9punkt - Die Debattenrundschau

Verdeckte Arbeit und offene Aggression

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.02.2022. Wladimir Putin hat den Krieg gegen die Ukraine begonnen. Russische Truppen dringen nicht nur in die Separatistengebiete vor, Angriffe werden auch auf Kiew und Odessa gemeldet. Putin wird mit seinem imperialen Gebaren auch Russland selbst ins 19. Jahrhundert zurückschicken, ahnt die FR. In der Zeit erinnert Navid Kermani daran, dass die militärische Gewalt nicht erst mit Putin in die Politik zurückkam. SZ und FAZ schaudern über den selbstgefälligen Sadismus des Kreml-Herrschers. Außerdem: Bari Weiss erklärt in der NZZ, warum die Medien so anfällig für die Polarisierung wurden. In der Zeit warnt Alice Schwarzer vor falscher Toleranz in der Trans-Politik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.02.2022 finden Sie hier

Europa

Wladimir Putin hat in der Nacht den Befehl zur Invasion der Ukraine gegeben, das Ausmaß der Angriffe übertrifft die Befürchtungen. Russisches Militär dringt in die Gebiete von Luhansk und Donezk ein, aber auch aus den Städten Kiew und Odessa werden Raketenangriffe gemeldet.


Die Kiewer verlassen offenbar die Stadt:




Das aktuelle Geschehen verfolgen Sie am besten bei Spiegel Online oder der BBC. Die Zeit bringt Putins Kriegserklärung im Wortlaut, in der er ankündigt, die Ukraine "zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren und diejenigen vor Gericht zu bringen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, einschließlich russischer Bürger, begangen haben". Wenige Stunden vor dem Angriff hatte sich der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski mit einer Rede an die Bevölkerung gewandt, die Osteuropa dokumentiert: "Ich habe heute versucht, mit dem Präsidenten Russlands zu telefonieren. Die Antwort war: Stille. "

Die Zeitungen sind natürlich noch auf dem Stand von gestern. In der SZ sieht Daniel Brössler dennoch klargestellt, dass nicht die Osterweiterung der Nato der Grund für Putins Aggressionen sind: "Nicht die Konfrontation mit dem Westen hat Putin zum autoritären Herrscher gemacht. Nicht die Nato-Erweiterung zwingt ihn, Oppositionelle zu vergiften und einsperren zu lassen. Umgekehrt wird die Wirklichkeit daraus. Die Vorstellung, das nach innen repressive Russland könne nach außen ein guter Nachbar sein, war immer bestenfalls naiv."

Putins Kriege stehen in der imperialen Tradition des 19. Jahrhunderts, überlegt Arno Widmann in der FR und schöpft daraus eine gewisse, wenn auch eher langfristige Hoffnung: "Es sind dieselben Orte, um die gekämpft wird, es sind dieselben Verfahren. Die Mischung aus geheimdienstlicher, verdeckter Arbeit und offener Aggression. Getragen von dem Bewusstsein, ein Anrecht auf diese Territorien oder doch auf die Kontrolle über sie zu haben. Die imperialistischen Großmächte des 18. Jahrhunderts haben ihre Imperien verloren. Die Kolonialreiche sind zerbrochen. Einzig Russland steht wie ein einzelner überlebender Saurier noch in einer völlig veränderten Landschaft. Ohne die Atombombe läge auch er schon am Boden... Russland ist in den vergangenen dreißig Jahre weder ökonomisch noch politisch vorangekommen. Es zerrüttet sich - wie vor mehr als einhundert Jahren das Zarenreich, wie vor dreißig Jahren die Sowjetunion - in der Anstrengung, eine imperiale Macht wiederherzustellen, für die es in Wahrheit stets mehr zahlte, als sie ihm einbrachte."

In der Zeit erinnert Navid Kermani daran, dass die USA mit ihrem Einmarsch in den Irak die militärische Gewalt wieder zu einem Mittel der Weltpolitik machten, und dass tatsächlich in ganz Russland der Eindruck herrsche, die Nato habe ihr Versprechen gebrochen: "Putin rührt an ein Gefühl, das in Teilen der russischen Bevölkerung, berechtigt oder nicht, nun einmal existiert. Das macht seine Schimpfkanonade so gefährlich. Aber richtig ist auch: Moskau hat ebenfalls ein Versprechen gebrochen, das in diesem Fall sogar 1994 vertraglich festgehalten worden ist, als die Ukraine auf ihr atomares Arsenal verzichtete, nämlich deren Souveränität in den bestehenden Grenzen zu respektieren."

Gewaltherrscher genießen ihren schlechten Ruf, weiß die in Wien lebende ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk in der SZ, meist bemühen sie sich sogar, ihn zu bestärken: "Noch erzählt man, es gab während des Stalinismus im Kreml eine separate Stelle für den Hosenwechsler. Männer, die auf dem Flur auf eine Audienz mit dem Diktator warteten, seine unzähligen Beamten und Kommissare, seine Funktionäre und Mörder, machten vor lauter Angst oft in die Hose, die dann sofort ausgetauscht werden mussten. Ähnliches könnte dem Chef der russischen Auslandsspionage kürzlich passiert sein, als er sich vor Wladimir Putin im Sicherheitsrat für die Anerkennung der von der Ukraine abtrünnigen Republiken Donezk und Luhansk aussprach. Die Angst hatte den Mann so sehr verwirrt, dass er kaum einen Satz herausbringen konnte und Anerkennung mit Einverleibung verwechselte."

Nicht einmal die Leute in den innersten Moskauer Zirkeln glauben noch an die Märchen, die Wladimir Putin erzählt, betont Nikolai Klimeniouk in der FAZ mit Blick auf die finstere Inszenierung vom Montag im Prunksaal des Kremls. Aber bitte kein falsches Mitleid mit dem gedemütigten Geheimdienstchef: "Als ich Sergej Naryschkin vor etwa zehn Jahren bei einem 'Hintergrundgespräch' mit einer kleinen Gruppe von Chefredakteuren in der Nachrichtenagentur Interfax erlebte, war er derjenige, der dieses selbstgefällige sadistische Grinsen trug, während er, damals als Dumasprecher, eine neue Portion der repressiven Gesetze ankündigte. In seine Amtszeit fielen die Anti-Homosexuellen- und die Anti-NGO-Gesetze und die drastische Verschärfung des Versammlungsrechts. Das Einzige, was an ihm auffiel außer diesem Grinsen, war seine Uhr, die deutlich mehr kostete, als die meisten in der Runde im Jahr verdienten."

In der Welt ruft Deniz Yücel jenen Linken, die immer noch "superviel Verständnis" für Putin aufbringen, entgegen: Putin ist nicht der Mann der Systemkonkurrenz: "Selbst unter Breschnew formulierte die Sowjetunion nicht nur weltpolitische Machtansprüche, sondern versuchte, diese mit einer großen geschichtsphilosophischen Erzählung zu untermauern. Sie verfolgte ein eigenes, vom Weltmarkt abgeschirmtes Entwicklungsmodell, das auf so manche junge Intellektuelle und Offiziere fast in der gesamten Dritten Welt anziehend wirkte."

Weiteres: In der taz glaubt der Politikwissenschaftler Johannes Varwick, dass der Westen Russland hätte weiter entgegenkommen müssen. Der Mittelweg jedenfalls sei fatal: "Die Ukraine ist im russischen Einflussgebiet, solange wir nicht bereit sind, für sie in den Krieg zu ziehen, sie jetzt also schnell in die Nato aufzunehmen und dann daraus einen Bündnisfall zu machen." Vergangene Woche beschrieb die estnisch-finnische Autorin Sofi Oksanen in der Zeit, was "Finnlandisierung" ist - die freiwillige Unterwerfung unter den mächtigen Nachbarn (unser Resümee). Damit soll nun Schluss sein, schreibt der in Finnland lebende Schriftsteller Stefan Moster heute in der NZZ, das Land will in die Nato.
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Gesellschaft

Grüne und FDP arbeiten an einem Selbstbestimmungssetz, nach dem bereits Jugendliche ab einem Alter von 14 Jahren ihr Geschlechtsangaben juristisch ändern lassen könnten - und zwar via Sprechakt. Gut so, meint Ronen Steinke in der SZ, was geht's den Staat an, was jemand in der Hose hat: "Wenn der Staat den Menschen etwas verbieten möchte (zum Beispiel: ihr Geschlecht selbst zu bestimmen), dann muss er dies mit einer Gefahr für die Rechte anderer Bürger begründen können. Das Bundesverfassungsgericht hat dies der Politik just am Beispiel der trans Personen in den vergangenen Jahren wieder und wieder erklärt. Der Staat muss liberaler sein als die Gesellschaft."

In der Zeit widerspricht Alice Schwarzer vehement. Meist bleibe es ja nicht bei der rechtlichen Änderung des Personenstands, es folgen oft lebenslange Hormongaben und schwere operative Eingriffe. Das sei reaktionär und gefährlich: "Allen voran propagieren die Grünen eine quasi unbegrenzte 'Toleranz' in der Trans-Politik. Doch bei näherem Hinsehen entpuppt die sich als Auslieferung von Jugendlichen und Frauen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Grünen sich in der Sexualpolitik verrennen. In den Achtziger- und Neunzigerjahren wollten sie im Namen der 'sexuellen Freiheit' und 'Selbstbestimmung' die Sexualität Erwachsener mit Kindern legalisieren. Und als Feministinnen wie ich sich dagegenstellten und Täter und Opfer benannten, wurden wir als prüde und rückschrittlich bezeichnet, ja sogar des 'Missbrauchs vom Missbrauch', also der falschen Anschuldigungen, bezichtigt. Jetzt, wo wir auf die ungeheuren Gefahren einer geschlechtlichen 'Selbstbestimmung' gerade für Kinder und Jugendliche aufmerksam machen, werden wir als 'transfeindlich' diffamiert. Diese Art Scheintoleranz ist auf den immer gleichen Kern zurückzuführen: auf das Leugnen der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern wie den Generationen."

In der taz trägt Simon Borowiak mit Gedanken aus dem Leben eines Trans-Mannes zur Debatte bei.
Archiv: Gesellschaft

Medien

Im NZZ-Interview erklärt die geschasste New-York-Times-Redakteurin Bari Weiss, warum Medien so anfällig geworden sind für eine politische Polarisierung: "Da heute nicht mehr die Werbekunden, sondern die Leser, die Zuhörer oder die Zuschauer die Rechnung der Redaktionen zahlen, ändert das die Anreize und die Herausforderungen für die Journalisten völlig. Sie müssen das Publikum zufriedenstellen. Das habe ich bei der New York Times gespürt: Wer einen weiteren Meinungsartikel darüber schreibt, dass Donald Trump ein ekelhaftes moralisches Monster sei, wird auf Platz eins landen... Es geht nur noch darum, dem Publikum eine Art politisches Heroin zu verabreichen. In Umfragen hat die New York Times herausgefunden, dass etwa 95 Prozent ihrer Leser sich als Demokraten, Liberale und Progressive bezeichnen. Das erklärt die politische Richtung, in die sie geht. Fox News wiederum wird hauptsächlich von Konservativen und Republikanern gesehen. Das Prinzip ist aber dasselbe."

In der Welt geht Christian Thomas nochmal dem Clinch zwischen Harald Martenstein und dem Tagesspiegel nach. (Unsere Resümees) Man habe Martenstein angeboten, dass er "die Kolumne online nachträglich noch einmal bearbeiten könnte, um den strittigen Punkt besser einzuordnen, worauf der Autor aber nicht eingegangen" sei, heißt aus der Chefredaktion, Martenstein bestreitet das vehement: "So steht Aussage gegen Aussage."
Archiv: Medien