9punkt - Die Debattenrundschau

Auf deutsche Sofakissen gestickt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2022. In der Zeit erklärt Navid Kermani, warum er nicht gendert, aber manchmal so verfährt wie der Koran. In der NZZ warnt der Schriftsteller und Philosoph Philipp Tingler vor der Idee, dass Verzicht statt Fortschritt die Welt verbessern könnte. Die Zeitungen erinnern an Heinrich Schliemann, der vor 200 Jahren geboren wurde und jetzt als ein Räuber dasteht. Und die internationalen Medien erzittern vor der Nachricht, dass Ben Smith jetzt selber eines gründet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.01.2022 finden Sie hier

Ideen

Navid Kermani nimmt das Gendern nicht etwa als emanzipatorisch wahr, "sondern als eine geistige wie politische Regression", legt er in der Zeit dar. Zuweilen aber spreche er Frauen und Männer getrennt an, was der Koran zuweilen auch schon tue. Der Unterschied zwischen generischem und biologischen Geschlecht ist ihm dennoch wichtig, und überhaupt dürfe man Sprache nicht überfrachten: "Keine Sprache der Welt nennt jedes Mal alle Geschlechter, wenn von einer gemischten Personengruppe die Rede ist, das wäre für die Alltagssprache zu umständlich und für die Poesie zu sperrig. Das brauchen die Sprachen auch nicht, weil sie das Gesagte und das Gemeinte nicht eins zu eins codieren. Sie sind, so formuliert es der Sprachwissenschaftler Olav Hackstein, 'tendenziell ökonomische Kommunikationssysteme', die durch Implizitheit gekennzeichnet sind: Jeder Hörer versteht, was gemeint ist, obwohl es so eindeutig keineswegs gesagt ist."

Die Zeitstimmung heute ist von einer Negativität geprägt, die immer wieder Begrenzung fordert, statt auf Fortschritt zu setzen, meint der Schriftsteller und Philosoph Philipp Tingler in der NZZ. Das zeigt sich ihm in der Identitätspolitik ebenso wie in der Klimapolitik: "Man kann die Sozialgeschichte auch als einen Prozess betrachten, der ausdrückt, wie Gesellschaften mit Kontingenz umgehen... Demokratische Systeme bedeuten generell eine Kontingenzöffnung, also ein Sicheinlassen auf Ambivalenzen; autoritäre Tendenzen streben demgegenüber in Richtung Kontingenzschließung, das heißt nach Vereindeutigung. Noch bis über die letzte Jahrtausendwende war quasi ein inneres Bewegungsprinzip der Moderne, Möglichkeitsräume zu öffnen, weil die Dinge nicht nur gestaltungsbedürftig, sondern auch verbesserungsfähig erschienen. Demgegenüber bedeutet die Idee von Verzicht statt Fortschritt eine Bewegung in Richtung Kontingenzschließung, eine essenzielle Verschiebung in der Vorstellung von Gestaltbarkeit und Verfügbarkeit der Verhältnisse, eine Abschottung und Zurücknahme. Negativ."

Die Bezeichnung "Spaziergang" für die Anti-Corona-Demos ist eine "Begriffsmaske", schreibt Lothar Müller in der SZ, die sich schon die Teilnehmer des "Grunewald-Spaziergangs" aufsetzten, bei dem "1981 in Westberlin 5000 Sympathisanten der Hausbesetzer-Szene sich in das Villenviertel aufmachten, ausgerüstet mit Stadtplänen, auf denen die Adressen von Immobilienbesitzern verzeichnet waren." Auch die Demonstranten heute setzen auf die "bürgerliche Aura" des Spaziergangs, um von ihrem eigentlichen Tun abzulenken, erklärt Müller. "In einer Art sprachmagischen Selbstimmunisierung schützt die Begriffsmaske. Es scheint, als schütze sie mit den Kräften der Sprachmagie ihre Träger vor der längst fälligen Verwandlung dieser in normale Demonstranten, die sich an das bürgerliche Gesetzbuch zu halten haben statt darauf zu vertrauen, wer sich in Kultur hülle, sei unbelangbar."
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Medien

Vor einiger Zeit kaufte der Springer Verlag das globale Nachrichtenmedium Politico. Dann brachte Ben Smith in der New York Times einen Artikel zur Frage, ob der Springerkonzern denn die Compliance-Regeln amerikanischer Medien einhalte, woraufhin sich Springer sofort diesen Regeln unterwarf (unsere Resümees). Nun bringt die New York Times die Meldung, dass Ben Smith die New York Times verlässt, um ein, äh, internationales Nachrichtenmedium aufzubauen: "Ben Smith sagte in einem Interview, dass man eine globale Nachrichtenredaktion aufbauen wolle, die Nachrichten verbreitet und mit neuen Formaten des Storytelling experimentiert. Er machte keine Angaben dazu, welche Themen oder Regionen abgedeckt werden sollten, wie viel Geld man aufbringen wolle oder wann die neue Organisation starten würde." Das Medium soll sich an ein internationales englischsprachiges Publikum wenden, das Smith auf 200 Millionen akademisch gebildete Menschen beschreibt. Chef des neuen Mediums wird der ehemalige Bloomberg-CEO Justin Smith (nicht verwandt), meldet Reuters. Peter Kafka vermutet bei Vox.com, dass die Smiths wohl schon eine Menge Geld aufgetrieben haben, unter anderem investiert der ehemalige Atlantic-Besitzer David Bradley.

Mathias Döpfner, auch als Chef des Zeitungsverlegerverbands arg gerupft durch die von der New York Times lancierte Affäre um den Bild-Chef Julian Reichelt, kämpft unterdessen an vielen Fronten. Die letzte Bundesregierung wollte der Presse ja kurz vor der Wahl Subventionen in Höhe von 200 Millionen Euro zukommen lassen, ließ das großzügige Vorhaben dann aber ängstlich fallen. Nun ist Döpfner laut Gregory Lipinski bei Meedia wieder unterwegs, um von der neuen Bundesregierung Förderung für die Zustellung von Zeitungen zu bekommen: "Die einst im Haushalt 2020 eingestellte Summe von 40 Millionen Euro wird nicht reichen, um die wachsenden Kostenprobleme in den Griff zu bekommen. Schafft es Döpfner bis zur nächsten Delegiertenversammlung des BDZV im Februar, mit dem Bund erste Eckpfeiler einer Zustellförderung festzuzurren, wäre das nicht nur ein Gewinn für die Branche, sondern auch für Döpfner persönlich. Er könnte hierdurch seine Position als BDZV-Präsident stärken."
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Kulturpolitik

Als gäbe es nicht ein paar wichtigere Probleme in der Welt - und auch auf dem Feld der Kulturpolitik - wird der Vorschlag der Autoren Mithu Sanyal, Dmitrij Kapitelman und Simone Buchholz, das Amt einer Parlamentspoetin zu schaffen (unser Resümee), das aber allein nach nach von ihnen definierten Diversitätskriterien besetzt werden soll, in den Zeitungen ernsthaft diskutiert. FAZ-Redakteur Andreas Platthaus will beim Diversitätsgebot nicht einfach so mitmachen: "Schon die Auswahlkommission, so heißt es im Plädoyer des Trios, habe 'so divers wie nur irgend möglich' zu sein. Dem Parlament selbst wird Diversität nicht zugetraut. Es repräsentiert aber seiner grundgesetzlichen Bestimmung nach das Volk und nicht ein Diversitätsideal."

In der NZZ kann Paul Jandl den Vorschlag der drei nicht ganz ernst nehmen: "Liest man den Text in der Süddeutschen, meint man, einem großen Missverständnis ausgesetzt zu sein. Dass Poesie nämlich die Sprache des Guten ist, die endlich wieder auf deutsche Sofakissen gestickt werden müsste. Ein Gefühlszustand, der die Ernüchterungen, mit denen die Politik zu kämpfen hat, erträglich erscheinen lässt."

Die Welt widmet dem Vorschlag eines Parlamentspoeten gleich ein pro und contra. Mladen Gladic kann sich das gut vorstellen, um den "revolutionären Glanz des Parlaments" wieder aufzufrischen. "Warum diese wichtige Erinnerung also nicht ein bisschen greifbarer machen, sie in ein 'Fühlen, Sehen, Schmecken, Metaphernfinden' überführen, im Gesang eines Poeten oder einer Poetin im Parlament." Marc Reichwein wird dagegen "spätestens an der Stelle, an der Buchholz, Kapitelman und Sanyal 'Heilung' und 'Versöhnung' fordern, endgültig misstrauisch. Es ist doch nicht Aufgabe der Literatur, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu besorgen!"
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Stichwörter: Parlamentspoetin, Diversität

Geschichte

In der Zeit erzählt Christian Staas, wie Carl Humann und Alexander Conze in der Kaiserzeit den Pergamonaltar nach Berlin verfrachteten: "'Nun zur Hauptsache! Wie kommt alles nach Berlin?', schreibt Humann 1878 an Conze. Heute fiele das keinem Wissenschaftler mehr ein. Archäologische Objekte bleiben am Fundort, so ist es seit Jahrzehnten üblich. Damals sah man das anders, denn Kunstwerke wie der Pergamonaltar waren mehr als nur Gegenstand eines neuen Interesses an der Antike und der sich entwickelnden Archäologie - sie waren Instrumente der imperialen Selbstrepräsentation. Das 1871 gegründete Deutsche Kaiserreich wollte sich im Wettstreit mit Europas Mächten auch kulturell behaupten. Berlins Museen sollten dem Pariser Louvre und dem British Museum in London nicht nachstehen."

Im benachbarten Dossier erinnert Moritz Aisslinger an den Troja-Entdecker Heinrich Schliemann, der vor 200 Jahren geboren wurde. Jürgen Gottschlich schreibt über ihn in der taz: "Schliemann war ein Kunsträuber, der, statt sich an die vom amerikanischen Botschafter mit dem osmanischen Hof ausgehandelte hälftige Fundteilung zu halten, nicht nur den Goldschatz des Priamos, sondern weitere Hunderte große, kleine und kleinste antike Funde illegal nach Griechenland schmuggelte, die heute dem Troja-Museum an der Grabungsstätte schmerzlich fehlen. Im ersten Kunstraubprozess der Geschichte klagte der osmanische Hof in Griechenland gegen Schliemann auf die Herausgabe der Hälfte des Goldschatzes." Dieser Raub führte zum ersten Kunstraub-Prozess der Geschichte,so Gottschlich, denn die Türkei verklagte ihn.
Archiv: Geschichte

Gesellschaft

In der Zeit erklärt Juli Zeh im Gespräch mit Jochen Bittner, warum sie das Verfassen politischer Essays aufgegeben hat. Wir müssen reden, findet sie. Die aktuelle Hysterisierung der Debatte erklärt sie aus einer Mentalität, in der sich "die Bürger gar nicht mehr als Souverän sehen. Sondern als Individuum, das dem Staat gegenübersteht. Hier bin ich, da sind 'die da oben'. Und jetzt habe ich Bedürfnisse und Wünsche und bin sauer, wenn das nicht klappt. Auf die Politik oder gleich auf die ganze Demokratie. Genau genommen ist das ein infantiles Politikverständnis. Die Bürger sehen sich als wenig mündig - und Politiker kommunizieren entsprechend. Wenn ich höre, dass wieder jemand 'auf Augenhöhe' irgendwo 'abgeholt' werden soll, sehe ich einen Papa vor mir, der in die Knie geht und seine Kleinen an der Kita in Empfang nimmt."

In ihrem fragmentierten Zustand stehen die USA an einem gefährlichen Wendepunkt, meint der amerikanische Anthropologe Peter Turchin im Interview mit der NZZ: "Rechtsextreme, aber auch die weniger beachteten Antifa-Aktivisten fühlen sich gerade sehr entfremdet. Beide sind nicht sonderlich gut organisiert. Sie haben nicht die Macht, den Staat niederzuringen. Aber es gibt weitere Verwerfungslinien, etwa zwischen roten und blauen Gliedstaaten. Jetzt grade rebelliert Texas gegen Washington, davor muckte Kalifornien gegen die Trump-Administration auf. Die Zwischenwahlen nächstes Jahr könnten die politischen Eliten weiter entfremden. Wir wissen nicht, wer 2024 im Weißen Haus ist, nicht einmal, ob die Wahl von beiden Parteien akzeptiert wird. Von diesem Winter bis zum Herbst 2024 ist wohl die gefährlichste Zeit."
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Stichwörter: Zeh, Juli, Turchin, Peter, USA, Texas

Wissenschaft

Auch der Psychiater Borwin Bandelow macht in der Welt den Aberglauben in Deutschland mit dafür verantwortlich, dass es so viele Impfgegner gibt: "So können in Deutschland homöopathische Zubereitungen ohne wissenschaftliche Untersuchungen auf den Markt gebracht und zu Lasten der Krankenkassen verordnet werden. Während für 'richtige' Arzneimittel klinische Doppelblindstudien gefordert werden, trifft das für Homöopathika nicht zu. Kein Hersteller der alternativen Mittel hat jemals solche Studien vorgelegt. Warum sollten sie auch? Die Millionen verdienen sie auch ohne einen solchen Nachweis. Im Jahr 2020 wurden in Deutschland rund 550 Millionen Euro mit solchen Präparaten umgesetzt. Es sind zum Teil die gleichen Menschen, die auf die ungeprüften Kügelchen schwören, aber von den Impfstoffherstellern noch mehr Langzeitdaten verlangen."
Archiv: Wissenschaft
Stichwörter: Impfgegner, Bandelow, Borwin