9punkt - Die Debattenrundschau

Die schwarzen Seiten der Geschichte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.01.2022. In der taz spricht der belarussische Punker und Dissident Igor Bancer, der überraschend aus dem Gefängnis entlassen wurde, über die Lage an der belarussisch-polnischen Grenze. In Zeit online fordert ein Aufruf von Russlandexperten eine dezidiertere deutsche Politik gegenüber Russland. Bei DeskrRussie erklärt der Politologe Nicolas Tenzer, warum die Auflösung von "Memorial" auch die Demokratien angeht. Die SZ ruft den europäischen Royals schon mal leise Servus zu.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.01.2022 finden Sie hier

Europa

Der belarussische Punkmusiker Igor Bancer, den die taz schon mehrfach interviewte (unsere Resümees), ist überraschend aus dem Gefängnis entlassen worden. Im Interview mit Robert Mießner erzählt er, wie er sich nach der Isolation im Gefängnis und in einem Klima massiver Zensur wieder zurecht findet. Obwohl er in Grodno, unweit der polnischen Grenze lebt, gibt er zu, dass er es nicht wagt, sich ein Bild von der Lage der Flüchtlinge zu machen, die Alexander Lukaschenko an die Grenze gelockt hat: "17 Kilometer sind es von Grodno zur Grenze. Den Flüchtlingen geht es fürchterlich und das muss aufhören. Interessant, auch wenn das nicht das passende Wort ist, ist einmal die offizielle polnische Seite, die keine unabhängigen Medien dort haben will, auf der anderen Seite die belarussischen Behörden, die niemanden den Zugang erlauben. Beide wollen, dass am besten nichts nach außen dringt. Dazwischen ist ein Vakuum entstanden. Über die Situation der Flüchtlinge etwas in Erfahrung zu bringen, ist sehr schwer. Von unabhängigen polnischen Organisationen, zu ihnen habe ich Kontakt, kommen Nachrichten, in Belarus haben wir nur die staatlichen Medien, die die Flüchtlinge in Lukaschenkos Sinne instrumentalisieren."

Berlin trägt Mitschuld an der immer aggressiveren russischen Politik - weil ihr die vielen deutschen Regierungen seit der Auflösung der Sowjetunion nie deutlich entgegentraten, heißt es in einem Aufruf, der bei Zeit online veröffentlicht wird. Einige Dutzend Russlandexperten, darunter etwa die Grünen-Politikerin Rebecca Harms, Karl Schlögel und Richard Herzinger schreiben: "Berlin hat mit seiner Außen- sowie Außenwirtschaftspolitik zur politischen und ökonomischen Schwächung osteuropäischer Nicht-Nuklearwaffenstaaten und zur geoökonomischen Stärkung einer zunehmend expansiven Atomsupermacht beigetragen. Deutschland verhinderte 2008 maßgeblich den Beitritt von Georgien und der Ukraine zur Nato. 2019 betrieb die Bundesregierung hingegen die Wiederzulassung der russischen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats, obwohl Moskau keine der Bedingungen für diesen hochsymbolischen Akt erfüllt hatte und hat."

In der SZ ruft Joachim Käppner den europäischen Royals schon mal leise Servus zu. "Königshäuser sind Nachfahren eines undemokratischen Zeitalters", meint er, das kann man vergessen, solange sie zur Einheit eines Landes beitragen wie Queen Elizabeth oder Königin Beatrix: "Wenn die Monarchien dieser Rolle aber nicht gerecht werden und wie häufig in den vergangen Jahren vor allem durch Finanz- und andere Skandale auffallen, verspielen sie ihre Akzeptanz rasch. Sie sind ein Luxus, in der Sprache der Manager ein 'Nice-to-have', etwas, was man sich leisten kann, aber nicht leisten muss. Durchaus denkbar, dass in den kommenden Jahrzehnten deshalb auch die letzten Monarchien abgeschafft werden. Sollte es so kommen, hielte sich der Verlust in Grenzen."
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Ideen

In einem Essay für DeskRussie erklärt der französische Politiologe Nicolas Tenzer, warum die Auflösung von Memorial auch die Demokratien betrifft: "Der Kontinuität der Geschichte unter dem Zeichen der Wahrheit setzt Putin die Kontinuität der Geschichte unter dem Zeichen des Verbrechens entgegen. Er versucht, die schwarzen Seiten der Geschichte von gestern zu löschen, um die von heute zu schreiben." Vielleicht auch interessant im Kontext des Historikerstreits 2.0, wo die Fraktion um A. Dirk Moses das Gedenken an den Holocaust als deutsche Spezialmarotte darstellt, Tenzers Ausführungen zur weltweiten Bedeutung des Memorial-Verbots: "Die Geschichte des Stalinismus gehört ebenso wie die des Nationalsozialismus, des Maoismus und aller weltweit begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur zu dem Land, in dem sie stattgefunden hat. Sie ist Teil unseres gemeinsamen Erbes. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord gehen die gesamte Menschheit an und sind nicht nur Sache der Opfer und der Henker." Hier die englischsprachige Version des Artikels.

In der Berliner Zeitung erklärt die Philosophin Corine Pelluchon im Gespräch mit Georg Diez ihren Kampf für Tierrechte und einen neuen Begriff der Aufklärung: "Die grenzenlose Ausbeutung von Tieren und ihr industrieller Tod verdeutlichen die Kultur des Todes, in der wir leben. Auch wenn die meisten Menschen diese Kultur leugnen, verursacht die Gewalt, die Tieren angetan wird, ein kollektives Trauma. Ich fordere eine neue Aufklärung nach Zusammenbruch der alten. Das erfordert die Anerkennung unserer Zerstörungswut, die auf das Vergessen unserer Sterblichkeit und die Verdrängung der Schicksalsgemeinschaft, die wir mit den Tieren teilen, zurückzuführen ist."
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Kulturpolitik

Matthias Grünzig, Autor eines Buchs über die Potsdamer Garnisonkirche und Mitinitiator des "Offenen Briefs" zur Neubesetzung der Position des neuen Senatsbaudirektors / der neuen Senatsbaudirektorin", der die Besetzung des Postens mit der konservativen Architektin Petra Kahlfeldt kritisiert, schildert in der taz die komplexen Kämpfe in Berlin um die komplett leergefegte Mitte der Stadt in der Nähe des Alexanderplatzes. Kahlfeldt gehört zur "Planungsgruppe Stadtkern", die "eine intensive Lobbyarbeit für eine Privatisierung der Berliner Innenstadt (betrieb). Sie erarbeitete eine 'Charta für die Berliner Mitte', gab Bücher heraus und organisierte Ausstellungen. Petra Kahlfeldt nutzte ihre Tätigkeit als Professorin an der Berliner Hochschule für Technik im Sinne der 'Planungsgruppe Stadtkern'. Sie ließ ihre Studenten mehrfach Bebauungspläne für öffentliche Grünflächen zeichnen." Es müsse sich nun zeigen, ob sie eine Politik im Sinne der anders gelagerten Ziele des Koalitionsvertrages des Landes Berlin führen könne.

Die britische Regierung gerät unter gehörigen Druck in der Frage der "Elgin Marbles", berichtet Gina Thomas in der FAZ. Die Griechen fordern die Parthenon-Skulpturen, die die Akropolis zierten und sich heute im British Museum befinden, seit langem zurück. "Die Debatte um die Parthenon-Skulpturen gehört zwar nicht zum kolonialen Komplex, doch sind sie in den Strom der aktuellen Restitutionsdebatte geraten, der westliche Museen zum Umdenken zwingt. Britische Meinungsumfragen belegen die Verschiebung im Für und Wider um die Rückgabe. In einer Erhebung vom November 2021 erklärten 59 Prozent der Befragten, dass die Skulpturen an ihren Ursprungsort zurückkehren sollten. Nur sechzehn Prozent waren für den Verbleib in Großbritannien. Vor acht Jahren hatten nur 37 Prozent eine Rückgabe favorisiert, während 23 Prozent dagegen waren."
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Kulturpolitik

In der SZ berichtet Jörg Häntzschel vom Vorwurf amerikanischer Behörden gegen eine Archäologin des Berliner Museums für Asiatische Kunst, die von einem afghanischen Warlord Ausgrabungsstücke erworben und illegal nach Berlin gebracht haben soll.
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