9punkt - Die Debattenrundschau

Aus eigenem imperialen Antrieb

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.02.2022. Die prorussischen Separatisten in der Ukraine erklären sich für angegriffen und ordnen die Generalmobilmachung an, melden viele Zeitungen. In Foreign Affairs fragen zwei PolitologInnen: Was ist, wenn Putin mit einem Krieg in der Ukraine - ähnlich wie in Syrien -  Erfolg hätte?  In der SZ plädiert Nele Pollatschek für die Abschaffung der Kategorie "Frau". Die New York Times wirbt mit dem Bild einer queeren jungen Frau und der Schlagzeile "Lianna is Imagining Harry Potter without its Creator" um Publikum. taz und Berliner Zeitung gedenken des Attentats in Hanau vor zwei Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.02.2022 finden Sie hier

Europa

Die prorussischen Separatisten in der Ukraine erklären sich für angegriffen und ordnen die Generalmobilmachung an. Die beste Zusammenfassung findet sich heute morgen im FAZ.Net.

Schon 2014 hantierte Putin mit dem Begriff des "Genozids", um den Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen. Dieser Begriff hat nun wieder Konjunktur, schreibt Friedrich Schmidt in der FAZ. Die russische Staatsanwaltschaft ermittle neuerdings wieder gegen die Ukraine wegen angeblichen "'brutalen Vorgehens gegen die Zivilbevölkerung': Zwischen August und Oktober 2021 hätten Ermittler des russischen Staates auf dem Gebiet der 'Volksrepubliken' fünf Massengräber entdeckt und darin die Überreste von 'mindestens 295 Zivilisten, die durch wahllosen Beschuss vonseiten ukrainischer bewaffneter Formationen 2014 getötet wurden'. Staatsmedien, die solche Meldungen verbreiten - das Ermittlungskomitee unterhält ein 'gemeinsames Projekt' mit dem Sender RT 'über die Verbrechen ukrainischer Soldaten' - zeigen Bilder der Exhumierungen." Wer verantwortlich für die Toten ist - ukrainische Soldaten oder Separatisten - sei jedoch völlig unklar, schreibt Schmidt.

"Ein Genozid gilt als legitimierter Grund für ein militärisches Eingreifen", erläutert Sonja Thomaser in der FR die PR-Strategie Putins. "Im Donbass geht es nach russischer Lesart um russischstämmige oder russischsprachige Menschen, die nach ethnisch-kultureller und politischer Autonomie streben. Die ukrainische Regierung unterdrücke diese Gruppe angeblich und drohe mit ihrer Vernichtung."

Stefan Kornelius geißelt in der SZ die seit Jahren praktizierte Passivität der deutschen Außenpolitik und erinnert an Joachim Gaucks Satz, Deutschland müsse mehr Verantwortung übernehmen. "Dieser Satz, mit großer Bestimmtheit vorgetragen, endete in der Regel: nirgendwo. Denn wann immer dieses Deutschland nach mehr Verantwortung strebte, geschah es nach der Formel 'mehr vom selben'. Mehr Geld, mehr Gespräche, mehr Mahnungen, mehr Forderungen. Deutsche Außenpolitik ist die Meisterin der Mitte, der Balance, der Scheu, der Vorsicht."

Die britische Regierung scheut moderne Kommunikation nicht und lässt ein ungewöhnliches Tweet zirkulieren:


Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel kritisiert im Interview mit Jan Pfaff in der taz die beschönigende Sicht vieler deutscher Politiker auf Russland: "Wir investieren viel zu wenig Energie darein, die innere Mechanik Russlands besser zu begreifen. Die verstehen wir nicht wirklich. Und weil man so wenig weiß, nimmt man zu Projektionen Zuflucht. Das russische Verhalten wird nur als Reaktion auf Aktionen des Westens erklärt, nicht als Handeln aus eigenem imperialen Antrieb."

Nun könnte es natürlich auch passieren, dass Putin mit einem Krieg in der Ukraine - ähnlich wie in Syrien - Erfolg hätte, überlegen Liana Fix und Michael Kimmage vom German Marshall Fund in einem viel retweeteten Artikel in Foreign Affairs. "Wenn Russland seine politischen Ziele in der Ukraine mit militärischen Mitteln erreicht, wird Europa nicht mehr das sein, was es vor dem Krieg war. Nicht nur wird die Vorrangstellung der USA in Europa in Frage gestellt sein, sondern auch der Eindruck, dass die Europäische Union oder die NATO den Frieden auf dem Kontinent sichern können, wird zum Artefakt eines verlorenen Zeitalters. Stattdessen wird sich die Sicherheit in Europa auf die Verteidigung der Kernmitglieder von EU und NATO beschränken müssen. Mit Ausnahme Finnlands und Schwedens wird jeder, der nicht zu den Clubs gehört, allein dastehen."

Der Politologe Samuel Charap hat für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung ein Sicherheitskonzept für die Ukraine erarbeitet, das er im Gespräch mit Alexander Sarovic vom Spiegel erläutert: "Die Ukraine, die diesen Weg natürlich freiwillig einschlagen müsste, würde sich zu einem 'non alignment' bekennen, also blockfrei sein. Im Gegenzug bekäme sie multilaterale Sicherheitsgarantien von Russland und dem Westen. Moskau würde zusichern, keine Truppen an der Grenze zusammenzuziehen. Die Nato und Russland würden sich dazu bekennen, die neue Sicherheitsarchitektur nicht zu verändern, ohne vorher einen Konsens zu suchen." Allerdings müssten sich nato und Ukraine dafür aus ihrem "Gefangenendilemma" lösen, so Charap und den in der ukrainischen Verfassung eingeschriebenen Wunsch der Nato-Mitgliedschaft aufgeben.

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Die taz bringt einige Texte von Angehörigen der in Hanau Ermordeten. Die Familie Păun kommt ursprünglich aus Rumänien. Niculescu Păun, 46, Vater von Vili Viorel Păun, schreibt, wie es seinem Sohn erging und stellt eine nüchterne Frage: "Mein Sohn hatte das Auto des Täters verfolgt und versucht, es zu blockieren. Er hat damit wahrscheinlich Menschenleben gerettet. Hätte mein Sohn hier den Polizeinotruf auf der nicht besetzten zweiten Leitung erreicht, wäre er mit Sicherheit vor der Verfolgung des Täters gewarnt oder sogar zum Abbruch gemahnt worden. Er hätte damit sein eigenes Leben retten können. Ab dem ersten Anrufversuch von Vili dauerte es zweieinhalb Minuten, bis der Täter den zweiten Tatort betrat."

Die Berliner Zeitung lässt zu dem Thema einige Autoren mit Migrationshintergrund zu Wort kommen. Shida Bazyar schreibt zu Betroffenheitsbeteuerungen von Politikern: "Eine Zäsur, das wäre, wenn die Angehörigen nicht ab der Sekunde des Terroranschlages Demütigungen über Demütigungen von institutionellen Seiten erhalten hätten. Ich übertreibe nicht: Demütigungen über Demütigungen. Nahezu alles, was von behördlicher Seite nach den Morden passierte, ist allein schon als Außenstehende kaum auszuhalten. Ist das wirklich so schwer, sensibel mit Angehörigen umzugehen? Ist das der desaströse Stand deutscher Behörden?"

Der niederländische BDS-Ableger "The Rights Forum" hat letzte Woche Universitäten des Landes aufgefordert, Kooperationen mit israelischen oder proisraelischen Organisationen offenzulegen. Peinlich ist nicht die Anfrage dieses marginalen Clubs, schreibt Esther Voet in der Jüdischen Allgemeinen, sondern dass Unis auf die Anfrage geantwortet haben. "The Rights Forum" hat übrigens einen recht weiten Begriff von Organisationen, die zu meiden wären: "Aus ihrer Sicht sind auch jene Behörden und Organisationen verdächtig, die Antisemitismus bekämpfen, darunter der niederländische nationale Koordinator gegen Antisemitismus, Eddo Verdoner, sowie die EU-Antisemitismusbeauftragte Katharina von Schnurbein. Sogar das niederländische Pendant zum Zentralrat der Juden, unser Centraal Joods Overleg, steht auf der - extrem langen - Liste."
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Ideen

Diversität war gestern, zu kompliziert. Nele Pollatschek plädiert in der SZ für die Abschaffung der Kategorie Frau (und damit auch der Kategorie Mann) und für eine Lösung, die Transfrauen auf jeden Fall einschließt. Denn ob frau eine Frau im biologischen Sinn sei, könne man "erst im Falle einer Schwangerschaft" wissen. "Ginge es beim Wort 'Frau' um eine biologische Kategorie - wie der Duden suggeriert und die Emma-Autorinnen fordern -, könnte man es auf kinderlose Menschen nicht anwenden. Wir wissen schlicht nicht, ob Jeanne d'Arc oder Queen Elizabeth I 'biologische Frauen' waren, ob Angela Merkel oder Alice Schwarzer 'biologische Frauen' sind."
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Medien

René Martens zeichnet in der taz ein etwas entgeistertes Porträt der Berliner Zeitung, die in drei unterschiedliche Redaktionen zerfalle (Wochenausgabe, Online und Wochenendausgabe), und mal hier, mal dort kräftig ins Schwurbeln gerate, während einzelne Redakteure in traurigen Tweets ihre Verzweiflung darüber bekunden. Programmatisch - und wohl auch vom Besitzer Holger Friedrich gewünscht - wird eine Nähe zum russischen Standpunkt gesucht, den Herausgeber Michael Maier eifrig verfechte, wenn er nicht gleich den russischen Botschafter zu Wort kommen lasse. Wochenendredakteur Hanno Hauenstein verficht mit Karacho den postkolonialen Standpunkt, und wenn Amnesty UK Israel als Apartheidsstaat denunziert und die deutschen Medien nicht gehorsam einstimmen, bringt er zwei Seiten darüber. Und dann natürlich noch die Coronaskepsis: "Ende Dezember publizierte die Berliner Zeitung die Demo-Redebeiträge von Synchronsprecherin Giovanna Winterfeldt und Schauspielerin Miriam Stein im Wortlaut. Beide hatten sich... zuvor an der Querdenker-Aktion #allesaufdentisch beteiligt. Jörg Reichel, Geschäftsführer der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in Berlin-Brandenburg nannte es 'befremdlich', dass die Berliner Zeitung 'unkommentiert Reden einer rechten Demo veröffentlicht', auf der Teilnehmende ihre Feindseligkeit gegenüber der Presse zum Ausdruck gebracht hätten."

Viel Aufsehen erregt auf Twitter die neue Werbekampagne der New York Times, die mit einer queeren jungen Frau und der Schlagzeile "Lianna is Imagining Harry Potter without its Creator" um ein neues hippes Publikum wirbt.

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