9punkt - Die Debattenrundschau

In der Wahl seiner Mittel

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.02.2022. Der Westen verhängt erste Sanktionen gegen Russland, doch die fallen milde aus. Nordstream 2 ist gestoppt, aber Putins Kriegskasse wird vor allem durch den Export von Erdöl gefüllt, weiß Osteuropa. Und die Briten gehen auch nicht ernsthaft gegen die Oligarchen in London vor, ärgert sich der Guardian. Atlantic mahnt, auch Belarus im Auge zu behalten, aus dem Russland seine Truppen auch nicht so bald abziehen wird. Auf Spiegel Online erklärt der Historiker Serhii Plokhy, wie der Holodomor und Tschernobyl die ukrainische Unabhängigkeit befeuerten. Und warum demütigt Wladimir Putin seinen Geheimdienstchef?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.02.2022 finden Sie hier

Europa

Die Sanktionen gegen Russland fallen relativ verhalten aus. Das Bündel aus finanziellen und wirtschaftlichen Maßnahmen, das sich die USA haben einfallen lassen, sei nicht gerade die "Mutter aller Sanktionen", heißt es etwa bei Spiegel Online. Auch der Guardian sieht hier noch die berühmte "Tür für diplomatische Lösungen" offengelassen.

Natürlich hat Deutschland die Gas-Pipeline Nordstream 2 gestoppt. In einem Interview mit Osteuropa, das vor der Entscheidung geführt wurde, hält es Volkswirt und Russland-Experte Roland Götz für falsch, das sich die Debatte so auf die Pipeline konzentriert. Es hätte wirksamere Hebel gegeben: "Ein Verbot von Nord Stream 2, das in Deutschland vielfach als Element und Auftakt einer 'neuen Ostpolitik' gefordert wird, wäre daher nur Symbolpolitik oder bestenfalls ein Signal des Unmuts über Russlands Außenpolitik. Die hitzige Debatte um Nord Stream 2 lenkt von dem Umstand ab, dass weder Deutschland noch viele andere EU-Länder gerne bereit sind, effektivere Sanktionsinstrumente einzusetzen, von denen man nicht einmal weiß, ob sie Russlands Führung tatsächlich beeindrucken könnten, die auf jeden Fall aber spürbare negative Rückwirkungen auf die eigenen Volkswirtschaften hätten. Zur Symbolpolitik gehört auch der ebenfalls geforderte, aber nicht ernsthaft erwogene Verzicht Europas auf den gesamten Gasimport aus Russland. Denn nicht der Gasexport, sondern der viel umfangreichere und viel höher besteuerte Export von Erdöl und Erdölprodukten füllt in Wirklichkeit Putins Kriegskasse."

Die Sanktionen, die die britische Regierung gegen Russland verhängt hat oder verhängen will, sind lächerlich, ärgert sich der Labour-Abgeordnete Chris Bryant im Guardian: "Die russischen Banken, die Boris Johnson heute auf die Sanktionsliste gesetzt hat, sind nicht die großen Akteure: Sie sind das Kleingeld der russischen Wirtschaft. Die drei von ihm genannten Personen sind in den USA bereits seit 2018 mit Sanktionen belegt. Wir picken uns also die kleinen Fische heraus, aber lassen die großen Haie frei schwimmen. Johnson wusste nicht einmal, gegen wen wir bereits Sanktionen verhängt hatten. Er behauptete, Roman Abramowitsch stehe auf der Liste, und weigerte sich, die Angaben zu korrigieren, als ich ihn danach fragte. Später am Tag musste sein Büro zugeben, dass er sich geirrt hatte. Ist es zu viel erwartet, dass ein Premierminister in einem Moment der internationalen Krise einige Details kennt?"

Der Westen sollte auch nicht übersehen, was derzeit in Belarus geschieht, schreibt Yasmeen Serhan in Atlantic. Vor aller Augen und ohne einen einzigen Schuss abzugeben, hat Wladimir Putin aus einem souveränen Staat wieder eine Verlängerung russischen Territoriums verwandelt: "Am Wochenende kündigte die belarussische Regierung an, dass die 30.000 russischen Soldaten auf belarussischem Boden - die größte Stationierung Moskaus seit dem Ende des Kalten Krieges - dort bleiben könnten. Unabhängig davon, was in der Ukraine geschieht, ist dies ein großer Sieg in Putins Krieg mit dem Westen. Die Verlegung stellt nicht nur eine Verletzung der belarussischen Souveränität dar, sondern ist auch eine erhebliche Herausforderung für die Nato als Sicherheitsgarant im Baltikum: Belarus hat eine gemeinsame Grenze mit drei Nato-Mitgliedern. Dennoch haben sich nur wenige Staats- und Regierungschefs außerhalb der baltischen Region zu der Ankündigung geäußert oder darüber gesprochen, wie sie zu reagieren gedenken. Die Kosten des Nichtstuns könnten enorm sein."

Im Interview auf Spiegel Online nimmt der in Harvard lehrende ukrainische Hisotriker Serhii Plokhy Putins Geschichtsauffassung auseinander und erklärt auch, dass sich das ukrainische Streben nach Unabhängigkeit unter anderem auch aus der Erinnerung an die große Hungerkatastrophe der dreißiger Jahre speist. Aber nicht nur: "Tschernobyl gilt in der Ukraine, noch mehr als der Holodomor, als ein Verbrechen des von Moskau aus gesteuerten sowjetischen Zentralismus. Die Erinnerung an die Atomkatastrophe war ein Hauptfaktor für die Mobilisierung der Massen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zur ukrainischen Unabhängigkeit führte. Das Ohnmachtsgefühl, den Entscheidungen der zentralistischen Behörden in Moskau zum Opfer gefallen zu sein, die Atomkraftwerke in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt gebaut hatten. Und die nach der Katastrophe wichtige Informationen über die Verstrahlung zurückgehalten hatten. Da geht es nicht so sehr um Kommunismus oder die öffentliche Wahrnehmung der sowjetischen Geschichte, sondern um das Gefühl, nicht souverän über das eigene Schicksal entscheiden können."

In der SZ berichtet die Czernowitzer Literaturwssenschaftlerin Oxana Matiychuk von der inneren Lage der Ukrainerinnen und Ukrainer, die natürlich umso angespannter ist je weiter die Menschen in Reichweite der russischen Panzer leben: "Maria meinte, man bereite sich vor, verschiedene Trainings und Erste-Hilfe-Kurse werden in der Stadt angeboten; ihre Familie habe drei Jagdflinten zu Hause, legal, und alle drei Männer können diese gut bedienen. Die drei Männer sind ihr Schwiegervater, über 70 Jahre alt, ihr Mann Sascha, Mittvierziger, und ihr Sohn, der 19 Jahre alt ist. Marias Schwiegervater, ein ruhiger, sympathischer Mensch, der einen ausgezeichneten Schnaps brennt (im Berufsleben war er Chemiker), kann auf Ukrainisch kaum einen Satz richtig zusammenbringen. Auch Saschas Umgangssprache ist Russisch, er meint, er würde ungern falsches Ukrainisch sprechen, er habe die Sprache nie konsequent gelernt."

"Putin riecht Blut wie ein Hai und dehnt sich aus wie Gas", ätzt der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko im taz-Interview mit Jens Uthoff. Vor allem aber leide Putin unter Realitätsverlust: "Er konstruiert seine eigene Realität und bekommt nicht mit, dass sowohl in der Ukraine als auch in Belarus nur noch eine Minderheit zu Russland gehören will. In Belarus vielleicht ein Fünftel der Bevölkerung, je nachdem, welcher Umfrage man Glauben schenkt. In der Ukraine gehen seit der Krim-Annexion rund 60 Prozent klar auf Distanz zu Russland. Putin und Lukaschenko reden über ihr Land, wie sie über eine Frau oder eine Geliebte reden. Sie checken aber nicht, dass die Frau sie schon seit Langem verlassen will."

In seiner berüchtigten Rede vom Montagabend beschränkte sich Wladimir Putin nicht auf Angriffe gegen die Ukraine, auch sein eigener Geheimdienstchef musste sich demütigen lassen.


Natürlich kann man Putin mit Hitler vergleichen, findet Patrick Bahners in der FAZ, vor allem wenn der Vergleich stimme: "Vorsicht bei Hitler-Vergleichen ist für deutsche Kommentatoren und Politiker sicher geboten. Aber sie dürfen auch nicht übersehen, dass Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg unabhängig von aller welthistorischen Komparatistik im Geist des Thukydides gerade in Osteuropa, wo die Folgen dieses Krieges noch überall spürbar sind, ihre eigene Sachhaltigkeit haben. Putins Geschichtspolitik schließt die Rehabilitierung des Hitler-Stalin-Pakts ein, mit dem die polnische Regierung Nord Stream 2 verglichen hat. Man tut Putin nicht unrecht, wenn man beim Namen nennt, mit wem er sich in der Wahl seiner Mittel gemeinmacht."

Weitere Artikel: "Die Aggression geht nicht von einem bestimmten Land aus, sondern von einem Denksystem, das Krieg gegen die Demokratie führt", schreibt der Schriftsteller Zafer Senocak in der Welt: "Dieser Hass auf die zivilisierte Friedenszone (vielleicht ein besserer Begriff, als ständig vom Westen zu sprechen) hat inzwischen eine internationale Dimension." "Zur Disposition steht weit mehr als die Lage in der Ukraine und in Russland", meint auch Mathias Döpfner in der Welt: "Die Chinesen werden sich genau ansehen, was die USA und die EU in der Ukraine machen. Und dann entscheiden, was das für Taiwan bedeutet." In der FAZ fürchtet selbst Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, um den lieben Frieden: "Russische Panzer rollen in die Separatistengebiete. Rollen sie weiter, dann wären die Konsequenzen für die bilateralen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen verheerend. Auch in der kulturellen Zusammenarbeit stünden wir vor einem Scherbenhaufen. All das in Jahrzehnten mühsam Erreichte wäre dahin."
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Politik

Wenn Putin glaubt, mit der Unterzeichnung des "Bündnisvertrages" mit Xi Jinping habe er sich China zum Partner gemacht, irrt er gewaltig, schreibt die Politologin Nina L. Khrushcheva im Tagesspiegel: "Stattdessen hat Xi getan, was notwendig war, um Russland in eine vasallenartige Abhängigkeit von China zu bringen. Und Putin ist ihm in dem Glauben, dass eine Partnerschaft mit Xi ihm in seiner Konfrontation mit dem Westen helfen würde, direkt in die Falle getappt. Was könnte für China besser sein als eine russische Wirtschaft, die komplett vom Westen abgeschnitten ist? All das Erdgas, das nicht westwärts in Richtung Europa fließt, könnte gen Osten ins energiehungrige China fließen. Alle sibirischen Rohstoffvorkommen, für deren Erschließung Russland westliches Kapital und Know-how brauchte, würden ausschließlich China zur Verfügung stehen, Gleiches gilt für neue Infrastrukturprojekte in Russland."
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Medien

Vorige Woche wurde in der Türkei der Journalist Güngör Arslan erschossen, in dieser Woche setzte Präsident Erdogan seine Zensurbehörde gegen die Deutsche Welle in Bewegung. In der FAZ fürchtet Bülent Mumay aber noch mehr Ungemach: "Im Verfassungsgericht, das unter Erdoğans Fuchtel steht, erging derweil ein gefährliches Urteil: Künftig ist eine Verhaftung einzig aufgrund der Aussage eines geheimen Zeugen möglich. Früher war ein Beweis nötig, der die Aussage des geheimen Zeugen stützte. Nunmehr können Oppositionelle allein aufgrund eines Satzes von geheimen Zeugen hinter Gitter kommen."

Auch in der NZZ findet jetzt Benedict Neff, dass Harald Martenstein mit seiner Kolumne gar nicht so falsch lag, in der Corona-Leugner gegen den Vorwurf verteidigte, es zeuge von Antisemtitsmus, dass sie sich Judensterne an die Brust heftetenen: "Dass Martensteins Meinungsäußerung den Rahmen des Sagbaren bei einer durchaus bekannten deutschen Hauptstadtzeitung zu sprengen scheint, ist kein gutes Zeichen. Aber auch nicht verwunderlich. Der deutsche Diskurs neigt zur Enge, und das journalistische Nachahmungsbedürfnis ist ausgeprägt."

In der FR hätte Harry Nutt zwar lieber gesehen, dass sich der Tagesspiegel inhaltlich mit Martensteins Kolumne auseinandersetzt, als den Text einfach aus dem Netz zu löschen. Aber die Argumentation, das Tragen des Judenstern bedeute gerade eine Identifizierung mit Juden hält er für blanken Unsinn. Von Roland Barthes kann jeder lernen, wie der Mythos als räuberisches System den Gegenstädnen Wirklichheit und Geschichte entziehe: "Natürlich ist naiver Zeichengebrauch immer möglich und denkbar, wahrscheinlicher aber dürfte sein, dass die demonstrative Selbststigmatisierung mithilfe eines Judensterns einer politischen Strategie folgt, die die Ablösung vom historischen Kontext in Kauf nimmt oder sogar ausdrücklich impliziert. So gesehen ist es mehr als verständlich, dass die Verwendung des Judensterns als obszön empfunden und als Verharmlosung des Holocausts aufgefasst wird."
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Überwachung

Wir sollten die Verwertung unserer Nutzerdaten nicht den Plattformen überlassen, glaubt der Turiner Philosophie-Professor Maurizio Ferraris, und schlägt vor, dass auch Bildungseinrichtungen oder Krankenkassen im Sinne höherer Werte in den einträglichen Datenhandel einsteigen: "Allein eine Gesellschaft, die neue Werte hervorbringt, statt sich bloß um die verbliebenen Krümel der alten zu zanken, findet auch die Kultur- und Bildungsressourcen und also den finanziellen Spielraum für Fortschritt und braucht nicht über den Untergang zu jammern. Die Plattformen haben die Gesellschaft gelehrt, wie aus ihrem Verhalten ökonomischer Mehrwert abgeschöpft werden kann. Nun gilt es, den Plattformen beizubringen, dass diesem immensen Kapital auch ein kultureller und moralischer Wert innewohnt, den es zu aktivieren gilt. Es hieße, neue Wege zu gehen im unaufhaltsamen Prozess vom Homo Faber zum Homo sapiens."
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Gesellschaft

Wirklich abgestoßen ist Nils Minkmar in der SZ vom Ton, den die deutsche Obrigkeit in ihren Quarantäne-Verfügungen anschlagen. Er zitiert aus einem Brief, den etwa der Leiter des Kölner Gesundheitsamtes auch in erster Person verfasst hat: "Insbesondere gratuliert sich der Amtsleiter selbst zur bestandenen, von ihm selbst vorgenommenen Güterabwägung: 'Unter den mir zur Verfügung stehenden Schutzmaßnahmen habe ich die Quarantäne als diejenige ausgewählt, die verhältnismäßig ist.' So geht das immer weiter, Selbstlob, Drohungen, Belehrungen. Wer an Corona erkrankt ist, hat nun meist andere Sorgen, als zum Beispiel nach Karlsruhe zu ziehen, um das Gesundheitsamt Kölns zu verklagen wegen derlei Anmaßungen und Frechheiten. Es stehen in dem Schreiben Sätze, die auf Sonderfälle wie die komplette Evakuierung Kölns, die Rechtsmittel sowie auf Zwangsmaßnahmen eingehen - aber es steht dort an keiner Stelle dieser schöne Satz: Wir wünschen Ihnen eine gute Besserung. Nicht: Hier finden Sie Hilfe. Nicht: Danke, dass Sie mithelfen, die Pandemie einzudämmen."

In der Welt unterscheidet die Linguistin Heide Wegener zwischen natürlichem Sprachwandel und solchem, der auf "institutionellem Zwang" beruht. Zu letzterem gehört für sie das Gendern: "Genderdeutsch enthält wie die Gallizismen im 18. und deren Verdeutschungen im 19. Jahrhundert Elemente von Mode und von Ideologie. Genderformen verleihen Prestige, gelten derzeit als politisch korrekt. Einerseits gendert man, 'um sich als moderner, liberaler, aufgeklärter Mensch zu zeigen', so der Sprachhistoriker Horst Simon, andererseits um des (empirisch nicht belegten) emanzipatorischen Effektes willen. Wegen seines hohen moralischen Anspruchs entspricht Gendern eher dem politisch korrekten Sprechen im 19. als dem modischen Parlieren im 18. Jahrhundert."

Im FR-Gespräch mit Klaus Walter erklärt dagegen der Medien- und Genderforscher Simon Strick, der gerade das Buch "Rechte Gefühle" veröffentlicht hat, wie digitaler Faschismus funktioniert und weshalb gerade das Thema Gendern für den Kulturkampf von rechts eignet: "Via Genderstern kann wunderbar das Narrativ des Kulturverfalls in die breite Gesellschaft getragen werden, die Gender Studies können dann als vermeintlich ideologische Wissenschaft denunziert werden. Dabei geht es um sehr viel mehr als nur das Sternchen. Wir Genderforscher:innen beschreiben Geschlechterrollen und Geschlechtsmuster in verschiedensten Arten und Weisen. Wie sich das historisch verändert hat, wie Gesellschaft vergeschlechtlicht, dass Frauen lange nicht wählen durften oder nur bestimmten Arbeiten nachgehen konnten und immer noch können. … Der Antigenderismus ist eine Diskursfigur, an der alle möglichen Akteure Anschluss finden: ob jetzt rechtsextrem oder nur rechts oder noch gar nicht entschieden. Da wird ein totalitäres System imaginiert, das den Leuten ihre Freiheiten nehmen will als ganz normaler Mensch, als ganz normaler Bürger."
Archiv: Gesellschaft