9punkt - Die Debattenrundschau

Die Stabilität eines früheren Systems

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.01.2022. In Kasachstan überstürzen sich die Ereignisse. Spiegel online meldet, dass die Polizei Demonstranten erschossen hat. Russland sendet angeblich "Friedenstruppen". Die demokratische Öffentlichkeit in dem Land ist seit langem unterdrückt, erläutert globalvoices.org. Die Zeitungen blicken mit großem Pessimismus auf die Washingtoner Ereignisse vor einem Jahr zurück - einen Sieg der Demokratie mag etwa die FAZ nicht melden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.01.2022 finden Sie hier

Politik

In Kasachstan protestiert die Bevölkerung, die Regierung ist zurückgetreten. Nach jüngsten Meldungen, etwa hier im Deutschlandfunk, sagt ein "von Russland geführtes Militärbündnis Hilfe zu". Erste "Friedenstruppen" sind schon unterwegs, meldet der Guardian, der auch Videos zeigt. Spiegel online meldet, dass die Polizei Dutzende Demonstranten "eliminiert" habe. Zum russischen Militärbündnis heißt es im Deutschlandfunk:"Der armenische Regierungschef Paschinjan teilte mit, die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit werde Truppen entsenden. Der OVKS gehören neben Armenien und Russland weitere ehemalige Sowjetrepubliken an, darunter auch Kasachstan. Staatschef Tokajew hatte das Bündnis um Hilfe gebeten." Der Rücktritt der Regierung befriedigt die Demonstranten nicht, sagt die Zentralasien-Expertin Erica Marat laut tagesschau.de: "Sie wollen keinen Regierungswechsel, sondern einen Wandel des politischen Systems - freie Wahlen, Repräsentation in Ämtern und mehr."

Filip Noubel, Experte für die Region, schreibt bei globalvoices.org: "Nach allem, was bisher zu sehen und zu analysieren ist, scheint der Protest wirklich populär zu sein und keine klaren Anführer zu haben. Dieser offensichtliche Mangel an Führung deutet auf einen ungewissen Ausgang der Proteste hin. Das aktuelle politische Regime, das seit den letzten Tagen der Sowjetunion in den späten 1980er Jahren von Nursultan Nasarbajew geführt wird, hat es geschafft, die meisten Formen alternativen politischen Lebens, wirklich unabhängiger Medien oder einer kritischen Zivilgesellschaft auszulöschen." Noubel empfiehlt das Online-Magazin Eurasianet als Informationsquelle über die Region. Mehr bei dlf kultur.

Die USA waren beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar "nur einen Tweet vom Zusammenbruch entfernt", aber auch heute ist die Gefahr nicht gebannt, schreibt Hannes Stein in der Welt: "71 Prozent der Republikaner glauben, dass Trump 2020 die Wahl gewonnen habe. Ein Drittel der Amerikaner gibt an, Gewalt gegen die Regierung sei manchmal gerechtfertigt. Zwölf Prozent der Amerikaner und ein Fünftel aller Trump-Wähler meint, Trump solle sofort wieder Präsident werden - notfalls mit Gewalt. Das sind zwar nur vier Prozent der Bevölkerung; aber in absoluten Zahlen Hunderttausende, von denen viele halbautomatische Waffen im Schrank haben. Außerdem gibt es keinen Hinweis, dass die Republikanische Partei bei den Zwischenwahlen im November für ihre Radikalisierung bezahlen wird. Die Mehrheit der Kongressabgeordneten und Senatoren wird 2023 also aus Leuten bestehen, die nicht mehr bereit sind, eine Wahlniederlage zu akzeptieren - Leuten, die den Mob vom 6. Januar als eine Art revolutionäre Avantgarde feiern."

Eine optimistische Lesart der Ereignisse vor einem Jahr verbietet  sich. Die Demokratie ist angeschossen, und die Frage, ob Trump 2024 noch mal antreten werde, sei zwar unheimlich, aber nicht mal die wichtigste, schreibt Andreas Ross in der FAZ. Die Institution Demokratie ist nachhaltig lädiert: "Das fortgesetzte Trump-Spektakel droht von den vielen kleinen Schritten abzulenken, die Republikaner bereits auf Ebene der Bundesstaaten ergriffen haben, um mehr Verfügungsgewalt über Wahlergebnisse zu erlangen. Bisher technokratische Verfahren werden politisiert; das verworrene Wahlrecht aus dem 19. Jahrhundert bietet dafür reichlich Spielraum. Ob davon Trump profitiert oder ein Trump-Schüler mit mehr als nur Show-Talenten, steht in den Sternen."

Von Trump und den Republikanern ist bis heute nur Schweigen zum Aufstand zu hören, schreibt Juliane Schäuble im Tagesspiegel, aber: "Die Gefahr, dass ihr Schweigen, ihre mangelnde Distanzierung von der amerikanischen Dolchstoßlegende des 21. Jahrhunderts die wahnhaften Kräfte in den eigenen Reihen weiter stärkt, ist riesig. Dazu kommen besorgniserregende Versuche, in den für die Durchführung der Wahl zuständigen Bundesstaaten, die Stimmabgabe zu erschweren. War also der 6. Januar nur ein Vorbote neuer, gewalttätiger Zeiten, gar eines Bürgerkriegs, wie ihn manche Beobachter prophezeien? Wird die nächste Wahl nicht an den Urnen, sondern von gezielt in Bundesstaaten positionierten Strippenziehern entschieden? Schafft es Trump - so er denn antritt - beim nächsten Mal, seinen Putsch-Plan durchzuziehen?"

Erst ein Abtreibungs- und modernes Familienrecht ermöglicht Frauen in Afrika zu studieren und damit die Modernisierung der Länder. Katrin Gänsler erzählt in der taz, wie sich die junge Valerie für eine - bis dato illegale - Abtreibung entschied: "Was Valerie in den Tagen vor dem Abbruch vor allem beschäftigt hat, war ihre Zukunft. Sie wollte studieren, einen Beruf erlernen und eigenes Geld verdienen. 'Ich kann mein Studium nicht mit einer Schwangerschaft fortsetzen. Das schwirrte immerzu durch meinen Kopf', sagt sie. Bis heute wird in manchen afrikanischen Ländern Teenager-Müttern der weitere Schulbesuch verweigert. Wer ein Kind auf die Welt bringt, hat keinen Platz mehr auf der Schulbank. Tansania beispielsweise hat dieses Verbot erst im November letzten Jahres gestrichen." Das Abtreibungsrecht in Benin wird jetzt wohl liberalisiert, so Gänsler. "Der Staat macht sich unabhängig vom Einfluss der Kirchen und Moscheen und lässt sich von ihrer Kritik nicht umstimmen."
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Gesellschaft

Eine Impfpflicht würde die "Wagenburgmentalität" der Impfgegner nur verstärken, sagt der Politologe und Extremismusforscher Alexander Strasser im NZZ-Gespräch mit Alexander Kissler. Zugleich kritisiert er eine allgemeine Stigmatisierung anderer Standpunkte: "In den letzten sieben bis zehn Jahren wurden bestimmte Standpunkte normativ derart stark angereichert, dass sie ins Jenseits der Diskussion rückten. Gelten bestimmte Standpunkte als moralisch überlegen, erscheinen konkurrierende Auffassungen als normativ minderwertig, ja als unmoralisch. Damit aber ist die prinzipielle Chancengleichheit im Diskurs nicht mehr gegeben. Der Diskurs verkümmert, die Argumente werden schwächer. (…) Der italienische Sozialist Gramsci sprach von der Diskurshegemonie als dem strategischen Ziel der Linken. Um sie zu erlangen, braucht es laut Gramsci sendungsbewusste Eliten. Gesellschaftliche Minderheiten können dann einer Mehrheit den Diskurs aufzwingen und eine überdimensionale Aufmerksamkeit für exotische Standpunkte erreichen."
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Kulturpolitik

"Die erste grüne Kulturstaatsministerin wird eine Verwalterin des Mangels sein", schreibt FAZ-Redakteur Andreas Kilb in einer Tour d'horizon zum Antsantritt der neuen "Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien" Claudia Roth. Anders als Monika Grütters hat sie es es nicht mit einer Parteifreundin im Kanzleramt zu tun. Und in Corona-Zeiten werden die Budgets knapper: "Ebendeshalb wird ihr das leidige Thema Kulturföderalismus immer wieder auf die Füße fallen. Denn auch die Länder haben weniger Geld zur Verfügung, was ihre Bereitschaft, sich an Kooperationsvorhaben unter Führung des Bundes zu beteiligen, weiter vermindern dürfte." Auf die " neue postkolonial-diverse Generallinie des Bundes" geht Kilb leider nicht ein - alle Schlüsselstellen der Bundeskulturpolitik sind inzwischen mit BDS-Ermöglichern besetzt (unser Resümee).
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Internet

Das Bundeskartellamt darf Googles "überragende" Marktmacht künftig kontrollieren. In der Welt begrüßt Thomas Heuzeroth das: "Jetzt gibt es endlich das Instrument gegen solches Geschäftsgebaren. Schwer denkbar, dass eine Übernahme wie die von WhatsApp durch Facebook an den Wettbewerbshütern vorbeigehen würde. Jetzt gilt es aber, genau hinzuschauen. Das wird nicht immer einfach sein. Niemand kann den Tech-Konzernen die Möglichkeit absprechen, sich selbst zu entwickeln. Das müssen sie sogar, denn sonst wären sie zum Sterben verurteilt. Einen solchen existenzbedrohenden Eingriff wird niemand wollen. Nur sollten die Unternehmen das nicht auf Kosten des Wettbewerbs tun."
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Stichwörter: Google, Bundeskartellamt

Ideen

Giorgio Agamben, einer der ersten - und schärfsten linken -  Kritiker der Coronamaßnahmen, der Philosoph Massimo Cacciari, der Jurist Ugo Mattei und der Kulturkritiker Carlo Freccero haben in Turin eine "Kommission des Zweifels und der Vorsorge" gegründet, um "die Freiheit und die Menschenrechte im Rahmen des internationalen Rechts zu schützen", meldet der italienische Philosoph Gianluca de Candia in der Welt. Die "regelmäßige Ausrufung eines 'Notstands' würde den Rechtsstaat in einen 'Ausnahmezustand' versetzen, der die Aussetzung bestimmter verfassungsrechtlicher Garantien legitimieren würde", kritisieren sie. Notstand und Ausnahmezustand sind aber keineswegs gleichzusetzen, erklärt ihnen De Candia: "Der Notstand wird aufgrund einer Gefahr ausgerufen, die entweder durch eine Naturkatastrophe (Pandemie, Erdbeben, Flutwelle usw.) oder durch eine Industriekatastrophe verursacht wird und die die Regierung legitimiert, so lange wie nötig außerordentliche Maßnahmen der Freiheitsbegrenzung und sozialen Distanzierung einzuführen. Außerdem setzt der erklärte Notstand die Stabilität eines früheren Systems voraus, zu dem zurückzukehren er sich letztlich verpflichtet. Auch der Ausnahmezustand sieht die Aufhebung des Rechts vor. Doch geschieht dies durch einen souveränen und autoritären Willen, ähnlich dem hobbesschen Leviathan, und zielt darauf ab, ein bisheriges System zu zerstören und ein anderes zu errichten."

Außerdem: In der NZZ gerät Hans Christoph Buch angesichts einer neuen Tendenz zum Totalitarismus von links und rechts geradezu in Rage. Ein Text mit Zukunftsvisionen der Ebert-Stiftung zu Abtreibung und Bevölkerungspolitik erinnert ihn gar an Aldous Huxley.
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