9punkt - Die Debattenrundschau

Biden zieht nicht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.02.2022. Die Olympischen Spiele beginnen: Und in Xinjiang wird nach wie vor gefoltert. Die Spielstätten zerstören Naturschutzgebiete. Die Sportler sind bedrückt. Und Xi Jinping und Wladimir Putin tauschen sich bei der Gelegenheit über den "Umgang mit wichtigen globalen Fragen" aus. Die Medien berichten ausführlich. Die FAZ erzählt, was bei CNN los ist. Und Anne Applebaum versucht in Atlantic zu erklären, warum Putin die Ukraine bedroht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.02.2022 finden Sie hier

Politik

Das IOC hätte die Olympischen Spiele niemals an China geben dürfen, kritisiert Kai Müller, Geschäftsführer der International Campaign for Tibet, in der FR. "Wer im Jahr 2015 'Ja' sagte zu Peking 2022, musste wissen, dass sich alleine in Tibet bis dahin mehr als hundert Menschen aus Protest gegen die Unterdrückung selbst in Brand gesetzt hatten. Bekannt war auch das Schicksal des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, den die Pekinger Führung zu elf Jahren Haft hatte verurteilen lassen, weil er mit mehr als 300 chinesischen Intellektuellen in der 'Charta 08' freie Wahlen und Gewaltenteilung gefordert hatte. Seit Xi Jinpings Machtübernahme 2012 hatte sich die Unterdrückung verschärft und drohte, sich weiter zu verschärfen." Die internationale Politik, Sportverbände und Medien hätten sich "mit einem klaren 'Nein' ... mit den Opfern der KP-Politik solidarisieren und Moral über Profitinteresse obsiegen lassen können. Die Realität ist ernüchternd."

Felx Lee sieht es in der taz genauso: "Was diese Spiele aber vor allem so hässlich macht: Während das olympische Feuer feierlich entzündet wird, hält das Regime in der Provinz Xinjiang wahrscheinlich noch Zehntausende Uiguren in 'Umerziehungslagern' gefangen. Von Zwangsarbeit über Zwangssterilisationen bis hin zu Folterungen berichten Opfer. Einige Länder sprechen bereits von einem kulturellen Genozid, den Chinas Führung an den dortigen Muslimen begeht." Die taz habe sich für einen "publizistischen Boykott entschieden. Mit zwei Berichterstattern in Peking sowie einem Team in Berlin wollen wir die Politik hinter der Show sowie Widersprüche und Interessen aufzeigen, Opfer zu Wort kommen lassen, aber auch Sportler*innen mit ihren Siegen und Niederlagen würdigen."

Es wird ein bedrückendes Spektakel mit bedrückten Statisten, und es dauert zwei Wochen, schreibt Andreas Rüttenauer ebenfalls in der taz: "Sportler, die sich darüber informiert haben, mit welch brutalen Methoden die muslimische Bevölkerung in der Provinz Xinjiang unterdrückt wird, die kein Verständnis dafür haben, dass und mit welchen Methoden die Demokratiebewegung in Hongkong niedergeschlagen wurde, und die sich Sorgen machen, in einem Land Sport zu treiben, das eine Tennisspielerin isoliert, die eine Vergewaltigung durch einen Politbonzen öffentlich gemacht hatte, sie reisen eingeschüchtert ins Olympialand."

Auch sonst sind die Spiele ein absurdes Ereignis, schreibt Christoph Becker in der FAZ: "Xi Jinpings China hat die modernste Bob- und Rodelbahn der Welt in ein Naturschutzgebiet gebaut. Nach den Spielen dürfte sie von der Weltelite links liegen gelassen werden, wie viele andere weiße Elefanten Olympias. Es beschneit Hänge eines ariden Steppengebirges unter Rückgriff auf äußerst knappe Wasserreserven und preist sich als nachhaltigster Gastgeber."

Die Spiele seien zwar unpolitisch, beteuert der deutsche IOC-Chef Thomas Bach, aber China muss sich ja nicht dran halten, berichtet Friederike Böge in der FAZ: "Vor der Eröffnungsfeier am Freitagabend trifft Putin den chinesischen Staatschef zum Mittagessen. Anschließend würden die beiden Staatsführer eine gemeinsame Erklärung abgeben, welche die 'gemeinschaftlichen Ansätze Russlands und Chinas im Umgang mit wichtigen globalen Fragen darlegt', teilte der Kreml mit."

"Vieles stimmt nicht an Olympia, aber die Athleten verdienen unseren Respekt", schreibt dagegen Paul Ingendaay in der FAZ und will sich das Spektakel nciht nehmen lassen: "Und doch gucken wir uns diese Spiele im Fernsehen an, krempeln unseren Tagesablauf um, wenn die verrückten Übertragungszeiten es erfordern, lassen uns mitreißen und manchmal sogar zu Tränen rühren."
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Ideen

Der amerikanische Linguist John McWhorter setzt sich in seinem Buch "Die Erwählten: Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet" mit den schlimmsten Lügen und Selbsttäuschungen der woken Linken auseinander. Dazu gehört für ihn die Überzeugung, wenn man nur in jeder Lage seinen Antirassismus demonstriert, hätte man schon alles wesentliche getan, erklärt er im Interview mit der SZ. Ein Beispiel: "Du sprichst dich dagegen aus, gewalttätige schwarze junge Männer von der Schule zu werfen, weil sie in Armut und ohne Väter aufgewachsen sind. Was aber natürlich passiert, wenn diese Jungs in der Schule bleiben, ist, dass sie andere schwarze Jungs verprügeln, denn solche Dinge kommen ja nicht in einer glücklichen integrierten Schule vor, sondern eher in einer vorwiegend schwarzen öffentlichen Schule. Also schaden die Erwählten schwarzen Kindern, die lernen wollen, aber das ist ja egal, weil sie gezeigt haben, dass sie strukturellen Rassismus erkannt haben."
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Gesellschaft

Schon wieder des Holocausts gedenken? Da rollt nicht nur A. Dirk Moses mit den Augen. Sondern auch Wolfgang Reinhard, der kürzlich in der FAZ feststellte, die Deutschen hätten "pflichtgemäße Erinnerungskultur jüdischer Art überhaupt erst lernen" müssen und jetzt "keine andere Wahl, als die Folgen ihrer Geschichte auszuhalten" (unser Resümee). Für Norbert Frei in der SZ ein Beweis, dass der Antisemitismus auch "in der Mitte der Gesellschaft" steckt. Reinhard stehe ja nicht allein: "Die in den letzten Jahren ermittelten Zahlen der Demoskopen unterscheiden sich nur geringfügig: Etwa ein Fünftel der Erwachsenen in diesem Land sind der Meinung, dass Juden in der Finanzwelt, in Politik und Medien 'zu viel Einfluss' haben, und unter den 18- bis 29-Jährigen glauben das laut der neuesten Studie sogar fast 30 Prozent. Dazu passt, dass zwei Fünftel der Befragten die Meinung von Professor Reinhard teilen, wonach 'die Juden' zu viel vom Holocaust reden. Damit tragen sie, so sollen wir folgern, am Unglück des Antisemitismus selbst die Schuld."

Der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann laboriert an seiner DDR-Herkunft, die ihn im Westen in eine "aporetische Sprecherposition" dränge, wie er in einem in der FAZ abgedruckten Vortrag darlegt: "Zum 'Deutschen' wird man als Ostdeutscher erst im Ausland. Ich habe mehrere Jahre an fünf verschiedenen Orten in den USA gelebt. Niemand ist dort auf die Idee gekommen, ich könnte etwas anderes sein als 'a German' beziehungsweise 'from Germany', selbst dann nicht, wenn die Rede darauf kam, dass ich in der DDR aufgewachsen bin. Hier in Deutschland dagegen scheint das nicht denkbar. Während Westdeutsche offenbar Naturdeutsche sind, sind Ostdeutsche lediglich Kunstdeutsche."
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Europa

Die Ideenlosigkeit und Untätigkeit Europas - und vor allem Deutschlands - in der Ukrainekrise wirft nicht nur ein schlechtes Licht auf eine anvisierte europäische strategische Souveränität, sie lässt auch die Rechten in der EU noch enger zusammenrücken, meint Johanna Roth auf Zeit online: "Anfang der Woche traf sich Morawiecki in Madrid unter anderem mit Marine Le Pen, die Emmanuel Macron besiegen will, und dem ungarischen Premier Viktor Orbán zu einer gemeinsamen Konferenz mit dem Titel Europa verteidigen. Hier zeigt sich die Komplexität der Situation, denn in dieser Runde stehen längst nicht alle Putin so ablehnend gegenüber wie Polen. Ungarn unterhält umfassende Wirtschaftsbeziehungen mit Russland, die so kurz vor der Wahl Anfang April auf keinen Fall leiden sollen. ... Man könnte meinen, dass Orbáns Verhalten in dieser Lage ein solches Treffen mit Morawiecki überschatte, zumal auch Marine Le Pen immer wieder ihre Sympathie zu Putin bekundet hat. Aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Offenbar spielt die Abneigung gegen die EU inzwischen auf einem Level mit der Abneigung gegen Russland."

Anne Applebaum versucht in Atlantic dem "Warum" auf die Spur zu kommen: Warum bedroht Putin ein viel kleineres Land, das keinerlei Aggression gegen Russland ausübt? Für ihre Erklärung greift sie weit aus. Sie beschreibt Putin als einen vom Mauerfall traumatisierten Kleptokraten, der ungeheure Machtfülle besitze und doch schwach sei: "Putin muss eigentlich wissen, dass er ein illegitimer Führer ist. Er hat noch nie eine faire Wahl gewonnen, und er hat noch nie einen Kampf geführt, den er verlieren könnte. Er weiß, dass das politische System, das er mitgestaltet hat, zutiefst ungerecht ist, dass sein Regime das Land nicht nur regiert, sondern es besitzt und wirtschaftliche und außenpolitische Entscheidungen trifft, die den Unternehmen zugute kommen, von denen er und sein enger Kreis persönlich profitieren." Diese Schwäche, so Applebaum, würde offensichtlich, wenn die Ukraine ihren Weg nach Westen erfolgreich ginge - gerade wegen seiner kulturellen Nähe zu Russland.
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Medien

Der Chef von CNN Jeff Zucker ist zurückgetreten, weil er eine einvernehmliche Liebesbeziehung mit einer engen Kollegin hat - wokes Amerika! Aber Majid Sattar erzählt in der FAZ die Hintergründe der Geschichte: Zucker war Kumpel des geschassten Starmoderators Chris Cuomo, der wiederum Bruder des wegen realer sexueller Belästigung gefallenen demokratischen Gouverneurs Andrew Cuomo: Und alle zusammen waren eine Propagandamaschine für die Demokraten gegen Trump. Nun freuen sich Fox und Trump. Und CNN sieht schwach aus: "Ohne Trump im Weißen Haus macht CNN... kaum noch Quote. Biden zieht nicht. Fox News und CNN sind zudem die zentralen Plattformen des großen amerikanischen Kulturkampfes, in dem 'middle America' den Küsteneliten die Deutungshoheit streitig machen will. Gekämpft wird über den Me-Too-Feminismus, strukturellen Rassismus, 'Cancel Culture' und ganz generell über die Meinungsfreiheit."

Außerdem: Russland schmeißt die Deutsche Welle raus, nachdem RT DE in Deutschland als Staatssender keine Lizenz bekommen hat, berichtet Inna Hartwich in der taz. Obwohl auch die Deutsche Welle ein Staatssender ist, ist der russische Schlag keineswegs symmetrisch, heißt es in einem erläuternden Text bei den "Reportern ohne Grenzen": "RT DE kann sich dazu entschließen, eine Sendelizenz in Deutschland zu beantragen, zudem wie bisher eine Webseite betreiben, Videoinhalte produzieren sowie Journalistinnen und Reporter in Deutschland ohne vorherige Akkreditierung beschäftigen. In Russland unterliegen ausländische Korrespondentinnen und Korrespondenten einer generellen Akkreditierungspflicht, wobei solche Genehmigungen häufig intransparent vergeben wurden."
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