9punkt - Die Debattenrundschau

Angst vor der Demokratie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.02.2022. Alexej Nawalny drohen weitere 15 Jahre Gefängnis - die FAZ berichtet über die Prozess-Farce. Die französische Politik gibt Eric Zemmour nicht genug Contra, aber die Historiker tun es, berichtet die SZ. Emphatisch verteidigt Susan Neiman im Freitag die Aufklärung gegen die Kritik, ihr Universalismus sei nur eine Maskerade, die der Unterwerfung der Welt dient. Rassismus hat nichts mit schwarz und weiß zu tun, schreibt Ilija Trojanow in der taz. Und in der NZZ zeichnet Sergei Lebedew ein Psychogramm der Russen und ihrer Anführer: Corona gibt Aufschluss.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.02.2022 finden Sie hier

Europa

Alexej Nawalny drohen 15 weitere Jahre Gefängnis. Die Prozess-Farce findet zur Zeit in der Strafkolonie Nawalnys statt, berichtet Friedrich Schmidt in der FAZ. Einer seiner "drei Anwälte wurde am Dienstag nicht in den Strafkoloniefestsaal vorgelassen, mit der Begründung, dass er eine in einem solchen 'Extremismus'-Verfahren Beschuldigte vertrete. Die beiden anderen Verteidiger mussten die Computer mit den darauf gespeicherten Verfahrensmaterialien abgeben und ihre Smartphones. So auch die Journalisten, die in den Festsaal gelassen wurden, sodass Berichte über das Geschehen nur von anderen Journalisten kamen, anhand einer holprigen Übertragung in einen Nachbarraum."

Gerne wird der Ukraine gesagt, sie solle einen Autonomiestatus für die abtrünnigen Gebiete akzeptieren und die "Separatistenführer" anerkennen. Das Problem ist nur, dass die inzwischen längst russische Staatsbürger sind und die Ukraine nicht als "wirkliches Land" anerkennen, schreibt David M. Herszenhorn in politico.eu: "Viele von ihnen sind jetzt Bürger der Russischen Föderation und geben häufig öffentliche Erklärungen ab, die darauf hindeuten, dass sie kein Interesse daran haben, in der Ukraine zu leben oder die Autorität und territoriale Integrität der Kiewer Regierung wiederherzustellen. Anfang Dezember reisten die beiden führenden Separatistenführer - Denis Puschilin aus Donezk und Leonid Pasechnik aus Luhansk - zum Jahreskongress von Putins Partei Einiges Russland nach Moskau und traten offiziell als Mitglieder bei. Der ehemalige russische Premierminister Dmitri Medwedew überreichte ihnen persönlich ihre Mitgliedsausweise."

Dass Putin Krieg anfängt, hält der estländische Sicherheitsexperte Kalev Stoicescu im taz-Gespräch mit Tigran Petrosyan für unwahrscheinlich. Aber er kritisiert die europäische und ganz besonders deutsche Abhängigkeit von russischem Gas, durch die wir Putins Politik finanzieren: "Selbst in seinen schlimmsten Träumen kann sich niemand im Westen einen Krieg gegen die Atommacht Russland vorstellen. Und das will auch keiner. Russland sagt, ein Beitritt der Ukraine zur Nato bereite ihm Sorge. Doch das ist ein Scheinargument. In Wahrheit hat Russland Angst vor der Demokratie. Russland möchte sich wie im Kalten Krieg mit nichtdemokratischen Ländern oder Ländern umgeben, die es unter Kontrolle hat." In einem zweiten Artikel klopft Inna Hartwich das gestrige Gespräch zwischen Olaf Scholz und Putin auf Zeichen der Hoffnung ab. In der Welt macht Guy Verhofstadt, ehemaliger Premierminister von Belgien, Vorschläge, wie die EU künftig ihre geopolitische Rolle ausbauen und nutzen könnte.

Den Politikern in Frankreich ist es nie so recht gelungen, den Thesen des rechten Präsidentschaftskandidaten Eric Zemmour - etwa, dass Pétain mit seiner Nazi-Kollaboration die französischen Juden gerettet habe - etwas entgegenzusetzen. Jetzt haben Historiker das übernommen mit dem Heft "Zemmour contre l'histoire", Zemmour gegen die Geschichte, berichtet Nadia Pantel in der SZ. Sie beginnen im 5. Jahrhundert: "Nein, der Frankenkönig Clovis wurde nicht von der Geschichtswissenschaft 'in die Mülltonne' geworfen. Und nein, die Kreuzzüge des 11. Jahrhunderts waren kein 'französischer Triumph'. Und nein, das Massaker der Bartholomäusnacht 1572 war keine notwendige, katholische Selbstverteidigung gegen 'fundamentalistische Hugenotten'. Zemmours Geschichtsbild setzt sich aus blinder Überhöhung Frankreichs, Antisemitismus, Hass auf Muslime und einer guten Prise Royalismus zusammen. Folglich sei die Französische Revolution eine 'nationale Katastrophe'. Ob der jüdische Offizier Alfred Dreyfus wirklich unschuldig war, könne man nicht wissen. Und wenn die französische Armee in Algerien Menschen gefoltert habe, dann hätten diese das wohl verdient." Ob die Gegenrede was bringt? Immerhin zählte es diese Woche in der Fnac "zu den bestverkauften Büchern" in Frankreich, notiert Pantel. Zum Erfolg beigetragen haben dürfte auch die Bündigkeit des Büchleins: Die Historiker beschränkten sich auf 64 Seiten.
Archiv: Europa

Ideen

Ilija Trojanow greift in seiner taz-Kolumne noch einmal Whoopi Goldbergs Äußerung über den Holocaust auf, der ihrer Meinung nach kein Rassismus gewesen sei, weil hier Weiße Weiße ermordeten (Goldbeg hat sich inzwischen dafür entschuldigt). Diese Idee des Rassismus ist weit verbreitet - und verkennt grundsätzlich, was Rassismus ist, meint Trojanow. "Die These von essenziellen Opfergruppen hilft kaum weiter. Ist Tidjane Thiam, jahrelang Vorsitzender der Geschäftsleitung der Credit Suisse, Nachfahre einer ivorischen Herrscherin und Verwandter des Diktators Houphouët-Boigny, wirklich ein Opfer 'weißer Herrschaft', profitieren die Bulgarinnen und Rumäninnen hingegen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in der deutschen Fleischindustrie schuften, tatsächlich von der 'weißen Herrschaft'? Und wie lässt sich der Genozid, den die chinesische Diktatur an den Uigurinnen verübt, unter diesem Schema subsumieren?"

Emphatisch verteidigt Susan Neiman im Freitag die Aufklärung gegen die Kritik, ihr Universalismus sei nur eine Maskerade, die der Unterwerfung der Welt diene: "Die Denker der Aufklärung wuchsen in einer Welt auf, die immer wieder von Religionskriegen erschüttert wurde. Zwei Drittel der Bevölkerung Brandenburgs fielen einem dieser Kriege zum Opfer. Noch häufiger als die Religionskriege waren Pandemien, gegen die es weder Schutz noch Behandlung gab. Frauen wurden regelmäßig als Hexen verbrannt, Männer für die Verfassung kritischer Schriften in Ketten gelegt, Folter wurde selbstverständlich als juristisches Mittel eingesetzt. Es sollte niemanden wundern, dass sich keine Epoche mehr Gedanken über das Wesen des Bösen machte. Gerade in dieser gewalttätigen Umgebung war die Idee des Universalismus revolutionär, denn er setzte eine Würde voraus, die in jedem Menschen, unabhängig von National- oder Religionsgemeinschaft, vorhanden ist."

Deborah Hartmann, Leiterin des Berliner "Hauses der Wannsee-Konferenz", kritisiert im Gespräch mit Ronald Pohl vom Standard scharf den von A. Dirk Moses und anderen ausgelösten "Historikerstreit 2.0": "Befremdlich an der derzeitigen Debatte ist, dass die Erinnerung an die Shoah neuerdings wieder in Zweifel gezogen wird. Man kennt das normalerweise von rechts, jetzt passiert es aus anderer Richtung. Begriffe wie 'Katechismus', wie 'Hohepriester der Erinnerung' lassen sich schwerlich als Beiträge auffassen, die Konstruktives zur Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur leisten. Ich vermute dahinter eine Form der Abwehr."

Der russische Schriftsteller Sergei Lebedew versucht in der NZZ zu erklären, warum die Russen im Ukraine-Konflikt - wie auch schon bei den Tschetschenienkriegen - mehrheitlich stumm zur Seite blicken. Warten sie einfach auf bessere Zeiten, um ihre wahren Gefühle zu zeigen? Oder ist ihre Empathielosigkeit real? Lebedew befürchtet letzteres. Selbst Putin bekam das in der Corona-Krise zu spüren: "Die Pandemie führte zu einem paradoxen Effekt: Die Staatsorgane und die liberale Öffentlichkeit fanden sich als Befürworter der Schutzmaßnahmen unerwartet in einem Lager wieder - gegen eine Mehrheit, welche die Gefahr des Virus leugnete oder sie herunterspielte und die Hygienemaßnahmen sabotierte. Die Impfmuffel und Maskenverweigerer lassen sich kaum kategorisieren: Frau oder Mann, Jung oder Alt, Reich oder Arm; jeder kann es sein. Die Obrigkeit kapituliert notgedrungen und tut so, als habe alles seine Ordnung. So hat sich in Russland eine erstaunliche Solidarität herausgebildet - die verquere Einigkeit derjenigen, die nach den Gesetzen der natürlichen Auslese zu leben bereit sind. Von Leuten, die einen Hang zur Verantwortungslosigkeit, zur Verschwörungstheorie, zur Leugnung von Fakten haben - nur um keine persönlichen Einschränkungen in Kauf nehmen zu müssen."
Archiv: Ideen

Gesellschaft

Coronaleugner dürfen von der Polizei geschützt demonstrieren, aber wenn die "letzte Generation" die Straßen blockiert, um gegen unsere Lebensmittelverschwendung zu protestieren, dann kriegen sie gleich einen "Eintrag ins Klassenbuch", ärgert sich Hilmar Klute in der SZ. "Man kann darüber streiten, ob es das Bewusstsein der Menschheit für soziale und klimapolitische Fragen schärft, wenn vor ihnen ein paar Studenten auf dem Mittelstreifen kleben. Aber beim Qualitätscheck der jeweiligen Anliegen dürfte die Letzte Generation einen enormen Punktvorteil gegenüber den sogenannten Impfskeptikern haben: Sie haben weniger esoterischen Wahnsinn, dafür belastbare Klimaprognosen bei der Hand, die von allen Vernunftbegabten schon lange abgenickt worden sind."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Sabine am Orde unterhält sich in der taz mit der syrischen Regimegegnerin Ruham Hawash, die Nebenklägerin in einem deutschen Prozess gegen Anwar R., einen ehemaligen Oberst beim syrischen Geheimdienst, war (unsere Resümees). Sie äußert ihre Genugtuung, dass R. zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde. Sie spricht auch über die Folter und ihre Gefängniserfahrung. Das Schlimmste sei die Zeit gewesen: "Dass man einfach dasitzt und nicht weiß, was als Nächstes passiert. Ob ich heute nach Hause zurückgehe oder nicht zurückgehe oder in zwei Monaten oder nie. Man verliert auch die Wahrnehmung von Zeit. Ich erinnere mich nicht, wie lange das alles ging, aber ich erinnere mich an das Gefühl, einfach warten zu müssen. Das ist bis heute geblieben. Ich hasse Warten. Wenn ich verabredet bin, kann diese Person ruhig zwei Stunden zu spät kommen. Aber sie muss mir sagen, wann sie kommt. Ich kann nicht so einfach rumsitzen und warten. Das halte ich nicht aus."

Der Historiker Reinhard Schulze, Autor einer "Geschichte der islamischen Welt von 1900 bis zur Gegenwart", erklärt in der FAZ, was der Westen beim Nationbuilding in Afghanistan hätte besser machen müssen: "Das westliche Modell der Staatsbildung in Afghanistan wurde nie einem internen Wettbewerb um die beste Lösung für eine Pluralität an Lebens- und Vorstellungswelten angeboten. Die Legitimität, die dieses Modell aus den Prinzipien der Gewaltenteilung, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit bezieht, wurde von außen als zwingend angesehen und daher nicht zur Diskussion gestellt."
Archiv: Politik