9punkt - Die Debattenrundschau

Seither verschlechterte sich das Verhältnis

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.02.2022. In der SZ findet Ingo Schulze den russischen Standpunkt in der Krise nicht so abwegig: Der Mauerfall sei so schnell gegangen, und schon hätte sich die Welt neu geordnet. In der Welt sieht der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch die Verantwortung für den Konflikt dagegen in Russland. Der Zeitungsverlegerverband droht sich laut FAZ.Net zu spalten, weil er nun doch nicht über eine Zukunft ohne Mathias Döpfner sprach. Hitler hasste den Kapitalismus mehr als den Bolschewismus, behauptet Brendan Simms in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.02.2022 finden Sie hier

Europa

Gestern dominierte Kriegsangst die Zeitungen, heute ist es Spekulation. "Die von den Mobilmachungen ausgelöste hektische Atmosphäre und die wiederholten Äußerungen über Sicherheitsbedenken gegenüber dem Westen könnten Putin bereits erhebliche Vorteile gebracht haben", vermuten Max Seddon und Victor Mallet in der Financial Times (Link hier). Bei Spiegel online fragt Rolan Nelles, ob Wladimir Putin und Joe Biden vielleicht einen Plan schmieden, die Ukraine auch offiziell aus der Nato rauszuhalten, um Putin zufriedenzustellen.

Der Schriftsteller Ingo Schulze weiß auch nicht, was genau an der ukrainischen Grenze vor sich geht, aber misstrauisch gegenüber den Kriegswarnungen der Amerikaner ist er schon, zumal der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij keine akute Kriegsgefahr sieht. Und überhaupt, schreibt Schulz in der SZ: "Wann hat der Schlamassel begonnen? Man müsste bis 1990 zurückgehen, die Auflösung des einen Militärbündnisses und das Erstarken des anderen. Eben noch gehörten wir Ostdeutschen zum Warschauer Vertrag, plötzlich waren wir Mitglied der Nato. Es ging so schnell, dass es nicht mal eine öffentliche Diskussion darüber gab. 2008 ermutigte Bush junior Georgien und die Ukraine, den Antrag auf Mitgliedschaft in der Nato zu stellen. Seither verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen kontinuierlich."

In der Welt sieht der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch die Verantwortung für den Konflikt dagegen in Russland: "Diesen schwelenden Krieg gibt es seit 2014. Also ist nicht die Frage entscheidend, ob dies überhaupt ein Krieg sei, sondern in welche Richtung sich dieser Krieg entwickeln wird. ... Ich glaube, dass Putin sehr überrascht ist über die Einigkeit zwischen Europa und der Transatlantischen Allianz. Zudem bin ich zutiefst davon überzeugt, dass Russland viel schwächer ist, als es den Anschein hat. Es spielt in einer zu hohen Liga. Wir als Europa und Nato müssen sowohl moralisch wie politisch bereit zum Krieg sein, um Chamberlains Fehler von München zu vermeiden. Bereit zum Krieg zu sein könnte uns vor den Schrecken eines militärischen Konfliktes bewahren. Die moralische Unfähigkeit zu kämpfen hingegen bringt uns Krieg."

Die Einstufung der AfD als rechtsextremer Verdachtsfall durch den Verfassungsschutz steht bevor - am 8. und 9. März wird dazu vor dem Kölner Verwaltungsgericht verhandelt, berichtet Gareth Joswig in der taz. Da nützt es auch nichts, dass sich die Partei eilends von ein paar Gruppen wie etwa den "Freien Sachsen" distanziert: "Die von bekannten Neonazi-Kadern angeführte und vor allem in Sachsen sehr präsente Organisation weist in ihrem Unterstützerumfeld eine nicht gerade kleine Schnittmenge mit der AfD auf. Vor allem mit Fokus auf Sachsen haben die Freien Sachsen in den vergangenen Monaten gegen Coronamaßnahmen mobilisiert - gleichzeitig dabei versucht, den häufig zu Gewalt eskalierten Protest als Vehikel für eine extrem rechte Umsturz-Agenda zu nutzen."
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Medien

Also, über den Vorsitzenden Mathias Döpfner wurde gestern beim Zeitungsverlegerverband BDZV nun doch nicht gesprochen, meldet Michael Hanfeld im FAZ.Net. Dafür wurde aber in einem Zukunfstreffen des Verbands an die Bundesregierung appelliert, "die flächendeckende Zustellung der Zeitungen als eine Aufgabe zur Sicherung der Demokratie und der gesellschaftlichen Teilhabe zu verstehen und zu unterstützen". Die Funke Mediengruppe hatte allerdings eine Aussprache über Döpfner gefordert. Sie fand nicht statt, so Hanfeld, und "Bei der Funke Mediengruppe kam das denkbar schlecht an. Sie habe, heißt es aus der Versammlung, aufscheinen lassen, dass man über den Verbleib im BDZV durchaus nachdenke". Mehr dazu bei turi2.

Die Schweizer haben sich in einem Referendum gegen eine staatliche Medienförderung ausgesprochen, zurecht, findet Jürg Altwegg in der FAZ: "Die lautstarken Angriffe auf die ''Medienmilliardäre', die sich an Steuergeldern bereicherten, waren ebenso befremdlich wie die journalistische Begleitung der Abstimmung durch die Redaktionen: Die Millionen des Staates wurden als Garantie gegen Fake News und für die rechtzeitige Frühzustellung der gedruckten Zeitung beworben - letztlich als Preis für die Rettung der Demokratie."
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Geschichte

Die taz bringt die Grabrede Götz Alys auf die bekannte 68erin Dagmar von Doetinchem, die erste Frau von Klaus Hartung, die Aly in der "Roten Hilfe" kennengelernt hatte. Er schildert ihren gemeinsamen Weg aus der Verehrung der Antisemiten Horst Mahler und Ulrike Meinhof zur Aufarbeitung der Geschichte. Doetinchem hat ein wichtiges Buch über die Geschichte des Jüdischen Krankenhauses in Berlin geschrieben, das 1989 feierlich präsentiert wurde: "Als Dagmar zum Podium schritt, verhaspelte sich die sonst so selbstbewusst Auftretende, verlor den Faden und fand kein Ende. Aber es wäre falsch zu sagen, sie hätte eine schlechte Rede gehalten. Sie zeigte die tiefe, damals weit verbreitete Unsicherheit. Wir 68er hatten zu mehr als 90 Prozent Väter, die Soldaten der Wehrmacht gewesen waren. Etwa 30 Prozent waren Mitglieder der NSDAP, deutlich mehr hatten dem Führer zugejubelt. Dagmars Stimme versagte immer wieder vor so vielen ihr freundlich und offenherzig zugewandten Juden, die überlebt hatten und nun - dank ihrer Recherchen - nach Berlin gereist waren."

Hitler war sicher kein Sozialist im eigentlichen Sinne, aber er sah sich selbst als solchen und er hasste den Kapitalismus mehr als den Bolschewismus, meint der irische Historiker Brendan Simms im Interview mit der NZZ. "Hitlers Hauptaugenmerk lag auf dem, was er selbst 'Plutokratie' nannte. Diese assoziierte er mit dem sogenannten Weltjudentum, aber auch mit den angelsächsischen Mächten, die er im Vergleich mit der Sowjetunion für deutlich stärker und gefährlicher hielt. Natürlich hatte er auch Angst vor dem Bolschewismus, doch spielte diese eine untergeordnete Rolle. Den Bolschewismus sah er als eines der Instrumente des internationalen Kapitals, um Deutschland und andere Länder willenlos zu machen." Auch Hitlers Politik nach 1933 sei nicht "wirklich sozialistisch" gewesen, "aber sie enthielt sozialistische Elemente, etwa die Einführung neuer Steuern sowie einen Ausbau des Wohlfahrtsstaats und der Arbeitnehmerrechte. Hitler machte einen Unterschied zwischen dem internationalen Kapitalismus und dem, was er den nationalen Kapitalismus nannte, wenn man so will zwischen Wall Street und Krupp. Den nationalen Kapitalismus akzeptierte er. Sozialismus bedeutete für ihn, dass die Unternehmer in erster Linie für die Nation arbeiten müssten und nicht für ihren Profit."

Meron Mendel hatte über Rosemary Sullivans Buch "The Betrayal of Anne Frank", das inzwischen weithin kritisiert wird, in der FAZ zunächst abwartend positiv geschrieben (unser Resümee). Heute betont er im Gespräch Hardy Funk im BR, dass die These von der Schuld eines zum Judenrat gehörenden Notars nicht ausreichend belegt ist. Aber er kritisiert auch die Aufregung um das Buch: "Es werden jährlich sehr viele schlecht recherchierte Bücher publiziert und das verschwindet im Meer der vielen Publikationen, die ständig herausgegeben werden. Wenn man allerdings mit so einer Vehemenz reagiert und gleich von einem 'Antisemitismus-Booster' spricht - wie zuletzt Yves Kugelmann von dem Anne Frank Fonds - und mit so einer Hysterie auf so ein Buch reagiert, dann kann der Eindruck entstehen, als ob es in der Geschichtsforschung Tabus gäbe, als ob es Sprechverbote gäbe. Das ist der Nährboden von Verschwörungstheorien: Wenn man nur den Verdacht ausspricht, dass der Verräter ein jüdischer Notar sei, gehen alle auf die Palme und warnen davor, dass hier Antisemitismus verbreitet wird, dann kann man paradoxerweise genau diesen Effekt erzielen."

Andreas Schlüter erzählt in der FAZ die Geschichte des Kaufhauses am Berliner Hermannplatz, lange ein Karstadt, nun wohl ein Immobilienprojekt, das zu einer ähnlichen (von den Zeitungen kaum thematisierten) Verhunzung wie beim KaDeWe führen könnte. Anders als das KaDeWe, so Schlüter, "war dieses Kaufhaus inmitten der Kreuzberger und Neuköllner Kieze immer auch ein Kaufhaus der kleinen Leute. Das ist bis heute noch so, und diese alltägliche Normalität, gerne auch etwas berlinerisch robust, ist durchaus sympathisch. Die Auswahl an künstlichen Blumen ist bemerkenswert und die Existenz einer Zoo-Abteilung fast schon unglaublich. Unberührt von jeder Pandemie, ziehen hier die Schleierkampffische ihre Runden, die blauen Exemplare zum Preis von 14,90 Euro und die roten für 7,90 Euro."
Archiv: Geschichte

Gesellschaft

Im Guardian hofft die somalische Aktivistin Waris Dirie, dass die Beschneidung von Mädchen zu ihren Lebzeiten abgeschafft wird. Ihre Stiftung "Desert Flower Foundation" trägt ihren Teil dazu bei: "Als wir anfingen, hatten nur wenige afrikanische Länder ein Gesetz gegen FGM, heute haben nur vier afrikanische Länder kein Gesetz dagegen. Bei den jungen Menschen in Afrika findet ein Umdenken statt. Aus meinen Gesprächen, vor allem mit jungen Müttern und Vätern, weiß ich, dass sich immer mehr von FGM lossagen. Das stimmt mich optimistisch, dass die Praxis noch zu meinen Lebzeiten beendet werden kann, denn das ist mein Ziel. ... Das Erschreckende ist, dass FGM auch in Europa vorkommt, wo die Raten rapide steigen. Großbritannien und Frankreich weisen die höchsten Zahlen auf. Die Politiker in Europa müssen das FGM-Problem viel ernster nehmen. Ich habe eine Reihe von Forderungen, die den Gesetzgebern helfen sollen, die Geißel der Genitalverstümmelung zu bekämpfen: Ich fordere, dass die Behörden regelmäßige Gesundheitschecks bei allen Mädchen durchführen, die von FGM bedroht sind. Ich fordere, dass die Gesundheitsbehörden melden, wenn sie FGM bei Mädchen und Frauen feststellen. Ich fordere Aufklärung für alle Migrantinnen, verpflichtende Aufklärungsarbeit durch Asyl- und Sozialberaterinnen sowie harte Strafen für diejenigen, die ihre Töchter für FGM ins Ausland bringen. Ich fordere, dass die internationale Gemeinschaft FGM als Asylgrund anerkennt."

Wer über Muslimfeindlichkeit in Deutschland redet, muss auch über islamische Frauenfeindlichkeit reden, fordert Rebecca Schönenbach vom Verein Frauen für Freiheit, in der Welt angesichts der Pläne von Bundesinnenministerin Nancy Faese, die Deutsche Islamkonferenz wiederzubeleben und das Thema Muslimfeindlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen: "'Diese [vermeintliche] Freiheit der Frauen ist die Wurzel von Unheil und Unruhe.' So beginnt eine Ausführung des amtierenden fünften Kalifen der Ahmadiyya, veröffentlicht durch die Frauenorganisation der Gemeinschaft. Die Ahmadiyya ist in Hessen und Hamburg den Kirchen gleichgestellt und wird oft für eine liberale Auslegung des Islam gepriesen. Das Bundesinnenministerium unterstützt die Gemeinden über das Projekt 'Moscheen für Integration'", so Schönenbach, die an die Ermordung von Ahmadi Lareeb Khan durch ihre Eltern 2015 erinnert. Bevor die nächste DIK sich also mit dem Thema Muslimfeindlichkeit beschäftigt, "sollten die Teilnehmer auf islamistische Frauenfeindlichkeit gegenüber Musliminnen überprüft werden. Sie ist die derzeit am weitesten verbreitete Art der Muslimfeindlichkeit."

In der taz erzählt die Kreuzberger Gleichstellungsbeauftragte Petra Koch-Knöbel im Gespräch mit Plutonia Plarre vom Kampf gegen Zwangsverheiratungen in ihrem Bezirk, der auch dank stärkerer Vernetzung immer erfolgreicher sei.
Archiv: Gesellschaft