9punkt - Die Debattenrundschau

Kalt servierter Zynismus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.02.2022. Schon ohne einen Angriff ist die Ukraine Opfer einer massiven Destabilisierung, schreibt Anne Applebaum nach der Münchner Sicherheitskonferenz in Atlantic, und sie versteht, warum Wolodymyr Selensky das Wort "Appeasement" benutzt. Die SZ liest eine Untersuchung über die Frage, wie heute Lebensläufe formuliert werden und staunt über die "stählerne Konkurrenz von Anwärtern". In der Zeit fragt die britische Autorin Otegha Uwagba, warum wir so wenig über unser Vermögen und unser Einkommen reden. Die taz hält fest: Nicht die französisch-deutsche Mali-Mission ist gescheitert, sondern die malische Regierung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.02.2022 finden Sie hier

Europa

Nein, der Name München steht diesmal nicht für Appeasement. Die Nato-Länder feierten auf der Sicherheitskonferenz ihre Einmütigkeit. Nur einer sprach das Wort "Appeasement" aus, schreibt Anne Applebaum in Atlantic, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky. Und Applebaum versteht, was er meint: "Bislang ist es zu keiner größeren Invasion gekommen, und es wurden auch keine größeren Sanktionen angekündigt. Dennoch leidet die Ukraine bereits unter den Folgen der erneuten russischen Aggression. Die Fluggesellschaften ziehen ihre Flugzeuge aus dem Land ab. Ausländische Investitionen liegen auf Eis. Am vergangenen Wochenende starben ukrainische Soldaten, ermordet durch russische Kugeln...  Währenddessen zahlt Russland keinen Preis."

Eine Gruppe europäischer Politologen, Politiker und Autoren ruft Emmanuel Macron als Präsident des Landes, das zur Zeit den EU-Vorsitz führt, auf, dass die EU Aufnahmeverhandlungen mit der Ukraine einleitet: "Selbst wenn die aktuelle Krise nicht zu einem offenen Konflikt eskaliert, wird die Ukraine weiterhin Destabilisierungsoperationen ausgesetzt sein. Ein genauer und verbindlicher Zeitplan für Reformen, den der Beitrittsprozess mit sich bringt, wäre ein starker Anreiz zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in diesem Land und damit ein ernsthaftes Gegenmittel für zukünftige Destabilisierungsversuche." Der Aufruf findet sich in Deutschalnd in Richard Herzingers Blog und ursprünglich hier, in der Lithuania Tribune.
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Wissenschaft

Früher folgte der Lebenslauf dem Leben, heute ist es oft umgekehrt - jedenfalls bei Akademikern. Das lernt Andreas Bernard (SZ) aus einer Untersuchung der Soziologen Julian Hamann und Wolfgang Kaltenbrunner, die achtzig Lebensläufe, die zwischen 1950 und 2010 für Bewerbungen auf Professuren in Germanistik und Geschichte eingereicht wurden, analysiert haben. So waren akademische Lebensläufe "bis in die Siebzigerjahre" Erzählungen, die "organische Entwicklungen beschrieben". Danach setzte sich mehr und mehr die Listenform durch, die zunächst einer Demokratisierung der Bildung geschuldet war, später jedoch vor allem die Karrierefähigkeit der Bewerber inszenierten sollte: "Im strotzenden CV von heute, in dem sich Erfolg an Erfolg reiht, ... sind zwar die Privilegien früherer Herkunftsgeschichten in den Hintergrund geraten, aber erkauft wird diese Egalisierung durch die stählerne Konkurrenz von Anwärtern, die nicht nur ihre Veröffentlichungen in möglichst hochbewerteten Journalen und ihre im Lauf des Berufslebens angebotenen Seminare minutiös auflisten müssen, sondern auch die Summen der erfolgreich beantragten Drittmittel - eine Kategorie akademischer Begabung, die, wie Hamann und Kaltenbrunner erwähnen, bis in die Achtzigerjahre hinein in den Lebensläufen unbekannt war."
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Gesellschaft

Harald Martenstein hat sich im Streit um eine seiner Kolumnen, die die Chefredaktion aus dem Netz genommen hat, vom Tagesspiegel getrennt. Er hatte das Tragen von "Judensternen" von Impfgegnern mit der Aufschrift "Ungeimpft" als "eine Anmaßung, auch eine Verharmlosung" verurteilt und "für die Überlebenden schwer auszuhalten", aber es sei "sicher nicht antisemitisch" (hier die Stellungnahme der Chefredaktion, Martensteins Kolumne kann man jetzt auf Martensteins eigener Website lesen).

In der Welt wundert sich Henryk M. Broder ganz generell über die Aufregung um die "Judensterne", die sich Impfgegner so gern anstecken. Man ist doch sonst nicht so empfindlich, wenn der Holocaust relativiert wird. "So geschichtsvergessen die Selbstdarstellung der Ungeimpften, die sich mit einem Judenstern schmücken, auch sein mag: Sie richtet sich nicht gegen Juden. Und sie stellt den Holocaust nicht infrage. ... Der Vorwurf, die ungeimpften Möchtegern-Juden würden den Holocaust 'instrumentalisieren', führt zwar in die Irre, aber dennoch zum Ziel: Eine Handvoll 'Covidioten' (Saskia Esken ) wird instrumentalisiert, um den Protest gegen die Pandemie-Politik zu delegitimieren. Wie war das noch mal mit dem 'Generalverdacht', vor dem man sich hüten muss, wenn irgendwo eine Bombe explodiert und ein Bekennerschreiben mit den Worten 'Allahu akbar' anfängt? Verallgemeinerungen und pauschale Schuldzuweisungen sind Ausdruck 'gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit' und deswegen tabu. Ausgrenzungen von Gruppen, die den gesellschaftlichen Konsens gefährden, sind dagegen okay - ungeachtet aller Bekenntnisse zur Offenheit, Vielfalt, Diversität und des Rechts auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit."

In der SZ ist Holger Gertz froh, dass die Olympischen Spiele in Peking zu Ende sind. Die Verantwortlichen - allen voran IOC-Präsident Thomas Bach - dafür möchte er allerdings noch lange nicht vom Haken lassen: "Die Olympier sind Großmeister der Bildersprache, aber die schönen Bilder haben am Ende, jedenfalls in Deutschland, nicht dazu beigetragen, dass diese Spiele von einem Luftkissen der Euphorie getragen wurden und zu fliegen begannen, trotz der vielen Medaillen. Zu beschwerend die Debatten um Menschenrechtsverletzungen, zu bleiern das Schweigen des IOC zu diesen Themen. Und als IOC-Chef Thomas Bach in seiner Schlussansprache von Solidarität predigte und sagte, man müsse Seite an Seite stehen - da klang das mal wieder wie der altbekannte kalt servierte Zynismus, mit Blick auf diejenigen, die vom Regime in China drangsaliert und traktiert und unterdrückt werden."

Im online nachgereichten Interview mit der Zeit fragt die britische Autorin Otegha Uwagba, warum wir so wenig über unser Vermögen und unser Einkommen reden. Wären wir in Geldfragen transparenter, meint sie, würde das "die falsche Annahme beheben, dass wir in einer Meritokratie leben; dass Menschen zu Reichtum gekommen sind, weil sie hart arbeiten oder sich besonders anstrengen. Das stimmt einfach nicht. Die soziale Mobilität in Großbritannien ist eine der schlechtesten in Europa. Die allermeisten sterben in der sozialen Klasse, in die sie hineingeboren wurden. ... Ohne diese Transparenz kann man sich nicht gegen Klassendynamiken wehren. Solche Ungleichheiten sind schlecht für die Gesellschaft."

Ein Schweizer und ein französisches Team haben unabhängig von einander herausgefunden, wer hinter den verschwörungstheoretischen Texten der "QAnon"-Bewegung steht. Beauftragt waren sie von der New York Times, deren Recherche Michael Hanfeld resümiert in der FAZ nacherzählt: "Ihr Ergebnis ist von feinster Ironie. Denn hinter 'Q' sollen zwei Männer stecken: Ronald Watkins, der Administrator des Internetforums 4chan, auf dem die Botschaften von 'Q' zum ersten Mal auftauchten; und der südafrikanische Journalist Paul Furber, der in Serie erste Artikel über 'Q' schrieb." Für die Anhänger der Theorie muss das eine Enttäuschung sein, so Hanfeld, denn der Legende nach war 'Q' ein Insider, der alle Hintergründe kennt, wahrscheinlich ein hochrangiger Militär, ein Mastermind, der sie zum Widerstand aufruft."
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Ideen

Die feministische Philosophin Kathleen Stock hat wegen ihrer Meinung über Transfrauen ihre Uni verlassen (unsere Resümees). Im Gespräch mit Jörg Schindler vom Spiegel bleibt sie bei Ihrer Meinung gegen die "Self ID", also die auch in Deutschland diskutierte Erlaubnis, dass jeder sein Geschlecht selbst definiert: "Selbst wenn es eine noch so kleine Minderheit wäre, sehe ich nicht, warum man voll funktionsfähige Männer in Umkleidekabinen für Frauen lassen sollte. Allein die Tatsache, dass das möglich ist, beeinflusst Frauen enorm. Es gibt sogar Frauenhäuser, zu denen solche Personen Zugang haben. Für traumatisierte Frauen ist das unzumutbar."

Es ist eigentlich ein Streit um Sprache und die Frage, ob Realität durch einen Sprechakt geschaffen wird, meint Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen: "Es geht in den Debatten um die von der Ampel geplante Neufassung des Transsexuellengesetzes oder die Frage, ob der Grünen-Abgeordnete Ganserer ein Mann mit dem Namen Markus oder eine Frau Namens Tessa ist, nicht um die Frage, wie tolerant die Gesellschaft mit Menschen umgehen soll, die der Ansicht sind, sie hätten das falsche Geschlecht. Es ist eine symbolische Auseinandersetzung, die weitreichende Folgen haben wird: Wenn sich die Menschen davon überzeugen lassen, dass sich das Geschlecht mit einem einfachen Satz ändern lässt, können die Anhänger der Postmoderne ihr gesamtes Programm durchsetzen."
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Politik

Frankreich zieht seine Mali-Mission zurück, Deutschland wird wohl auch nicht mehr so lange bleiben. So einfach zu sagen, die Missionen seien gescheitert, ist allerdings komplett falsch, schreibt Katrin Gänsler, die seit 2010 in Negeria lebt und für die taz berichtet: "Die Missionen sind nicht dafür verantwortlich, Strukturen zu ändern. Reformen sind Aufgabe des malischen Staates, der dieser nicht nachgekommen ist. Die letzte gewählte Regierung von Ibrahim Boubacar Keïta stürzte auch deshalb, weil die Korruption weiter zugenommen hatte, Wahlen nicht korrekt durchgeführt wurden und sich Politiker wie Keïtas Sohn Karim nicht für die Alltagsprobleme interessierten, sondern Geld im Ausland verprassten. Ziehen sich immer mehr Länder aus den Missionen zurück, würde das nicht zu einer Verbesserung führen, im Gegenteil." durch den Rückzug werden den Dschihadisten Räume geöffnet, so Gänsler, Putins famose Gruppe Wagner beziffert sie höchstens auf ein paar hundert Mann.
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Stichwörter: Mali, Gruppe Wagner