9punkt - Die Debattenrundschau

Die Regierung spricht katastrophales Russisch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.02.2022. Auch Tayyip Erdogans Macht hat Grenzen, freut sich Emma: Gegen die Sängerin Sezen Aksu kam er nicht an, und sie besingt das auch noch. Wladimir Putin lässt sich laut taz von seinem Kulturministerium "traditionelle russische Werte" ins Gesetzbuch schreiben. Währenddessen wachsen seine Truppen an der Grenze zur Ukraine auf 150.000 Mann, berichtet die FAZ. Im Perlentaucher erklären Helen Pluckrose und James Lindsay, wie die Postmoderne woke wurde. Die SZ schildert den Kampf der französischen Verlagsgiganten. Und der deutsche Gigant Randomhouse wird nicht an der Leipziger Buchmesse teilnehmen, meldet das Börsenblatt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.02.2022 finden Sie hier

Europa

Tayyip Erdogan ist es gewöhnt, missliebige Personen ins Gefängnis zu stecken oder zu bedrohen. Bei der höchst populären Sängerin Sezen Aksu, der er drohte, ihr wegen einer Liedzeile über Adam die Zunge herauszureißen, gelang ihm das nicht. Sie ist einfach viel populärer als Erdogan! Der machte einen Rückzieher, von dem sie sich aber nicht einlullen lässt, schreibt Ömer Ezeren bei Emma: "Sie antwortete mit einem neuverfassten Liedtext 'Der Jäger'': 'Ich bin die Beute, du bist der Jäger / Drück nur ab / Du kannst mich nicht verstehen / Kannst meine Zunge nicht zerquetschen / Wer ist der Reisende und wer der Herbergswirt / Warte mal ab/ Du kannst mich nicht töten/ Ich habe meine Stimme, mein Musikinstrument, meine Worte / Mit Ich meine ich uns alle.' Will heißen: Wer repräsentiert die Türkei? Du oder ich?"

So kann man auch gut seinen Morgen beginnen:



Putin unterfüttert seine Machtpolitik auch mit einem Kulturkampf, wie schon sein Essay über Großrussland im letzten Jahr zeigte (unser Resümee). Nun legte auch noch das russische Kulturministerium eine Liste mit "traditionellen russischen Werten" vor, berichtet Inna Hartwich in der taz. Diese Werte sollen die Grundlagen staatlicher Politik bilden: "Der Patriotismus und der Dienst am Vaterland finden sich darin genauso wieder wie eine starke Familie, der Vorrang des Spirituellen vor dem Materiellen, der Kult des Kollektivismus wie auch hohe moralische Ideale. 'Fremde Ideen' werden ebenfalls aufgezählt: der Kult des Egoismus, der Kult der Freizügigkeit und der Kult der Unmoral. Bedroht seien die 'russischen Werte' von Terroristen, Extremisten und den USA samt ihren Partnern. Werde der Staat seine 'traditionellen Werte' nicht schützen, sei die russische Staatlichkeit in 'höchster Gefahr', schreibt das Kulturministerium - und schlägt einen Ausweg aus der möglichen Misere vor: die Schaffung neuer Gesetze, die 'Schädliches' bestraften."

Während Olaf Scholz und Emmanuel Macron in den Hauptstädten unterwegs sind, um Lösungen für die von Putin ausgelöste Krise zu finden, massieren sich die russischen Truppen an der ukrainischen Grenze weiter, berichtet Thomas Gutschker in der FAZ. Zur Zeit liege "die Zahl der Bodentruppen nahe der Grenze bei rund 130.000 Mann, wie ein westlicher Geheimdienstler der FAZ sagte; einschließlich Marine und Luftwaffe sind es 150.000. Weitere Einheiten sind auf dem Weg. 'Russland könnte in der Lage sein, bis Ende dieses Monats über genug Kräfte für eine ernste Invasion zu verfügen', sagte der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Admiral Rob Bauer, in Vilnius. Man sehe auch immer mehr 'strategische Ermöglicher' an der Grenze, die für eine Invasion nötig seien."

Barbara Oertel erkundet unterdessen für die taz die Chancen des "Normandie-Formats", das den von Russland eroberten Gebieten in der Ukraine einen Sonderstatus bei gleichzeitiger Zugehörigkeit zur Ukraine geben würde - die Ukraine müsste dafür auf die Perspektive eines Nato-Beitritts verzichten.

Der Osteuropa-Spezialist und Autor eines Buchs über die Ukraine Serhy Yekelchyk kommt in Politico auf Wladimir Putins Essay über die historische Einheit Russlands und der Ukraine zurück und beobachtet, dass sich Putin hier keineswegs auf Sowjetnostalgie stützt. Denn unter den Sowjets war die Ukraine immerhin als eigenständige Republik anerkannt. "Im Gegensatz zu den Sowjets sahen die russischen Zaren die Ukrainer als Teil der russischen Nation an, die lediglich einen 'kleinrussischen Stamm' darstellte, und ihre Sprache als bloßen regionalen Dialekt. Sie glaubten auch, dass der Westen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder versucht hatte, die russisch-ukrainische Einheit zu untergraben. Putin griff diesen Punkt auf und fügte der Liste der westlichen Übeltäter die NATO und die EU hinzu."

Im Gespräch mit Artur Weigandt von der FAZ erläutert der belarussische Rockmusiker und Oppositionelle Ljawon Wolski kulturelle Veränderungen, die untergründig weitergehen, auch wenn niemand mehr auf den Straßen protestiert. So werde die belarussische Sprache immer populärer. Denn "die Regierung spricht katastrophales Russisch! Ich habe den Eindruck, die meisten von ihnen kommen vom Land und haben in der Stadt sehr schnell Russisch gelernt. Sie sprechen kein Belarussisch, weil sie diese Sprache mit Schmutz, Kolchosen und Plumpsklos assoziieren. Dabei hat die Situation im Land sich geändert, Belarussisch ist die Sprache der Kultur."
Archiv: Europa

Ideen

Die "Cynical Theories" von Helen Pluckrose und James Lindsay sind ein überaus nützliches Vademecum für alle, die das Gestrüpp woker Theorien von der Critical Race Theory, über Gender, Postkolonialismus bis zu Fat Studies verstehen wollen. Der Perlentaucher bringt einen kleinen, einleitenden Vorabdruck. Hier erklären Pluckrose und Lindsay auch die Grundprinzipien dieser Theorien der modischen Linken: "Die neuen Theorien, die hauptsächlich Race, Gender und Sexualität thematisierten, waren explizit kritisch, zielorientiert und moralisierend. Die Kernideen der Postmoderne behielten sie jedoch bei: dass Wissen nur ein Konstrukt der Macht ist und dass die Kategorien, mit denen wir Menschen und Phänomene einordnen, im Dienst dieser Macht ersonnen wurden; dass Sprache inhärent gefährlich und unzuverlässig ist; dass die Wissens- beziehungsweise Geltungsansprüche und die Werte aller Kulturen gleichermaßen berechtigt und überhaupt nur im jeweiligen Kontext zu verstehen sind; und dass kollektive Erfahrung jedweder Individualität und Universalität überlegen ist. Als dominierendes Thema der neuen Theorien rückte nun die kulturelle Macht in den Vordergrund."

Israel ist sehr wohl ein Apartheidsstaat, versichert in der FR Michael Benyair, ehemaliger Generalstaatsanwalt in Israel. Und das eben nicht nur in den besetzten Gebieten: "Man kann keine liberale Demokratie sein, wenn man ein anderes Volk der Apartheid unterwirft. Das ist ein Widerspruch an sich, da Israels Gesamtgesellschaft sich an dem bestehenden Unrecht mitschuldig macht. Es ist das israelische Kabinett, das jede illegale Siedlung in den besetzten Gebieten genehmigt. Es war meine Person in der Rolle des Generalstaatsanwalts, die der Enteignung von palästinensischem Privatland zugestimmt hat, um Infrastruktur wie Straßen zu bauen, die eine Siedlungsexpansion verfestigt haben. Es sind die israelischen Gerichte, die diskriminierende Gesetze bestätigen. Und israelische Steuerzahler finanzieren den Regierungseinsatz von Kontrolle und Dominanz in den (besetzten) Gebieten. Es ist Israel, das zwischen Jordan und Mittelmeer Millionen Palästinensern zivile und politische Rechte vorenthält. Das ist israelische Apartheid." Benyair plädiert für eine Zweistaatenlösung.

Außerdem: In der FAZ erinnert Thomas Karlauf zu dessen 150. Geburtstag an den Philosophen und Publizisten Theodor Lessing - und empfiehlt seine neu erscheinenden "wunderbaren " und "für die Kenntnis der Boheme um 1900 unentbehrlichen Lebenserinnerungen".
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Internet

Mark Zuckerbergs Unternehmen Meta droht, seine Dienste Facebook und Instagram wegen neuer datenschutzrechtlicher Bestimmungen in Europa, die den Transfer von Nutzerdaten nach Amerika nicht mehr so ohne weiteres erlauben, in Europa einzustellen, berichtet Friedhelm Greis bei golem.de: "Sollte Meta seine Dienste Facebook und Instagram in Europa einstellen, wäre das ein schwerer Schlag für das Unternehmen. Erst in der vergangenen Woche war der Börsenkurs um mehr als ein Viertel eingebrochen, nachdem das Unternehmen einen leichten Rückgang bei den Nutzerzahlen vermeldet hatte. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass Meta tatsächlich diesen Weg gehen wird." Auf Zeit online ruft Eike Kühl zum Abschied: "Dann geh doch!"
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Kulturmarkt

In Frankreich will Vivendi die zweitgrößte Verlagsgruppe des Landes, Hachette, übernehmen. "Das eingespielte Kräfteverhältnis zwischen zwei großen und drei mittelgroßen Verlagsimperien im Land wäre dahin. Es blieben ein Riese und ein paar halbwüchsige Zwerge", erklärt Joseph Hanimann in der SZ. Ähnliche Befürchtungen hat auch Antoine Gallimard, Chef der drittgrößten französischen Verlagsgruppe Madrigall: "Die Marktdominanz eines Einzigen zerstöre die Dynamik des Wettbewerbs, erklärt er und befürchtet, dass der künftige Koloss seine internationale Entwicklungsstrategie zulasten des französischen Buchmarkts betreiben werde. Überdies beunruhigt den Gallimard-Chef auch, dass der neue Großkonzern den kompletten Zyklus von Verlags- und Vertriebsbereich, über die Medien, bis zur Werbeagentur Havas in seiner Hand hätte." Es ist aber noch längst nicht ausgemacht, ob Brüssel dem zustimmen wird. Vivendi gehört überdies in großen Teilen dem fundamentalistischen Katholiken Vincent Bolloré, einem der Hauptfinanziers des rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Eric Zemmour (unser Resümee).

Die Penguin Random House Verlagsgruppe hat erklärt, dass sie nicht mit einem Stand an der Leipziger Buchmesse teilnehmen will, meldet das Börsenblatt. Der Verlag bedaure sehr, aber bei Randomhouse gelte nach wie vor die Home-Office-Pflicht und man wolle den Mitarbeitern die Messe nicht zumuten."Zugleich habe man die Messeleitung gebeten, der Verlagsgruppe in diesem Jahr dennoch eine Teilnahme an 'Leipzig liest' zu ermöglichen, 'diesem großartigen Lesefest'."
Archiv: Kulturmarkt

Medien

Nach Vorwürfen des Antisemitismus gegen einige arabische Mitarbeiter und Partnersender der Deutschen Welle, hat Intendant Peter Limbourg eine Untersuchung durch die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und die Islamismus-Experten Ahmad und Beatrice Mansour beauftragt, die nun vorliegt und die Michael Hanfeld für die FAZ liest. Die Zustände seien eher noch schlimmer als ursprünglich angenommen. "In der Middle-East-Redaktion, so die Untersuchung, herrsche ein angespanntes Klima und Misstrauen gegenüber der Redaktionsleitung. Manche hätten Angst, sich frei zu äußern. 'Viele kritische Stimmen in der arabischen Redaktion', die sehr wohl in der Lage seien, 'Antisemitismus zu erkennen und die Werte der DW zu vertreten, sind mit dem derzeitigen Zustand unzufrieden und fühlen sich von Verantwortlichen der DW allein gelassen'. Die Redaktion sei 'tief gespalten', die Rekrutierung sei intransparent, es bedürfe eines grundlegenden Neuanfangs."

Der Sender hat sich von fünf Mitarbeitern getrennt, mehr in der Jüdischen Allgemeinen. Immerhin liegt laut Bericht aber "kein struktureller Antisemitismus" vor, schreibt Joachim Huber im Tagesspiegel erleichtert: "In dem Untersuchungsbericht wird deutlich, dass die betroffenen Mitarbeiter ihre inkriminierten Äußerungen nicht in den DW-Programmen gemacht, sondern auf ihren privaten Social-Media-Accounts platziert haben. Sie waren Ausgangspunkt für die rund dreißig Gespräche, die Leutheusser-Schnarrenberger und Mansour seit Dezember geführt hatten. Namen wurden keine genannt, trotzdem zeigte sich die Kommission überrascht davon, welch eindeutiger Antisemitismus Haltung und Einstellung Einzelner prägt."
Archiv: Medien