9punkt - Die Debattenrundschau

Keine amerikanische Schule mehr in der Schweiz!

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.02.2022. Die Kriegsangst wächst. 35 Staaten haben ihre Bürger mittlerweile aufgerufen, die Ukraine zu verlassen, Konsulate werden in den Westen des Landes verlegt, berichtet die taz. Szczepan Twardoch ruft in der FAS auf, "uns das Unvorstellbare vorzustellen". Peter Pomerantsev kritisiert bei Zeit online deutsche Realitätsverweigerung. Pascal Bruckner zählt in der NZZ all die Menschen auf, die in Frankreich wegen islamistischer Morddrohungen unter Polizeischutz stehen. Oliver Zille von der Leipziger Buchmesse erklärt im Börsenblatt, warum er weiter an die Zukunft der Messe glaubt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.02.2022 finden Sie hier

Europa

Die Kriegsangst wächst in der Ukraine, berichtet Bernhard Clasen für die taz aus der Ukraine. Und sie wächst nicht nur dort: "35 Staaten haben mittlerweile ihre Bürger:innen aufgerufen, die Ukraine zu verlassen, da sie einen militärischen Konflikt befürchten. Dazu gehörten Australien, Großbritannien, Lettland, Kanada, Griechenland, Neuseeland, die Niederlande, Norwegen, Finnland, Südkorea, Japan, Belgien, Deutschland, Litauen, Kuwait und der Irak. Deutschland hat sein Konsulat von der ostukrainischen Stadt Dnipro nach Lwiw verlegt, auch das US-Konsulat ist bereits nach Lwiw umgezogen, wo es allerdings nur sehr eingeschränkte Leistungen anbietet." Mehr hier.

In Belarus ist die Angst fast genau so groß, schreibt Janka Belarus ebenfalls in der taz aus Minsk: "Am 4. Februar hatte Lukaschenko dem russischen Journalisten Wladimir Sowoljow, einem der einflussreichsten Vertreter der Kreml-treuen Medienwelt, auf dessen Youtube-Kanal 'Sowoljow Live' ein Interview gegeben. Thema: Die Schaffung eines Gegengewichtes zum 'kollektiven Westen' und der Nato, die die belarussisch-russischen Beziehungen zerstören wollen. An die Ukraine gewandt, deren Präsidenten Wolodimir Selenski er als kopflos bezeichnete, sagte Lukaschenko: 'Ihr wärt verrückt, euch mit Russland anzulegen. Und wir werden nicht an eurer Seite stehen. Minsk wird sich genauso verhalten wie Moskau.'"

In Russland sind die Bürger nicht beunruhigt, schreibt dagegen Inna Hartwich im taz-Dossier. Dennoch: "Der Begriff 'Krieg' ist alltäglich geworden im TV. Und der Krieg wird nach und nach zum notwendigen Übel erklärt."

Die FAS befragte am Wochenende mehrere Autoren aus osteuropäischen Ländern. Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch schreibt: "Wir wissen nicht, wo die russischen Panzer anhalten werden, sobald sie sich einmal in Bewegung gesetzt haben. In Mariupol? In Kiew? In Lemberg? In Przemyśl? An der Oder? In Berlin? Weiter westlich? Ist es nicht an der Zeit, dass wir uns das Unvorstellbare vorstellen, um unserer selbst willen?"

Auf Zeit online fragt sich der ukrainisch-britische Autor Peter Pomerantsev, warum die Haltung der Deutschen, die sich so vorbildlich ihrer Vergangenheit gestellt hätten, gegenüber Russland so zwiespältig ist: "Politische Strategien scheitern manchmal, das ist unvermeidlich. Vor allem, wenn man es mit Russland zu tun hat. Weit beunruhigender ist aber, dass der deutsche Diskurs über Russland und die Ukraine mit postfaktischen Unwahrheiten Trumpschen Ausmaßes durchsetzt ist, einer Realitätsverweigerung sowohl in Bezug auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart, die zu lauter Selbstwidersprüchen führt. Deutschland beansprucht, für den Frieden zu sein - und ermutigt gleichzeitig zur Invasion. Es spricht sich dafür aus, historische Fehler wiedergutzumachen - und leugnet gleichzeitig historische Tatsachen. Es glaubt, es garantiere Sicherheit - und gibt in Wirklichkeit die Freiheit auf." Sind wirklich Schuldgefühle aus dem Zweiten Weltkrieg der Grund, rätselt er. Dann übersähen die Deutschen, "dass Hitlers Ziel immer die Besetzung und Versklavung des 'Brotkorbs' Ukraine und nicht Russlands war und dass die menschlichen Opfer in der Ukraine ähnlich grauenhaft waren wie jene in Russland. Es ist, als sei der heutige deutsche Diskurs historisch farbenblind: Er kann nur Schwarz und Weiß sehen, Deutschland und Russland, die bunten Farben der Ukraine hingegen werden darin ausgelöscht."

Richard Herzinger nimmt in seinem Blog die wenig anheimelnde politische Achse Moskau-Peking in den Blick, die kurz vor den den Olympischen Spielen demonstrativ gefestigt wurde: "Gut möglich, dass beide Autokraten sogar ihre aktuellen Aggressionspläne koordinieren werden: die Eroberung Taiwans durch China und die Wiedereinverleibung der Ukraine in den russischen Machtbereich durch den Kreml. Wissen sie doch, dass gleichzeitig durchgeführte oder zeitlich aufeinander abgestimmte kriegerische Akte beider Mächte den Westen vor verdoppelte Probleme stellen würden, darauf adäquat zu reagieren."

Sergej Lawrow hat neulich seine britische Kollegin Liz Truss in einer Pressekonferenz nach einem fruchtlosen Gespräch bloßgestellt. Anne Applebaum malt sich in Atlantic die Antwort aus, die sie Lawrow gegeben hätte. Truss, findet Applebaum "hätte eine kleine persönliche Beleidigung im Stil von Lawrow hinzufügen und laut fragen können, ob Lawrows offizielles Gehalt tatsächlich ausreicht, die verschwenderischen Immobilien zu bezahlen, die seine Familie in London nutzt. Sie hätte die Namen der vielen anderen russischen Staatsbediensteten aufzählen können, die ihre Kinder auf Schulen in Paris oder Lugano schicken. Sie hätte verkünden können, dass diese Kinder nun allesamt auf dem Weg nach Hause sind, zusammen mit ihren Eltern: Keine amerikanische Schule mehr in der Schweiz!"

In Frankreich stehen die Fernsehmoderatorin Ophélie Meunier und der Jurist Amine Elbahi nach Morddrohungen unter Polizeischutz, nachdem sie in einer Reportage für den französischen Fernsehsender M6 den radikalen Islam in Roubaix kritisiert hatten. "Man sollte in diesem Zusammenhang vielleicht darin erinnern, dass in Frankreich rund dreißig Personen aus ähnlichen Gründen wie Ophélie Meunier und Amine Elbahi unter Polizeischutz stehen", schreibt der Philosoph Pascal Bruckner in der NZZ. Zum Beispiel der Journalist Mohamed Sifaoui, die Journalistin Zineb El Rhazoui, der Imam Hassen Chalghoumi, Journalisten und Anwälte von Charlie Hebdo oder "Mila, eine junge lesbische Gymnasiastin, die beschuldigt wird, den Propheten beleidigt zu haben". Die neue Linke schweigt, oder stellt sich auf die Seite der Islamisten, so Bruckner. "Und noch etwas anderes machen die Vorfälle rund um Roubaix einmal mehr deutlich: Meinungsverschiedenheiten werden heute nicht mehr in öffentlichen Debatten oder vor einem Gericht ausgetragen. Sie werden durch Ermordung 'geregelt'. Die geringste Kritik an der islamischen Religion kann inzwischen auf diese Weise vergolten werden. Wir kennen diese Form der 'Justiz' vom Attentat auf Charlie Hebdo - sie passiert hier und heute, auf französischem Boden, im 21. Jahrhundert."

Wirklich souverän ist nur Gott, alle anderen müssen sich an die Gesetze halten, selbst nationale Regierungen erinnert der Politikwissenschaftler Felix Heidenreich in der NZZ die polnische Regierung, die sich mit dem Beharren auf ihre "Souveränität" gegen Vorgaben der EU wehrt. "Man muss nicht bis zu Ludwig XIV. und Jean Bodin zurückgehen, um zu sehen, dass der Begriff der Souveränität aus der Zeit gefallen ist. ... Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki warnte in der Financial Times die EU davor, einen 'dritten Weltkrieg' zu beginnen. Würde die EU die in Aussicht gestellten Gelder nicht auszahlen, werde man sich mit 'allen Mitteln' wehren. Bestünde wahre Souveränität nicht darin, auf das Geld aus Brüssel zu verzichten? Ganz offenbar hört dort der Anspruch auf Eigenständigkeit dann doch auf. Die EU-Mitgliedschaft stößt in Polen auf eine überwältigende Zustimmung. Ein Polexit scheint da wie eine absurde Schimäre."
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Geschichte

Der Historiker Benedikt Stuchtey versucht in der FAZ zu erklären, wie komplex die britisch-irischen Beziehungen nach wie vor sind. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Irland auch mit dem Empire tief verflochten war: "Wurde Irland im langen 19. Jahrhundert die Eigenregierung verwehrt, hinderte dies zum Beispiel irische Soldaten und Missionare, Administratoren, Lehrer und Siedler nicht daran, an der Expansion und Festigung des Weltreichs zielstrebig mitzuwirken. Sieben von acht indischen Provinzen wurden in den 1890er-Jahren von Iren verwaltet, das Kommando über die indische Armee lag größtenteils in irischer Hand. An ihrer Spitze befand sich der niedere protestantische Adel, der gesellschaftliche Aufstiegschancen im Empire suchte, die er zu Hause nicht mehr hatte."
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Stichwörter: Irland, Brexit

Gesellschaft

Der Politik- und Religionswissenschaftler Monty Ott, der laut taz auch in dem jüdisch-aktivistischen Medienprojekt "Laumer Lounge" engagiert ist, plädiert doch sehr für eine Umbenennung von Straßennamen, denn "was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn Personen wie Richard Wagner und Martin Luther für ihr Werk gewürdigt werden, ohne dass die Kritik an ihren antidemokratischen und menschenverachtenden Aussagen Raum findet? Was sagt diese Symbolhaftigkeit über den Umgang mit Ideologien wie Antisemitismus, Rassismus oder Geschichtsrevisionismus in einer demokratischen Gesellschaft aus, die sich doch so sehr dafür rühmt, ihre Geschichte wie keine andere aufgearbeitet zu haben?"
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Kulturmarkt

Der langjährige Direktor der Leipziger Buchmesse, Oliver Zille, will an die Zukunft der Veranstaltung glauben. In die Kritik an den Konzernverlagen, die die Messe nie gemocht hätten, will er im Gespräch mit Torsten Casimir vom Börsenblatt nicht einstimmen. "Eins will ich festhalten: Dass sich jetzt die Konzernverlage mit einem klaren Bekenntnis zur Leipziger Buchmesse zu Wort melden, ist für mich zunächst einmal kein schlechtes Zeichen. Wir nehmen das beim Wort. Und es zeigt doch: Die Absagen hatten in allererster Linie mit der Pandemie zu tun."
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Ideen

Abbau von Vorurteilen und Förderung von Minderheiten ist immer gut. Aber an Universitäten sollte Diversität nicht zum Selbstzweck werden, und den Leistungsgedanken sollte man auch nicht begraben, meint der Historiker Ronald G. Asch in der Welt. "Weitere bedenkliche Entwicklungen zeichnen sich ab. Hat man erst einmal eine regelrechte Diversity-Industrie aufgebaut, einen Stab von Mitarbeitern und Agenturen, die davon leben, dass sie als Diversitäts-Manager auftreten oder die entsprechende Weltanschauung pädagogisch vermitteln, gewinnt das Ganze eine immer stärkere Eigendynamik, es wird zum Selbstläufer. Der nächste logische Schritt ist die Forderung, dass Lehrpläne an Schulen, aber eben auch Kurse und Module an den Universitäten den Bedürfnissen einer Vielzahl von Minderheiten gerecht werden müssen. Das freilich ist in einer immer heterogener werdenden multikulturellen Gesellschaft kaum umsetzbar und würde am Ende nur darauf hinauslaufen, die Bedürfnisse der größten oder einfach nur lautesten Minderheiten zu bedienen, während die anderen vernachlässigt werden. Außerdem läuft man Gefahr, durch ein solches Bildungsprogramm die Tribalisierung der Gesellschaft, die sich ohnehin schon abzeichnet, noch weiter zu fördern."
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel fordert Carola Lentz, Ethnologin und neue Präsidentin des Goethe-Instituts, mehr Gespräche der verschiedenen Gemeinschaften über die koloniale Vergangenheit. Wobei die Deutschen besser schweigen sollten, wie beim "Burden of Memory"-Projekt 2019, als über einhundert Künstlerinnen und Intellektuelle aus sechs Ländern über das koloniale Erbe der Deutschen diskutierten: "Dieser Ansatz ermöglichte für alle Beteiligten fruchtbare und teilweise überraschende Erkenntnisse - etwa wie unterschiedlich des Genozids in Namibia und des Maji-Maji-Kriegs in Tansania gedacht wird. Oder wie verschieden das deutsche Kolonialregime in Togo und in Kamerun erinnert wird. Solche Gespräche über unterschiedliche afrikanische Perspektiven auf die koloniale Vergangenheit können die künftige Erinnerungspolitik in Afrika verändern, aber auch den Austausch mit den europäischen Erinnerungsakteuren bereichern." Aber auch eine gemeinsame europäische Erinnerungspolitik sei nötig, meint sie.
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