten, dass Layiwola sich gut fühlt an einem Ort, der durchdrungen ist von der kolonialen Vergangenheit, und wo sie mit unseren Museumskolleg:innen drei Wochen lang an der Sammlung arbeiten konnte, nach ihren Wünschen und ohne Einschränkungen." Ob das ein magischer Moment war, fragt die Interviewerin. "Der direkte Kontakt hat sie emotional sehr berührt. Aber es kamen sofort ablehnende Reaktionen nach der Sendung, weil Layiwola die Bronzen ohne Handschuhe berührt hat. Warum sind wir nicht in der Lage zu sehen, dass es hier um etwas ganz Essenzielles geht? Es geht um koloniale Traumata, Versöhnung, Heilung. Es geht um Empathie, Solidarität und Care."

Öffentliche Prestigeprojekte wie das Humboldt Forum sollten vor "privaten Spenden aus dubiosen Quellen" besser geschützt werden, fordert Hartmut Dorgerloh im dpa-Gespräch, meldet die Berliner Zeitung. Es sei eine grundsätzliche Frage, "'inwieweit man das von privaten Spenden abhängig machen will oder ob Steuerzahlerinnen und Steuerzahler auch das gesamte Projekt bezahlen sollen. Die andere Frage ist, ob es hierzulande auch eine andere Art von Spendenpraxis braucht, bei der - wie in anderen europäischen Ländern oder bei Parteispenden - schon ab einer relativ niedrigen Höhe die Zustimmung zur Namensnennung gegeben werden muss.' Gleichzeitig warnte Dorgerloh: 'Was man dann aber auch diskutieren muss ist, ob man damit dann bereit ist in Kauf zu nehmen, dass es möglicherweise weniger Spenden geben wird. Weil Menschen dann sagen: Nein, wenn mein Name veröffentlicht wird, dann spende ich auch nicht.'"
Archiv: Kulturpolitik

Europa

In der SZ nutzt Nils Minkmar den Aufmacher des Feuilletons, um eine Bestandsaufnahme von Mainz zu machen. Denn während die ganze Welt "monochrom in Sorgenfarbe" erscheint, erstrahlt Mainz "in frischem Gold", schreibt er: "Durch die Steuern, die der Impfstofferfinderkonzern Biontech - Postanschrift: An der Goldgrube 12 - der Kommune überweist, kann sich der städtische Haushalt mehr als sanieren. Jahrzehntelang knappste und knauserte der Stadtrat notgedrungen, man zankte sich um zweistellige Millionenbeträge, zuletzt schaltete man wegen 1,17 Milliarden Euro Schulden sogar Brunnen ab. Nun werden Steuereinnahmen in Milliardenhöhe erwartet, man rechnet mit einem Plus von 1,09 Milliarden Euro für 2021. Mainz ist plötzlich reich. Es ist das Muster des rheinischen Kapitalismus: Die wichtige, global agierende Firma zahlt brav Gewerbesteuer und damit die Firma auch bleibt, senkt die Stadt im Gegenzug ein wenig die Abgabenlast. Das ist Partnerschaft und nicht, wie es die Digitalkonzerne und ihre Feinde pflegen, das Spiel, wer wen am geschicktesten austrickst."
Archiv: Europa
Stichwörter: Biontech, Kommune

Geschichte

Mit "Als Deutschland erstmals einig wurde" hat Bruno Preisendörfer nun ein Buch über die Bismarck-Zeit geschrieben. Im FR-Gespräch mit Cornelia Geissler erklärt er unter anderem, warum Bismarck nie der "Großvater des Sozialstaats" war: "Bismarck war gegen jede Art von Arbeiterschutzgesetzgebung. Er war gegen jede Art der Beschränkung von Arbeitszeit. Und sein Argument, das schade der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft, das wird heute noch hervorgeholt. Die kleinen Reformen, die er auf den Weg brachte, waren machtpolitisch motiviert: Zuckerbrot und Peitsche. Man wollte der Arbeiterbewegung etwas geben, damit sie sich von der Sozialdemokratie abwendet."
Archiv: Geschichte

Internet

China schreitet auf seinem Weg in die real existierende Dystopie unbeirrt fort, berichtet Tomas Rudl unter Bezug auf die die South China Morning Post in Netzpolitik. Die Tätigkeiten von Staatsanwalten sollen durch künstliche Intelligenz automatisiert werden. "Das nun vorgestellte System wurde in Shanghai entwickelt und getestet, der größten Staatsanwaltschaft in China. Als Trainingsmaterial dienten mehr als 17.000 Fälle aus den Jahren 2015 bis 2020. Aus den von Menschen erstellen Akten könne das System anhand von tausend 'Eigenschaften' Verdächtigte bewerten, so die Zeitung. Zu den gängigen Straftaten sollen Kreditkartenbetrug und Diebstahl, aber auch Widerstand gegen die Staatsgewalt und Störung der öffentlichen Ordnung zählen."
Archiv: Internet