9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Reihe von Bomben

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.02.2022. Man hätte wissen können, dass Wladimir Putin so handelt, wie er handelt - denn er handelte noch nie anders, schreibt Timothy Snyder in einer ersten Reaktion in Atlantic auf den von Putin begonnenen Krieg. Eine Gruppe von Autoren in der New York Times rückt Putins Verzerrungen der ukrainischen Geschichte gerade. Die SZ wirbt um Verständnis für Putin - Russland sei nach dem Mauerfall versprochen worden, dass sich die Nato nicht ausdehnt. Die Historikerin Mary E. Sarotte sieht das in der Welt anders. Und Timothy Garton Ash fragt im Guardian: "Wo stünde Estland heute ohne die harte Sicherheit der Nato?"
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.02.2022 finden Sie hier

Europa

Der Krieg hat also begonnen. Wladimir Putin hielt in einem gigantischen Saal vor weit entfernten Getreuen seine Strangelove-Rede, erklärte dass er die separatistischen "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk anerkennt und schickte auch gleich Truppen auf Friedensmission.

Putin verbrämte seine Rede mit den bekannten historischen Sentimentalitäten, die ihn anzutreiben scheinen - Auszüge der Rede lassen sich bei Reuters lesen: "Ich möchte nochmals betonen, dass die Ukraine für uns nicht nur ein Nachbarland ist. Sie ist ein unveräußerlicher Teil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres geistigen Raums. Das sind unsere Kameraden, die uns am Herzen liegen - nicht nur Kollegen, Freunde und Menschen, die einst gemeinsam gedient haben, sondern auch Verwandte, Menschen, die durch Blut, durch Familienbande verbunden sind." Und zwar, ob sie wollen oder nicht.

Erste Reaktionen:




Ein Transkript von Wolodymyr Selenskys Antwort auf Putin findet sich hier:



Russland ist ein Land, das seit Zarenzeiten von Geheimdiensten gesteuert wurde - ein System, das sich seine "Wahrheiten" selbst konstruiert. So wie er gestern agierte, hat er auch schon angefangen, schreibt Timothy Snyder in Atlantic: "Wladimir Putin, ein ehemaliger KGB-Offizier, ist ein Erbe dieser Tradition. Er war völlig unbekannt, als er im August 1999 von Boris Jelzin zu dessen Nachfolger gewählt wurde; seine Zustimmungsrate lag bei 2 Prozent. Im darauf folgenden Monat explodierte eine Reihe von Bomben in russischen Städten. Putin schob die Schuld an den Anschlägen schnell auf tschetschenische Terroristen und begann einen Krieg zur Unterwerfung der abtrünnigen russischen Region Tschetschenien. Seine Zustimmungsrate lag plötzlich bei 45 Prozent. Es wurden keine Beweise dafür vorgelegt, dass ein Tschetschene etwas mit den Terroranschlägen zu tun hatte." Ebenfalls in Atlantic schreibt Tom Nichols: "Putin hat den Krieg gewählt... Im Jahr 2014 führte er Krieg gegen die Ukraine, jetzt hat er der internationalen Ordnung der letzten dreißig Jahre den Krieg erklärt."

Christian Esch von Spiegel online findet in einer ersten Lektüre der Putin-Rede manches merkwürdig. Immerhin zeigt sie, dass sich Putin nicht einfach die Sowjetunion zurückwünscht, der er im Gegenteil vorwirft, die Ukraine überhaupt erst geschaffen zu haben: "Die Ukraine als Staat sei ein Produkt der Sowjetunion und ihres Gründers Wladimir Lenin, ja in gewisser Weise Russlands. Ihre Unabhängigkeit wiederum sei ein 'Fehler' der Kommunistischen Partei unter Michail Gorbatschow. In bizarrer Weise verlor sich Putin außerdem in Argumenten über die hohen Wasserpreise im Nachbarland, die Korruption und die fehlende Unabhängigkeit der Gerichte dort."

Eine Gruppe von Autoren in der New York Times stellt Putins Geschichtslügen über die Geschichte der Ukraine richtig: "Die neu geschaffene Sowjetregierung unter Lenin, die Putin am Montag so anprangerte, sollte den entstehenden unabhängigen ukrainischen Staat schließlich zerschlagen. Während der Sowjetzeit wurde die ukrainische Sprache aus den Schulen verbannt, und die ukrainische Kultur durfte nur im Witzbild tanzender Kosaken in Pluderhosen existieren."

In der SZ versucht Sonja Zekri die Gedankengänge des russischen Präsidenten zu verstehen und weist darauf hin, dass laut einer Spiegel-Recherche der Westen 1991 versprochen habe, die Nato nicht über die Elbe hinaus zu erweitern: "Putins Russland, das mit der Annexion der Krim selbst alle Regeln des Völkerrechts gebrochen hat, steht am Rande seiner größten militärischen Auseinandersetzung mit der Nato, der USA, Europa. Gerade deshalb ist es keine Bagatelle, dass der damalige Wortbruch Putins Denken bestätigt, in dem Stärke und Machtgesten alles sind, denn der Schwache wird zur Beute. Die Beteuerungen der Nato, dass ihr Vorrücken russische Sicherheitsinteressen gar nicht berühre, ändern an dieser Überzeugung naturgemäß wenig. Denn so schwer vorstellbar das russische Bedrohungsgefühl auch sein mag angesichts der gigantischen Landmasse, der Atomwaffen, der inzwischen hochmodernen Armee, so wenig nützt das Vermessen von Grenzkilometern zwischen der Ukraine und Russland, um zu beweisen, dass alle russischen Befürchtungen Unsinn sind. Die Armeen Napoleons und Hitlers kamen eben auf diesem Wege - von Westen."

Ob von einem Wortbruch die Rede sein kann, ist allerdings noch eine andere Frage: Die Politiker die damals Überlegungen über die Nato anstellten, waren gar nicht diejenigen, die über die Zukunft der Nato zu entscheiden hatten, sagt die Historikerin Mary E. Sarotte in einem Gespräch, das die Welt leider nicht online stellte. Die in einer Gesprächsnotiz zitierten Unterhhändler waren im Jahr 1990 nicht "befugt, die Zukunft der Nato im Rahmen der Zwei-plus-vier-Gespräche auszuhandeln. Präsident George H.W. Bush hat 1990 explizit befohlen, dass die Zwei-plus-vier-Runde 'weder die Zukunft der Nato noch die Zukunft der europäischen Sicherheit entscheiden darf'. Und Bundeskanzler Helmut Kohl machte Chrobogs Chef, Außenminister Hans-Dietrich Genscher, während der 1990er-Verhandlungen wiederholt intern klar, dass er (Kohl) die Positionen Genschers und der Diplomaten des Auswärtiges Amt zur Zukunft der Nato 'nicht teile und unterstütze. Darüber hinaus bin ich nicht bereit zu akzeptieren, dass die Bundesregierung in diesen Fragen ohne jede Rücksprache festgelegt wird.'"

Im Guardian erinnert Timothy Garton Ash, der gerade von der Sicherheitskonferenz in München zurückgekommen ist, daran, warum es richtig war, die Nato zu erweitern: "Wieder einmal werden Stimmen laut, die sagen, dass die Erweiterung der Nato ein großer Fehler war, der angeblich Putins Reaktion provozierte. Doch wo stünde Estland heute ohne die harte Sicherheit der Nato? Antwort: draußen in der Kälte, zusammen mit der Ukraine, in einer dunklen Vorhölle der Ungewissheit. Die deutlichste Botschaft von München war, dass die Nato entschlossen ist, jeden Zentimeter des Territoriums ihrer östlichen Mitglieder zu verteidigen. Die Bürger von Narva, einer estnischen Stadt direkt an der Grenze zu Russland, können ruhiger in ihren Betten schlafen, als es ein Ukrainer kann."

Elisabeth Bauer, die noch vor wenigen Tagen und Wochen mit jungen Künstlern, Techno-DJs, Schriftstellern und Wissenschaftlern in der Ukraine gesprochen hat, versucht in der Welt ein facettenreicheres Bild von der Ukraine zu vermitteln: "Mit dem sogenannten 'Huntingtonschen Modell' vom 'Kampf der Kulturen' aufräumend, erklärt der ukrainische Schriftsteller Mykola Riabchuk in seinem Essay 'Die reale und die imaginierte Ukraine', weder der 'ukrainische Westen' noch der 'ukrainische Osten' - mit ihren imaginären Symbolstädten Lviv und Donetsk - seien sprachlich oder kulturell homogen: 'Diese 'zwei Ukrainen' existieren nicht neben-, sondern eher ineinander - als zwei Symbole, zwei Möglichkeiten für ihre weitere Entwicklung.' Die Idee von einer gespaltenen Ukraine, auf andere angewiesen, sei irreführend und stark reduzierend, sagte auch Rory Finnin, Slawist an der Cambridge University, in einem Vortrag im März 2014. Finnins Appell ist nach wie vor aktuell: 'Es ist wichtig zu verstehen - mit Aussicht auf eine drohende Invasion, die sich auf die Idee eines prorussischen Südostens beruft, - dass die ukrainische Identität zwar umstritten, aber sehr stark ist.'"

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Politik

"Proteste werden in Algier heute nicht erwartet", schreibt  Sofian Philip Naceur in der taz. Vor drei Jahren brachte Algeriens Protestbewegung das Bouteflika-Regime zum Einsturz. Inzwischen hat das Regime wieder die Macht und Dutzende Regimegegner in die Gefängnisse gesperrt. "Erst vor zehn Tagen hatten die Behörden den Zugang zur Internetseite Algerian Detainees im Inland gesperrt. Das von Aktivist*innen betriebene Portal, das politisch motivierte Verhaftungen dokumentiert, ist seither nur noch über VPN- oder Proxyserver erreichbar. Dabei ist Öffentlichkeit für die Situation in Algeriens Gefängnissen derzeit notwendiger denn je. Denn seit dem 29. Januar sind mehr als 40 politische Gefangene in den Gefängnissen El Harrach und Koléa in Algier sowie in Bouira und Sétif in den Hungerstreik getreten."

Die taz bringt auch eine große Beilage unter dem Titel "Transkontinental" (Editorial) mit "afrikanisch-europäischen Reflexionen". Lujain Alsedeg schreibt über die anhaltenden Proteste im Sudan: "Die Proteste waren auch ein ständiger Widerstand gegen frauenfeindliche Äußerungen und Verhaltensweisen. Frauen standen von Anfang an an der Spitze der Demonstrationen und scheuten nicht davor zurück, Belästiger anzuprangern und Schritte gegen sie einzuleiten. Entwicklung beinhaltet auch das Ablegen toxischer Konzepte. Denn Sudanes:in zu sein bedeutet, dass sich viele Identitäten überschneiden. Obwohl wir alle schwarz sind, tappen wir oft in die Fallen von Tribalismus, Frauenfeindlichkeit und Rassismus." Die Beilage ist vom Auswärtigen Amt gefördert.
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Gesellschaft

Susanne Memarnia setzt sich in der taz unermüdlich gegen das Berliner Neutralitätsgesetz und für Lehrerinnen mit Kopftuch ein. Nun hat sie in Kreuzberg eine Grundschulklasse gefunden, die dafür kämpft, ihre Referndarin mit Kopftuch behalten zu können: Auf den Einwand, "eine Frau könnte das Kopftuch ja ablegen, wenn sie unbedingt als Lehrerin arbeiten möchte, sagt Layla: Es sei aber 'schrecklich', Menschen zu etwas zu zwingen, damit sie arbeiten dürfen. 'Sie glauben halt daran, und dann macht sie das vielleicht traurig, weil sie so glücklich sind mit dem Kopftuch und sich wohlfühlen.' Auch Laura findet: 'Wenn man daran glaubt und es einem wichtig ist, sollte man es auch weiterhin tragen können.' Valeria sagt: 'Man sollte das tragen, was einen glücklich macht.'"
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Geschichte

In den Niederlanden wurde ein offizieller Bericht über die Kolonialverbrechen des Landes vorgestellt, berichtet Gerhard Hirschfeld in der FAZ. Diese Verbrechen waren zum Teil exzessiv, von 100.000 Toten ist die Rede, und auf komplizierte Weise verwoben mit dem Zweiten Weltkrieg und der unmittelbaren Nachkriegszeit: "Allein auf Java wurden weit mehr als tausend indonesische Verwaltungsbeamte und Dorfvorsteher, die der 'Kollaboration' mit den Niederländern beschuldigt wurden, von republikanischen Milizen ermordet oder entführt. Auf niederländischer Seite kamen eigens für den Guerillakampf ausgebildete 'Kommando-Einheiten' zum Einsatz, die zahlreiche 'Exzesstaten' verübten. Zu den von der kolonialen Militärführung für legitim erachteten Maßnahmen gehörten brutalste Verhörmethoden, Massenhinrichtungen ohne Gerichtsverfahren, wahllose Erschießungen sowie die Zerstörung von Dörfern."
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