9punkt - Die Debattenrundschau

Ein veritables Sahelistan

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.02.2022. Das Recht auf freie Bündniswahl ist existenziell für die osteuropäischen Länder, betont Heinrich August Winkler in der FAZZeit online und taz fordern ein Umdenken der westlichen Länder im Blick auf die Sahelzone. Der Apartheidsvorwurf von Amnesty UK gegen Israel geht so weit, dass Israel eigentlich gar nicht existieren dürfte, schreibt Richard C. Schneider bei Spiegel online. Ebenfalls in der FAZ erklärt Claudia Roth ihre Ziele.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.02.2022 finden Sie hier

Politik

Sehr geduldig analysiert Richard C. Schneider, der ehemalige ARD-Korrespondent in Israel, bei Spiegel online den von Amnesty erhobenen Apartheidsvorwurf (unsere Resümees), der nicht einmal dort zutreffe, wo Israel tatsächlich Menschenrechtsverstöße begehe. "Der entscheidende Vorwurf, den Amnesty erhebt, ist die von Anfang an angebliche aggressive 'Fragmentierung' von Land und Bevölkerung. Zu Ende gedacht, bedeutet das, dass es ganz egal wäre, auf welche Grenzen Israel sich zurückziehen würde. Allein die Tatsache, dass Israel überhaupt existiert, wäre demzufolge eine 'Fragmentierung' Palästinas. Und die könnte nur gelöst werden, indem sich der jüdische Staat komplett auflöst."

In Mali, Guinea und jetzt Burkina Faso haben sich junge Offiziere an die Macht geputscht. Einer von ihnen, Paul-Henri Sandaogo Damiba, hat ein Buch über die Lage in der Sahelzone geschrieben, das Dominic Johnson in der taz bemerkenswert findet. In "Armées ouest-africaines et terrorisme : réponses incertaines?" lege Damiba dar, warum die westlichen Interventionen scheiterten, unter anderem weil lokale Voraussetzungen des Terrorismus gar nicht wahrgenommen würden: "Das Buch sortiert die Terrorgruppen der Sahelzone nach Herkunft ihrer Anführer - 'arabisch', 'Tuareg' oder 'schwarz' - und beschreibt sie als Parallelstaaten mit beträchtlichen Machtmitteln. Boko Haram in Nigeria hat eine eigene Luftabwehr." Johnson fordert ein Ende der westlichen Interventionen und Dialog mit den neuen Machthabern."

Auch Helmut Asche und Christiane Kayser, beide Experten für die Länder der Sahel-Zone, fordern bei Zeit online ein Umdenken: "Rund ein Drittel des Staatsgebiets von Mali und Burkina Faso und weite Landstriche im Niger sind heute nicht mehr unter staatlicher Kontrolle. Das ist mehr als je zuvor. Nun droht der komplette Gürtel politisch wegzubrechen - ein veritables 'Sahelistan'... Wenn westliche Regierungen nun eine schnelle 'Rückkehr zur politischen Normalität' verlangen, kann man nur entgegnen: Welche Normalität denn? Hinter der Forderung der internationalen und regionalen Partnerstaaten nach raschen Wahlen und den üblichen Reformen steht ein Staatsverständnis, das der Lage im zentralen Sahel vollkommen unangemessen ist. Es ist begriffslos."

China hat ein kleines Problem: Bei aller Macht hat es kulturell überhaupt keinen Einfluss. Oder, wie Kai Strittmatter in der SZ erklärt: China ist nicht cool. "Nein, der KP Chinas ist es nicht egal, was die Welt über sie denkt, aber sie ist nicht mehr bereit, dafür etwas an ihrem Tun oder Wesen zu ändern. Soft Power gelingt über Verführung, Peking denkt an Diktat." Das klappt zwar noch nicht, aber das muss es vielleicht auch nicht, "meinte kurz vor meinem Weggang aus China ein Ökonom der Pekinger Eliteuniversität Tsinghua: 'Wir kaufen uns unseren Einfluss einfach. Geld haben wir genug. Schau, wer uns jetzt schon nach dem Mund redet. Und in Zukunft werden wir noch reicher sein.' China setzt für den Moment auf das Charisma von Geschäft, Profit und Stärke. China setzt auf eine Welt voller Thomas Bachs."
Archiv: Politik

Kulturpolitik

In der Welt liefern sich Richard Kämmerlings und Mladen Gladic ein pro und kontra für die großen Buchmessen. Wir brauchen sie, meint Kämmerlings, denn "ohne den Betrieb, jenes feine, unübersichtliche Beziehungsnetz aus Autorinnen, Übersetzerinnen, Jurys, Vermittlerinnen, Kritikerinnen, großen und kleinen Verlagen, gäbe es die Literatur im Kollektivsingular gar nicht, sondern nur einzelne Bücher und Unternehmen. Unter den gegenwärtigen Marktbedingungen zerfiele die Literatur vollends in sich selbst genügende ästhetische Nischen auf der einen und in Publikationsapparate mit ihren ausdifferenzierten Zielgruppen - von Krimilesern bis Ratsuchenden - auf der anderen Seite." Gladic dagegen findet: Bei Buchmessen geht es nie um Literatur, sondern immer nur um den Betrieb, der um sich selbst kreise und dann auch noch regelmäßig mit Rechten konfrontiert werde.

Patrick Bahners und Andreas Kilb führen ein ganzseitiges FAZ-Gespräch mit der Staatsministerin für Kultur Claudia Roth. Über weite Strecken geht es eher um Geld und die Balance von Bund und Ländern. Aber sie benennt auch die Akzente, die sie setzen will: "Wie erweitern wir Erinnerungskultur um den ganzen Bereich der Dekolonialisierung? Wie sieht Erinnerung in einer Gesellschaft aus, durch die der NSU eine Blutspur gelegt hat? Erinnerungskultur ist der eine Schwerpunkt, den ich setzen will. Der zweite betrifft die 'Gesellschaft der Vielen'. Wie drückt sich diese Vielfalt eigentlich in unserer Kultur aus?" Ein dritter Schwerpunkt soll die Klimakrise sein. Zur Frage, ob die Documenta BDS-Positionen stark machen dürfe, sagt sie: "Zunächst einmal geht es auch um Vertrauen in die Documenta und ihre Träger. Ich kann da Anregungen geben, aber ich vertraue zunächst einmal denen, die vor Ort Verantwortung tragen... Antisemitismus geht nicht. Aber wie halten wir Räume aufrecht, in denen Kontroversen ausgetragen werden, die sonst verschüttet wären?"

In der NZZ verteidigt der evangelische Theologe Richard Schröder Kreuz und die Umschrift am Humboldt Forum, die fordert, "dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind." Die Institutionen des Humboldt Forums wollen sich davon mit einer Tafel distanzieren, aber damit machen sie es sich zu leicht, meint Schröder: "Was den 'Alleingültigkeits- und Herrschaftsanspruch des Christentums' anbelangt, den die Institutionen im Humboldt-Forum in der Inschrift erkennen wollen und von dem sie sich distanzieren: Er wird in dieser Erklärung wohl deshalb zurückgewiesen, weil er als Diskriminierung der anderen Religionen angesehen wird. Dagegen müsse gelten: Alle Religionen sind gleichwertig und gleich wertvoll. Das ist sicher gut gemeint, aber nicht durchdacht und schlecht beobachtet. Ein engagierter Religionsangehöriger kann nicht alle Religionen als gleichrangig behandeln. Wenn er sich zu seiner Religion bekennt, bekennt er sich zwangsläufig zur anderen nicht. Man kann bemüht sein, allen Religionen und ihren Vertretern denselben Respekt entgegenzubringen. Man kann aber nicht die Wahrheitsansprüche verschiedener Religionen vereint anerkennen, da sie sich nicht vereinigen lassen."
Archiv: Kulturpolitik

Europa

Wenn Sozialdemokraten sich heute auf Willy Brandts Entspannungspolitik berufen, verkennen sie, dass diese in einem starken westlichen Bündnis verankert war und dass die Kremlherren seinerzeit, anders als Putin heute, am damaligen Status quo interessiert waren, schreibt Heinrich August Winkler auf der Gegenwartsseite der FAZ. "Für die bis 1989/90 kommunistisch regierten Staaten Ostmittel- und Südosteuropas jedoch war und ist das Recht auf freie Bündniswahl, das ihnen die Charta von Paris verbürgt, von geradezu existenzieller Bedeutung. Es bedeutet für sie den endgültigen Abschied von der in Jalta 1945 über die Köpfe der Europäer hinweg verfügten Teilung des alten Kontinents. Hätten die Demokraten des Westens dieses Recht nach 1990 infrage gestellt, hätten sie die friedlichen Revolutionen vom Herbst 1989 um ihren tieferen Sinn gebracht und ihre eigenen Werte verraten."

Das Argument, mit Rücksicht auf die deutsche Geschichte keine Waffen in die Ukraine zu liefern, ist nicht triftig, meint Richard Herzinger in seinem Blog: "Denn wenn es eine Lehre aus der Ausbreitung von Faschismus und Nationalsozialismus mit all ihren vernichtenden Konsequenzen im vergangenen Jahrhundert gibt, dann lautet sie, dass Demokratien bewaffnet und verteidigungsbereit sein müssen, um sich rechtzeitig gegen die Aggression autoritärer und totalitärer Mächte zu Wehr setzen zu können. Und dass es die Pflicht der großen Demokratien ist - wenn sie schon nicht direkt intervenieren -, schwächeren Nationen die militärische Ausstattung zukommen zu lassen, die es ihnen ermöglicht, ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu verteidigen."

Kann Belgien seine kolonialistische Vergangenheit aufarbeiten? In der SZ glaubt Josef Kelnberger fast nicht daran, zu groß seien die Verbrechen, die eine Wahrheitskommission jetzt auf 689 Seiten dargelegt hat: "Die Zahl von zehn Millionen Todesopfern während Leopolds Herrschaft erscheint den Wissenschaftlern durchaus realistisch. Der US-Autor Adam Hochschild hat sie in die Welt gesetzt in seinem Buch 'King Leopold's Ghost', das zum Standardwerk wurde. Die Wahrheitskommission wird auch debattieren müssen, ob der Begriff 'Genozid' anzuwenden sein wird, obwohl es sich nicht um Völkermord im klassischen Sinn handelt. Die Menschen im Kongo starben an Erschöpfung auf der Jagd nach dem Kautschuk. Sie starben an Hunger, weil der Kolonialismus ihre Gemeinschaften zerstörte. Und sie fielen schierem Sadismus zum Opfer, dem belgischen und auch dem einheimischen."
Archiv: Europa

Internet

In der SZ aalt sich Andrian Kreye in der Vorstellung, mit den großen Tech-Konzernen, für deren die Welt ins Unglück stürzenden Erfolg der 1962 geborene Journalist die Boomer verantwortlich macht, könnte es bergab gehen. Grund: Facebook hat laut Handelsblatt erstmals Nutzer und rund 200 Milliarden Dollar (das sind 20 Prozent seines Werts) an der Börse verloren. Für Kreye wäre es das "ein guter Zeitpunkt, sich vom Web 2.0 zu verabschieden. Die Avantgarde der Jugend ist schon vorausgegangen", nämlich zu Minecraft, Fortnite und Tiktok, die er irgendwie weniger "seelenlos" findet.
Archiv: Internet
Stichwörter: Facebook, Tiktok

Ideen

In der taz führt Astrid Kaminski in die Ideen der "Rechte-der-Natur-Bewegung" ein, die Ozeane oder Tiergattungen die Rechtssubjekten machen will. Ein Buch stellt die Ansätze der Bewegung dar. "Die Tatsache, dass in Europa dieses Denk-Wegenetz noch weniger ausgebaut ist als in anderen Kontinenten, hat Gründe. Bei den Panels zur Buchvorstellung erinnerte sich die in Indien aufgewachsene Radha D'Souza: 'Wenn ich als Kind ein Bad nahm, musste ich sämtliche Flussnamen der Region aufsagen.' In nichteuropäisch geprägten Kulturen ist oder war das Verhältnis zwischen Mensch und Natur oft weniger auf Ausbeutung als auf Zusammenleben ausgerichtet. Von daher wurzelt die 'Rights for Nature'-Bewegung in der Emanzipation vom Kolonialismus."

Außerdem: Jürgen Kaube gratuliert Klaus Theweleit in der FAZ zum Achtzigsten.
Archiv: Ideen

Gesellschaft

Rassismus bezieht sich historisch nicht unbedingt auf Hautfarbe, es ist nur die Universalisierung des amerikanischen Musters, die Whoopi Goldbergs Bemerkung, der Holocaust sei ein Verbrechen von Weißen gegen Weiße, verständlich macht, schreibt Kenan Malik im Observer. "1934 berief der nationalsozialistische Justizminister Franz Gürtner eine Sondersitzung ein, um eine juristische Unterscheidung zwischen Ariern und Juden zu formulieren. Sie fanden ihre nützlichste Quelle in Amerika, dessen Rassenkonzepte sie sowohl faszinierten als auch begeisterten. Sie waren fasziniert, weil eine Nation, die auf der Idee der Gleichheit aufgebaut war, dennoch von Gesetzen und Praktiken durchdrungen war, die diese Gleichheit aus rassischen Gründen verweigerten."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Rassismus, Malik, Kenan