9punkt - Die Debattenrundschau

Obervolta mit Atomraketen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.02.2022. In der SZ beklagt Vladimir Sorokin, dass sich in Russland das Prinzip der absoluten Macht seit Iwan dem Schrecklichen nicht geändert habe. Die FR seziert Putins Maskulinismus und das russische Militär als Schule brutaler Gewalt. In der FAZ kann Viktor Jerofejew keine großen Hoffnungen mehr auf den Westen setzen. Auch The Atlantic bemerkt die Beschämung Europas. In der taz fragt Nora Bossong, warum es ihrer Generation nicht gelungen sei, eine politische Haltung zu entwickeln. Außerdem: In der WamS zieht Harald Martenstein gegen den "Totalitarismus" der Wokeness zu Felde. In der Berliner Zeitung erklärt Svenja Flaßpöhler den Shitstorm als massenhafte Gefühlsansteckung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.02.2022 finden Sie hier

Europa

Das Monster, dem die Welt nun in die Augen sehen muss, ist nicht plötzlich in Wladimir Putin erwacht, sondern allmählich gewachsen, schreibt der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin in der SZ, "berauscht von absoluter Macht, imperialer Aggressivität und Gehässigkeit". Doch es ist nicht die Person Putin, die Russlands große Tragödie darstellt, betont Sorokin, sondern die seit Jahrhunderten unveränderten Machtprinzipien: "In Russland war und ist die Macht pyramidal strukturiert. Errichtet wurde diese Pyramide im 16. Jahrhundert durch Iwan den Schrecklichen, einen grausamen Zaren, von Paranoia besessen, Lastern verfallen. Mit Hilfe seiner Leibgarde, der Opritschnina, trieb er einen blutigen Keil zwischen Macht und Volk, die Eigenen und die Fremden. Iwan war überzeugt, dass Russland nur auf eine Weise zu lenken war: Man musste Besitz ergreifen, Okkupant im eigenen Land sein. Es bedurfte einer Macht, die grausam und für das Volk nicht zu durchschauen war. Dem Volk blieb, sie anzubeten. Wer an der Spitze der dunklen Pyramide saß, hatte alle Rechte und die absolute Macht."

Im taz-Interview mit Andreas Fanizadeh betont die Moskauer Historikerin Irina Scherbakowa, dass Putins Krieg durchaus seiner großrussisch-imperialen Weltsicht entspreche, aber nicht nur: "Nach Putins Rede gibt es die Ukraine als unabhängigen und souveränen Staat gar nicht. Er leugnet die Geschichte und sagt, man hätte die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 nicht gehen lassen sollen. Sie sei einzig ein Sprungbrett für Nato, Amerika, Neonazis und Nationalisten. Dieses völlig falsche Bild von der heutigen Ukraine war auch im Westen präsent. Ja, der Weg der Ukraine in Richtung Demokratie ist ein mühseliger. Seit 2014 und den Ereignissen auf der Krim unterliegt sie zudem einem kriegerischen Konflikt. Es gibt starke Probleme mit Korruption, die ein schwacher Staat nicht so leicht beseitigen kann. Aber es ist eine starke, sich entwickelnde Zivilgesellschaft entstanden, die ihre Meinung anders als im heutigen Russland offen äußern kann. Vor allem auch bei Wahlen. Und eben diese Entwicklung will die russische Führung stoppen. Das wurde auch am Beispiel von Belarus schon klar deutlich."

In der FAZ blickt der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew düster in die Zukunft, auf Europa kann er keine Hoffnung setzen: "Je mehr ich mich in den vergangenen Jahren mit den Ereignissen in der Ukraine beschäftigt habe, desto skeptischer sehe ich den Westen. Er hat nicht nur die Krim-Annexion geschluckt. Er war schon drauf und dran, Nord Stream 2 unter Umgehung der Ukraine in Betrieb zu nehmen. Er hat sich mehr als einmal herabgelassen, nach der Pfeife Moskaus zu tanzen, entweder aus eigennützigen Überlegungen oder um sich von Amerika abzusetzen oder wie die Taxifahrer in Berlin, Paris oder Rom Putin ehrlich gut zu finden, denn er ist ja einer von ihnen. In der derzeitigen Tragödie wird der Westen für sich selbst seine eigene historische Rolle wählen. Auf die Ukraine kommen schwere Zeiten zu. Aber das Unglück wird vorübergehend sein. Russland hat sich selbst zur Zielscheibe gemacht. Was sich daraus ergeben wird, ist unklar. Wird es noch Kraft haben für eine neue Runde Perestroika und Freiheit, oder wird es zugrunde gehen - das weiß niemand."

Außerdem versammelt die SZ empörte, entsetzte, fassungslose Stimmen ukrainischer und russischer KünstlerInnen, von Katja Petrowskaja bis Dmitri Kapitelman. In der taz berichtet Klaus-Helge Donath aus Moskau auch von einem "beispiellos brutalen Vorgehen" der russischen Sicherheitskräfte gegen Demonstranten, die gegen den Angriffskrieg protestierten. Für die FAS hält die Designerin Diana Berg den Beginn des Krieges in einem Tagebuch fest: "Wache auf und der Krieg hat begonnen. Fühle Erleichterung: Endlich wissen wir, was zu tun ist. Unsere Sachen packen, unsere Papiere, unsere Kunstwerke, unsere Hochzeits-Ikone (unsere Hochzeit war wirklich cool, mit der Ikone der heiligen Mutante), Ladekabel für alle Geräte, und dann zum Verteidigungstreffpunkt. Wir werden nicht fliehen, bevor es unmöglich wird zu bleiben."
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Ideen

In der FR seziert Ute Scheub, ganz feministische Pazifistin, den aggressiven Maskulinismus, für den sich Putin in Russland bewundern ließ: "Großmannssucht, das ist die Sehnsucht des kleinen Mannes nach übernatürlicher Größe - und dabei spielt die Armee als fiktive Ausdehnung des eigenen Körpers eine zentrale Rolle. Dass sie auch in Russland eine Schule brutaler Gewalt ist, wird aus dem öffentlichen Bewusstsein jedoch ausgeblendet. Dedowtschina heißt das sadistische System von Drill und Folter, das viele junge Soldaten zu traumatisierten Krüppeln macht. Wenn sie sich Ded - dem Großvater, also älteren und ranghöheren Soldaten - nicht bedingungslos unterwerfen, werden sie bestraft und gefoltert, oft auch vergewaltigt und sexuell misshandelt. Sind sie aber in der Militärhierarchie aufgestiegen, dürfen sie ihrerseits die Jüngeren grausam behandeln. Nach einer älteren Schätzung des 'Komitees der Soldatenmütter Russlands' forderte die Dedowtschina jährlich die unvorstellbare Zahl von rund 3000 Todesopfern."

Die 1982 geborene Schriftstellerin Nora Bossong denkt über politische Errungenschaften ihrer Generation nach und muss ein etwas beschämendes Fazit ziehen. Selbst angesichts der Jugoslawienkriege und des Irakkriegs, der Völkermorde in Srebrenica und Ruanda sei es dieser Generation nicht gelungen, eine politische Haltung zu entwickeln. "Den Krieg in Europa zu verhindern, das ist die Verantwortung meiner Generation, die das Glück hatte, in Frieden aufzuwachsen. Das ist uns nicht gelungen. So wenig, wie es uns gelungen ist, die Klimakatastrophe rechtzeitig zu adressieren. Was ist jetzt von unserer Verantwortung übrig? Nicht viel und eine Menge. Sie kann sich nicht in Klatschen erschöpfen oder darin, in den sozialen Medien die ukrainische Flagge zu posten. Unsere Generation muss zu einer genuin politischen Haltung finden, die die Demokratie so stark macht, das sie nicht vor Putins militärischer Aggression in die Knie geht."

Die Demokratie lebt von Ergebnisoffenheit, aber auch von einer gewissen Begrenztheit des Politischen, meint der Soziologe Armin Nassehi auf ZeitOnline: "Für Putin ist die größte Bedrohung die ergebnisoffene Demokratie, für die Demokratie ist die größte Bedrohung die Fähigkeit Russlands und Chinas zur Brutalität - einer Brutalität, deren Legitimation eben nicht im Ausgleich von Unterschiedlichem, sondern in der identitären Idee der gesellschaftlich-politischen Einheit liegt, die das Individuelle hasst wie der Teufel das Weihwasser. Im Falle Russlands wird darin auch deutlich, wie impotent am Ende eine Ökonomie und eine politische Form wird, wenn sie ganz auf die Potenziale der Ergebnisoffenheit und der Selbstkorrektur verzichtet. Für eine Ökonomie, die fast ausschließlich auf der Erschließung fossiler, also bald endlicher Energieträger basiert, braucht es auch keine Ergebnisoffenheit, weil sie am Ende impotent bleiben muss. In diesen Tagen sollte man sich an Helmut Schmidts Charakterisierung der Sowjetunion als 'Obervolta mit Atomraketen' erinnern - Obervolta heißt heute Burkina Faso, das ist der einzige Unterschied."
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Politik

In The Atlantic registriert Tom McTague sehr genau, mit welcher Beschämung deutsche Militärs und Politik die geringe Verteidigungsfähigkeit Deutschlands kommentieren: "In Deutschland ist die Schande vielleicht am offensichtlichsten. Die führende Macht in Europa findet nicht die Kraft zu führen, kann ihr Militär nicht angemessen finanzieren und findet erst jetzt den Mut, ihre wirtschaftlichen Interessen von ihrer Verantwortung gegenüber dem westlichen Bündnis, das ihre Sicherheit gewährleistet, zu trennen. Aber überall in Europa sieht man das Gleiche: ein italienischer Politiker trägt ein Putin-T-Shirt, eine österreichische Politikerin tanzt mit dem russischen Staatschef auf ihrer Hochzeit, der ungarische Ministerpräsident kuschelt in Moskau mit ihm. Jeder weiß, wie schändlich dieses Verhalten ist, aber selbst jetzt kämpfen wir damit, uns mit unserer Unzulänglichkeit abzufinden, und suchen nach Wegen, um die unvermeidlichen Schmerzen zu vermeiden, die mit jeder sinnvollen Sanktion gegen den russischen Staat einhergehen wird."

In einem Kommentar für die Internationale Politik hält Richard Herzinger dem Westen Fehleinschätzungen und Lebenslügen vor und fordert endlich mehr Entschlossenheit: "Putin will keine 'Sicherheitsgarantien' und schon gar keinen Frieden. Er will den Krieg, denn seine Herrschaft gründet sich auf ihn. Um ihm noch in den Arm zu fallen, muss ihn der Westen jetzt ohne weiteren Verzug das volle Gewicht seiner Macht spüren lassen. Putins Russland muss politisch und wirtschaftlich vollständig isoliert werden, ihm muss der Zugang zum internationalen Finanzsystem abgeschnitten, es müssen möglichst sämtliche Handelsbeziehungen ausgesetzt werden, Gespräche mit dem russischen Regime auf höherer Ebene dürfen nur noch unter der Bedingung stattfinden, dass es seinen Krieg gegen die Ukraine augenblicklich einstellt. Bis dies geschieht, muss die Ukraine massiv mit westlichem Kriegsgerät zu ihrer Selbstverteidigung beliefert werden."

In der taz schildert die amerikanische Journalistin Brenda Wilson, wie schwer es Washington fällt, den Krieg gegen die Ukraine in ein politisches Raster zu pressen: "Einerseits behaupten diverse Republikaner, dass Putin sich nur traue, gegen die Ukraine vorzugehen, weil Bidens Schwäche ihm das erlaube. Manche Demokraten sagen hingegen, hier sehe man die Folge Trump'scher Unterwürfigkeit gegenüber dem starken Mann aus Moskau. Einige Republikaner sind sich mit Leuten auf der Linken darin einig, dass Putin durchaus das Recht habe, Russland vor einer vermeintlichen Bedrohung seiner Sicherheit zu bewahren, und deshalb den Konflikt im Osten der Ukraine schüre."
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Gesellschaft

In ihrer muslimisch-jüdischen Abendbrot-Kolumne in der FAZ spießen Saba-Nur Cheema und Meron Mendel eine Reihe von Aberwitzigkeiten auf, die mit dem Kampf gegen kulturelle Aneignung einhergehen, und sehen am Ende den ganzen Glauben an kulturelle Reinheit verfehlt: "Wenn man es schafft, nicht über kulinarischen Besitz zu streiten, sondern eine gemeinsame Kochkultur zu entwickeln, entstehen nicht nur köstliche Gerichte, sondern auch Ansätze für eine Verständigung - wie im Kochbuch 'Jerusalem' des palästinensischen Kochs Sami Tamimi und des israelischen Kochs Yotam Ottolenghi. Vielleicht sollte das Konzept der Fusion-Küche auch auf andere Aneignungsformen übertragen werden? Weder überkommene Klischees, schlechte Traditionen noch vermeintlicher kultureller Besitz brauchen Fürsprecher. Stattdessen sollten wir kulturelle Neugier belohnen - und uns bemühen, auf ihrer Basis gemeinsam etwas Neues zu erschaffen."
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Medien

Er habe keinen einzigen Leserbrief nach seiner Kolumne erhalten, erst nach einem SZ-Text von Meredith Haaf (Unser Resümee), zwei weiteren auf Spiegel Online und T-online und den entsprechenden Twitter-Reaktionen sei sein Text nach mehr als einer Woche vom Tagesspiegel gelöscht worden, schreibt Harald Martenstein in der Wams: "Kann es sein, dass es die angebliche Protestwelle von Lesern gegen diesen Text gar nicht gab? Sondern nur eine interne, infolge des Cancel-Aufrufes in der Süddeutschen? Ich bin nicht wichtig. Der Tagesspiegel ist nicht wichtig. Wozu also diese Geschichte? Sie handelt von etwas Wichtigem, der Meinungsfreiheit. Manche denken bei Storys wie dieser vielleicht 'DDR 2.0', Parallelen sind unübersehbar. Aber das trifft es nicht. Nach Nationalismus und Kommunismus wächst eine neue totalitäre Ideologie heran, ich nenne sie 'identitär', andere 'woke'. Vom Nationalismus hat sie das Stammesdenken, wir sind besonders wertvoll. Vom Marxismus hat sie die irre Idee geborgt, sie sei keine Meinung, sondern eine Wissenschaft. Sie hat edle Ziele, den Kampf gegen Rassismus und Diskriminierungen zum Beispiel. Aber sie will die ganze Macht, sie ist unduldsam, sie kann skrupellos sein und brutal, um Andersdenkende auszuschalten. In den Medien wird sie immer mächtiger."

"Ein Shitstorm ist etwas anderes als kollektiver Einspruch", sagt die Philosophin Svenja Flaßpöhler im Gespräch mit der Berliner Zeitung: "Der Shitstorm hat eine Eigendynamik, die angetrieben wird durch rasante Gefühlsübertragung. David Hume hat diesen Mechanismus bereits im 18. Jahrhundert beschrieben: Wenn du traurig bist, bin ich auch traurig, dein Gefühl springt auf mich über, weil ich mich in dir erkenne. Und je ähnlicher Menschen sich sind, je mehr sie miteinander teilen, Herkunft, Überzeugungen, was auch immer, desto besser funktioniert dieser Reflex. Man 'teilt sofort die Stimmung seiner Umgebung', wie Hume schreibt. Max Scheler wird später von 'Gefühlsansteckungen' sprechen, die sich schnell zu Massenerregungen auswachsen. Die sozialen Medien sind ganz in diesem Sinne Ansteckungsmaschinen, die eine Kraft in Gang setzen, die niemand mehr unter Kontrolle hat. Umso problematischer ist, dass Journalisten auf Twitter sich ebenfalls anstecken lassen und dann gerne mal am nächsten Tag im Feuilleton alle dasselbe schreiben."
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