9punkt - Die Debattenrundschau

Selbstermächtigung zur Gewalt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2022. Putin muss gar nicht einmarschieren. In den bangen Herzen des Westens kann er bereits Terraingewinne verzeichnen, meint der britische Politologe Keir Giles im Guardian. Catherine Belton empfiehlt hingegen im Dlf  "Einigkeit im Westen, die wir jedoch besonders an der deutschen Position wohl gerade nicht erkennen können".  Nein, Olaf Scholz war weder Stasi-IM, noch wurde er von der Stasi bespitzelt, stellt Hubertus Knabe in der FAZ fest. Bei rnd.de erklärt Bernhard Pörksen, warum Verschwörungsdenken so attraktiv ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.01.2022 finden Sie hier

Europa

Putin muss gar nicht mehr einmarschieren. In den bangen Herzen des Westens hat er längst Terrain gewonnen, meint der britische Politologe Keir Giles ( Autor des Buchs " Moscow Rules - What Drives Russia to Confront the West") im Guardian. Gerade dass der Aufmarsch seiner Truppen so massiv ist, dass Putin scheinbar nicht mehr zurückkann, ist sein Sieg: Es "hat zu der Ansicht geführt, dass die Stationierung nicht nur zur Schau gestellt werden kann, da sie 'zu groß ist, um nicht genutzt zu werden'. Dabei wird jedoch übersehen, dass sie bereits eingesetzt wurde - gerade diese Konzentration russischer Truppen hat die USA an den Verhandlungstisch gebracht, um darüber zu sprechen, was Russland will. Abgesehen von den unmittelbaren und ausdrücklichen Forderungen, die mit der Truppenaufstockung verbunden sind, hat Russland andere, sekundäre Ziele erreicht. Themen, die zuvor im Mittelpunkt des westlichen Interesses standen, wie die Besetzung der Krim durch Russland und die anhaltenden Verletzungen des Waffenstillstands in der Ostukraine, wurden durch dringendere Sorgen über eine drohende Eskalation verdrängt."

Der Westen kann eine Menge gegen den Mafia-Clan tun, der Russland im Griff hat, sagt die ebenfalls britische Autorin Catherine Belton im Gespräch mit Thielko Grieß im Deutschlandfunk: "Die Hauptsache ist Einigkeit im Westen, die wir jedoch besonders an der deutschen Position wohl gerade nicht erkennen können. Ich habe erst vor kurzem mit einem früheren russischen Banker gesprochen, der nun im Ausland lebt. Seine Bank wurde ihm vom russischen Staat weggenommen als Teil der Versuche, die Cashflows zu kontrollieren. Und er sagt, der einzige Weg, um das Verhalten der russischen Führung zu verändern, ist, sie von den Gewinnen aus dem Energiegeschäft abzuschneiden." Beltons Buch "Putin's People" kam ins Gespräch, weil es von russischen Oligarchen mit "Slapp-Klagen" überzogen wurde, unsere Resümees. Bei Harper's wird es nächsten Monat auf deutsch erscheinen.

Apropos Slapp-Klagen: Auch der britische Millionär Arron Banks, der die Brexit-Kampagne maßgeblich finanzierte, überzieht die Guardian-Journalistin Carole Cadwalladr mit eine Slapp-Klagen, damit sie sein Agieren nicht benennt, berichtet Daniel Zylbersztajn-Lewandowski in der taz.

In der NZZ warnt der Schriftsteller Christoph Brumme vor einem völlig irrational agierenden Putin: "Die Zerstörungskräfte, über die dieser Mensch heute verfügt, übersteigen das Vorstellungsvermögen. Putin kokettiert inzwischen gern mit der Apokalypse, mit einem nie da gewesenen Schrecken für die Menschheit, sollte Russland sich bedroht fühlen. Und wann fühlte sich Russland in seiner Geschichte nicht bedroht, obwohl es insgesamt weit mehr Angriffs- als Verteidigungskriege führte? Wir werden nicht warten, bis die Raketen gegen uns starten, so Putin. Schon wenn man von Angriffsplänen erfahre, könne man vorauseilend 'antworten'. Schließlich glaubt er zu wissen, dass Russlands Gegner einige Sekunden früher sterben werden, während die Russen als Märtyrer in den Himmel kommen werden. Aber wozu brauche es die Menschheit ohne Russland?, fragte er. Er kann letztlich ganz allein über einen Atomkrieg entscheiden. Kein Kontrollgremium kann ihn stoppen, keine Öffentlichkeit ihn daran hindern. Das ist neu in der Weltgeschichte."

Der bei der SPD so beliebte Bezug auf die Entspannungspolitik ist unsinnig, denn diese fand in einem ganz anderen Kontext statt, schreibt Bernd Rheinberg bei den Salonkolumnisten, und übrigens mutierte die Entspannung schon in den Achtzigern bei der SPD in eine ungute Nähe zu den Regimes, "als die SPD in der Opposition war und sich in der DDR eine Friedens- und Bürgerrechtsbewegung bildete. Während die Grünen den Kontakt zu den Regimekritikern aufnahmen und diese aktiv unterstützten, pflegte die SPD quasi stolpehaft an der Bundesregierung vorbei ihre guten Beziehungen zum Honecker-Regime. Was dieses als Ermunterung verstehen durfte, die DDR-Opposition weiter zu bekämpfen, zu unterwandern und zu zersetzen. Diesen Fehler hat die SPD bis heute nicht eingesehen."

Nein, Olaf Scholz war in seinen Juso- und Stamokap-Zeiten weder Stasi-IM, noch wurde er systematisch von der Stasi bespitzelt, wie es mehrere Medien behauptet hatten, schließt Hubertus Knabe in der FAZ nach akribischer Durchsicht der Akten. "Die eigentliche Bedeutung der Unterlagen liegt denn auch auf anderer Ebene: Sie belegen, dass Scholz jahrelang enge und regelmäßige Beziehungen zu hohen Funktionären in der DDR unterhielt. Dokumente der FDJ bestätigen das. Aus den Vermerken über Scholz' Gespräche in Ost-Berlin wird deutlich, dass er im Kampf gegen die Nato, die USA und die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung den Schulterschluss mit Moskau suchte."

Dem deutschen Journalisten Deniz Yücel wurde vom  Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bescheinigt, dass er von der Türkei widerrechtlich inhaftiert wurde (Berichte hier und hier). Aber er kam auch frei, weil er in Deutschland ein prominenter Fall war, schreibt Christian Rath in der taz: "Das aktuelle Verhältnis zwischen Europa und der Türkei wird sich deshalb eher an den Fällen des regierungskritischen Mäzens Osman Kavala und des prokurdischen Oppositionspolitikers Selahattin Demirtaş entscheiden. Beide sind aus offensichtlich konstruierten Gründen schon seit Jahren in Haft. Bei beiden hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Inhaftierung beanstandet und die Freilassung gefordert. In beiden Fällen schiebt die türkische Justiz immer wieder neue Anschuldigungen nach, um die Freilassung zu verhindern."
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Ideen

Die NZZ publiziert einen Auszug aus Johann Haris neuem Buch "Stolen Focus. Why You Can't Pay Attention - and How to Think Deeply Again", das sich mit unserem durchs Internet und die sozialen Medien verursachten Konzentrationsmangel auseinandersetzt: "Wir brauchen jetzt, wie ich glaube, eine Aufmerksamkeitsbewegung, die unser Denken zurückfordert. Ich glaube, wir müssen dringend handeln, weil es vielleicht so ist wie bei der Krise des Klimas oder der Fettleibigkeit - je länger wir warten, desto schwieriger wird es."
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Stichwörter: Hari, Johann, Soziale Medien

Gesellschaft

In der FR ist die Münchner Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr sehr unzufrieden mit der bisherigen expertokratischen Coronapolitik. Wenn jetzt Einschränkungen aufgehoben werden, dann bitte unter Mitwirkung der von der Regierungskoalition angekündigten Bürgerräte, fordert sie. Diese sollen unbedingt Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie Kulturschaffende einbeziehen, die dann keine Beschlüsse fällen, sondern "unterschiedliche Handlungsoptionen sichtbar und diskutierbar machen. Er hätte dafür unter anderem kenntlich zu machen, welche Interessen sie bedienen, welche Lebensformen sie fördern beziehungsweise belasten, welchem Politikverständnis sie verpflichtet, wie sie - rechtlich, politisch und ökonomisch - zu realisieren und welche gesellschaftlichen Konsequenzen von ihnen zu erwarten sind."

Im Gespräch mit Imre Grimm von rnd.de analysiert der Medienforscher Bernhard Pörksen, warum Verschwörungsdenken für manche so zutiefst befriedigend ist: "Eine solche Denkweise bedient den Narzissmus und im Extremfall eine rohe Märtyrerideologie, weil man doch der Welt, notfalls gegen ihren Willen, zeigen muss, was wirklich gespielt wird. Der Philosoph Hermann Lübbe hat dies einmal erhellend 'die ideologische Selbstermächtigung zur Gewalt' genannt."
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Geschichte

Rosemary Sullivans Buch "The Betrayal of Anne Frank" ist nun erschienen. Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, liest es für die FAZ: "Entgegen dem Versprechen der Autorin bleibt eine endgültige Antwort auf die Frage des Verrats auch nach der Lektüre der knapp vierhundert Seiten noch aus. Aber das Buch ist mehr als ein PR-Coup: Es widmet sich einigen vergessenen Aspekten der NS-Geschichte - und lenkt den Blick auch auf das schwierige Thema der jüdischen Kollaboration und der Verstrickungen von Jüdinnen und Juden in den Nationalsozialismus. Nicht zuletzt wirft die Debatte um das Buch die Frage auf, wer eigentlich bei relevanten Fragen rund um Anne Frank das letzte Wort behält."

Auch die niederländische Autorin Jessica Durlacher hat das Buch gelesen - ein jüdischer Niederländer, Mitglied des Judenrats soll es gewesen sein - und findet nur Effekthascherei statt neuer Erkenntnisse: "Möglichkeiten, Konjunktive, Verdächtigungen - nirgendwo Beweise", klagt sie in der SZ. "Von '85 % Wahrscheinlichkeit' ist die Rede. Dennoch werden auf den letzten Seiten des Buches alle diese Wahrscheinlichkeiten zu handfesten Behauptungen. 'Arnold van den Bergh war ein Mensch, der in ein teuflisches Dilemma geriet', wird auf einmal geschlussfolgert. Welches Dilemma? Offenbar sprechen wir nicht mehr von einer 85-prozentigen Wahrscheinlichkeit. ... Vor Gericht sind 85 Prozent Wahrscheinlichkeit gleichbedeutend mit null Prozent. Vor Gericht gilt dann: Freispruch. Aber mitunter reicht viel Rauch, um an Feuer zu denken. Gut für die, die diese 'Nachricht' immer schon gerne hören wollten."

Herfried Münkler rekapituliert in der NZZ noch einmal die Geschichte des Radikalenerlasses, der für ihn der Beginn der Zersplitterung der deutschen Parteienlandschaft war: "Wäre der Radikalenerlass von 1972 auf die alten Nazis angewandt worden, so hätte schätzungsweise die Hälfte der im öffentlichen Dienst Beschäftigten daraus entfernt werden müssen. Ende der 1960er Jahre hatte sich das politische Klima in Deutschland geändert, und es war absehbar, dass der Erlass vorwiegend Linke und nicht Rechte treffen würde. Dementsprechend wurde er als 'parteiisch' kritisiert, nicht zuletzt auch in der Sozialdemokratie und bei den Liberalen der FDP, also in den die Regierung stellenden Parteien. Schon bald war klar, dass man einer Logik des Administrativen auf den Leim gegangen war und nicht politisch gedacht hatte. Es dauerte sieben Jahre, bis man aus der selbst gestellten Falle wieder herauskam, und genau in dieser Zeit verlor die SPD ihre Fähigkeit zur umfassenden Integration der politischen Linken des Landes."
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