9punkt - Die Debattenrundschau

Keinerlei Anlass zur Hoffnung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.03.2022. Die Russen sollen auf Atomkraftwerke gefeuert haben - der Brand auf dem Gelände von Saporischschja sei aber inzwischen gelöscht, melden die Live-Blogs. Auf Twitter schlägt die Stunde der Militärexperten, der ehemalige General Mick Ryan beschreibt, was Häuserkampf bedeutet. Der Westen muss mehr tun, fordert Michail Chodorkowski im Guardian. Besonders die Putin zu Diensten stehenden Oligarchen sollten bestraft werden. Die Zeitschrift Jewish Currents zeichnet ein Porträt des Putin-Getreuen Roman Abramowitsch. taz und FAZ hoffen auf die russische Zivilgesellschaft. In der Welt kritisiert Thomas Schmid die Heuchelei der deutschen Friedensbewegung und ihrer plötzlichen Ukraine-Solidarität.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.03.2022 finden Sie hier

Europa

Tag 9 in Putins Krieg gegen die Ukraine ist angebrochen. Putin scheint fest entschlossen, eine Apokalypse anzurichten. Laut New York Times (hier), Guardian (hier) und Spiegel online (hier) lässt der russische Diktator die Atomanlage Saporischschja (englisch Zaporizhzhia) beschießen. Laut Zeit online (hier) ist das AKW inzwischen von den Russen besetzt, die Brände sollen gelöscht sein.

Auf Twitter schlägt die Stunde der Militärexperten. Laut dem ehemaligen General Mick Ryan könnte ein Häuserkampf oder zumindest ein intensiver Krieg in Städten bevorstehenden, der auch bei Soldaten extrem gefürchtet ist, wie Ryan in einem langen Thread darlegt. Putin hat in Grosny und Idlib gezeigt, mit welchen Mitteln er ihn zu führen bereit ist. "Wir werden eine Eskalation der Gewalt erleben, wenn die Russen diese Schlacht um die Städte fortsetzen. Wir haben gesehen, wie verzweifelt sie in den letzten 24 Stunden mit dem Einsatz von Artillerie, Raketen und möglicherweise thermobarischen Waffen in und um zivile Gebiete nach taktischen Erfolgen suchten."

Auch Kenneth Roth fürchtet im Guardian eine Brutalisierung des Krieges in den Städten, gerade wenn die Gegenseite sich wehrt: "Das russische Militär hat in der Vergangenheit einen solchen Widerstand mit schwerwiegenden Verstößen gegen das Kriegsrecht beantwortet, einschließlich der absichtlichen Bombardierung von Zivilisten, die wahllosen und unverhältnismäßigen Angriffen ausgesetzt waren... 2015 und 2016 haben russische und syrische Bombenangriffe die von der Opposition gehaltenen Teile von Ost-Aleppo, der bevölkerungsreichsten Stadt des Landes, weitgehend verwüstet. Die Bewohner litten unter einer schweren Belagerung und wahllosen Angriffen mit Streumunition und Fassbomben, Brandwaffen und hochexplosiven Bomben, so dass die Oppositionskräfte schließlich kapitulierten."

Nach innen betreibt Putin ebenfalls totale Repression. Die letzten unabhängigen Medien werden ausgeschaltet (mehr dazu im Tagesspiegel), Friedensdemos ziehen schärfste Strafen nach sich, schreibt Barbara Oertel in der taz: "Doch ob alle diese Maßnahmen die gewünschte Wirkung entfalten, darf bezweifelt werden. So wenig, wie Präsident Wladimir Putin die Ukrainer*innen kennt, die seine Truppen zur Begrüßung nicht mit Brot und Salz empfangen haben, so schlecht kennt er offensichtlich auch seine eigenen Landsleute. Will heißen: Offensichtlich hat das Lügengebäude, die 'Spezialoperation' diene der Demilitarisierung und 'Entnazifizierung' der Ukraine, erste Risse bekommen."

Auch FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt berichtet: "Trotz der Gefahren reißen die Proteste in russischen Städten nicht ab. Tausende sind schon festgenommen worden. Die Generalstaatsanwaltschaft warnt nun vor der Teilnahme an den Aktionen, die gar als 'extremistisch' gewertet werden könnten. Das würde bis zu sechs Jahre Haft bedeuten und ist offenbar eine Reaktion auf einen Protestaufruf des inhaftierten Oppositionsführers Alexej Nawalny, dessen Strukturen unter solchen Vorwürfen verboten worden sind."

Dennoch wird sich die Mehrheit der russischen Bevölkerung nicht gegen Putin stellen, fürchtet Ulrich M. Schmid in der NZZ, obwohl unerwartet viele gegen den Krieg protestieren. Aber es ist einfach zu gefährlich. Und auch "die Propaganda in den Staatsmedien läuft auf vollen Touren und hämmert den Zuschauern seit Jahren ein westliches Aggressionsszenario ein. Die Gesellschaft befindet sich in einem geistigen Belagerungszustand: Innere und äußere Feinde bedrohen angeblich die Sicherheit Russlands. Eine satte Mehrheit der Bevölkerung glaubt, dass die Nato eine aggressive Organisation ist und dass der Euromaidan vom CIA ins Leben gerufen und gesteuert wurde. Eine weitverbreitete Selbstschutzstrategie lautet: 'Wir alle wollen Frieden.' Allerdings getrauen sich nur wenige, den russischen Überfall auf die Ukraine vorbehaltlos zu verurteilen."

Schafft die Atomwaffen ab, fordern in der SZ die Friedensnobelpreisträger Beatrice Fihn und Dmitri Muratow: "Das Schicksal der Menschheit hängt heute von der Besonnenheit einiger weniger Regierungen ab, die über fast 13 000 Atomwaffen verfügen. Ein furchterregendes Potenzial, das die Erde um ein Vielfaches zerstören könnte. ... Solange es Atomwaffen gibt, besteht auch die Gefahr ihres Einsatzes. Die Welt kann nicht länger den Atem anhalten und sich auf die Vernunft einer Handvoll Staatsoberhäupter verlassen, die die Macht haben, uns alle zu vernichten. Wir müssen diese Massenvernichtungswaffen abschaffen."

In der taz erzählt Anastasia Magasowa, wie sie die Nacht auf gestern in Kiew erlebte: "Es gibt immer noch nicht genügend Lebensmittel und Medikamente, aber morgens ist es mir gelungen, frisches Brot, Butter und ein bisschen Trinkwasser zu bekommen. Auch das sind gute Nachrichten. In der Stadt gibt es auch immer noch Strom, Heizung, Wasserversorgung und Internet. Wären keine russischen Raketen am Himmel und Panzer auf den Zufahrtsstraßen, könnte man denken, es sei alles wie gewöhnlich."

Die Welt publiziert das - immer wieder aktualisierte - Tagebuch des Übersetzers Juri Durkot, der den Krieg in Lemberg erlebt. Die Galizier waren schon immer immuner gegen die russische Propaganda als der Westen, notierte er gestern abend: "Die relative Immunität der Galizier gegen die Sowjetlügen wurzelt in der Geschichte ...  Im heutigen Russland gibt es keine kommunistische Ideologie mehr. Es hat sich aber erwiesen, dass ein Cocktail aus Staatskapitalismus, Korruption, Revanchismus und von Lügen getränkten sozialen Netzwerken viel aggressiver und ansteckender ist als der Kommunismus mit seiner recht primitiven Propaganda. Es scheint, dass der Westen mittlerweile diese Lektion gelernt hat. Ob die neu gewonnene Immunität gegen die russischen Lügen die Welt retten wird, ist schwer zu sagen. Die Ukrainer zahlen heute den höchsten Preis für die jahrzehntelange Blindheit westlicher Demokratien."

Durkot ist auch der Übersetzer des ukrainischen Dichters Serhij Zhadan. Wer Ukrainisch lesen kann oder versteht, findet hier Zhadans Instagram-Einträge zum Krieg.

David Klion zeichnet in der linken jüdischen Zeitschrift Jewish Currents ein ausführliches und faszinierendes Porträt des Oligarchen Roman Abramowitsch, der als ein enger Verbündeter Wladimir Putins gilt. Durch die Sanktionen gerät er unter Druck. Gerade hat er seinen britischen Fußballclub Chelsea zum Verkauf gestellt. Das Porträt dürfte sich auch für manche jüdische Organisationen ungemütlich lesen, denn er gilt als der wichtigste Spender für jüdische Belange - über eine halbe Milliarde Dollar soll er ausgegeben haben, etwa "für das Gedeihen großer jüdischer Museen von Russland bis nach Israel, für eine Reihe von Anti-Antisemitismus-Programmen, an denen führende amerikanische und britische jüdische Organisationen beteiligt sind, und für die Ausweitung israelischer Siedlungen in Ost-Jerusalem. Nun, da Putins Russland zu einem globalen Paria wird, ist die jüdische Welt gezwungen, mit ihrem innigen Verhältnis zu Abramowitsch und mit den moralischen Kosten der Annahme seines Geldes zu abzurechnen."

Der Westen muss mehr tun. Selbst die bisherigen Sanktionen reichen nicht aus, findet Michail Chodorkowski im Guardian: "Es reicht nicht, die Banken zu sanktionieren. Es reicht nicht, Putin zu sanktionieren. Es ist Zeit, die Sanktionen gegen die Oligarchen, die sein Geld besitzen, zu verschärfen. Wir alle kennen ihre Namen, so sehr sie auch die englischen Gerichte missbrauchen, um uns daran zu hindern, sie zu verwenden. Niemand sollte davon ausgenommen sein. Es gibt keine moralische Legitimität für halbgare, zweideutige Plattitüden darüber, dass 'Krieg keine Lösung ist', wenn man das Geld des Mannes besitzt, der ihn führt."

Françoise Thom erinnert in Desk-Russie.fr an die Anfänge des lange Zeit in Deutschland und Frankreich so beliebten Wladimir Putin - die direkt in die Aktualität weisen: "Unmittelbar nach seiner Ernennung zum Regierungschef durch Jelzin nahm er sich vor, die Hemmschwelle der russischen Bürger, Gewalt anzuwenden, zu beseitigen. Dies gelang dank der Terroranschläge vom September 1999, die ohne Beweise den Tschetschenen angelastet wurden (während der FSB von den Bewohnern eines Gebäudes bei der Platzierung von Sprengstoff ertappt wurde) und es Putin ermöglichten, einen verheerenden Krieg gegen Tschetschenien zu beginnen. Dieser Krieg diente ihm als Wahlkampfmunition im Jahr 2000. Er führte zu Hassreden im russischen Fernsehen und löste eine Welle des Chauvinismus aus, auf der Putin bis heute reitet."

"Das Schlimmste steht noch bevor." So verlautete es aus dem französischen Außenministerium nach einem Gespräch, das Emmanuel Macron mit Putin führte. Michaela Wiegel resümiert in der FAZ: " In dem neunzigminütigen Gespräch, das von 'klinischer Kälte' gekennzeichnet war, habe Putin sein Kriegsziel formuliert: die totale Unterwerfung der Ukraine. Es gebe keinerlei Anlass zur Hoffnung mehr, dass der Kreml-Herrscher etwas anderes als die vollständige Eroberung des ukrainischen Staatsgebietes zum Ziel habe, hieß es im Elysée." Putin war an Verhandlungsergebnissen nie interessiert, meint im Interview mit Zeit online auch der Russland- und Ukraine-Experte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations: "Er hat alle Verhandlungen und Kompromisse ausgeschlagen, weil er den Krieg wollte. Und dieser Krieg zielt auf die ganze Ukraine, auf die Errichtung eines Satellitenregimes und auf eine Eingliederung der Ukraine in den russisch-belarussischen Unionsstaat. Das ist, was Putin haben will."

Außerdem: In der taz erklärt der Jurist Christian Marxsen im Gespräch mit Christian Jakob die Chancen, völkerrechtlich gegen Russland vorzugehen - allzu groß scheinen sie nicht zu sein. Ebenfalls in der taz macht sich Thomas Gerlach Sorgen um Weltkulturerbestätten in Kiew und Charkiw. In der FAZ kommt Markus Wehner nochmal auf den von Putin beauftragten Mord an einem Tschetschenen vor zwei Jahren in Berlin zurück - die Bundesregierung habe damals falsch reagiert. Bei den russischen Raketenangriffen auf die Ukraine wurde auch die Holocaust-Gedenkstätte Babi Jar bei Kiew getroffen. Dabei sind fünf Menschen ums Leben gekommen. Im Interview mit der NZZ erklärt deren künstlerischer Leiter Ilja Chrschanovski bitter, es sei nicht die Ukraine, die "entnazifiziert" werden müsse. Aber dann geht es etwas durch mit ihm, wenn er meint, dass Putin "sozusagen die Deutschen von ihrem Gefühl der Schuld erlöst und diese Schuld nach Russland gebracht" habe. In der FAZ erzählt Joseph Croitoru, wie groß die allgemeine Bewunderung für Israel in der Ukraine sei. Die Selbstverteidigung Israels werde als Vorbild gefeiert, allerdings auch in rechtextremen Kreisen in der Ukraine. Ebenfalls in der FAZ durchleuchtet Stefan Herwig die Aktionen der Hackergruppe Anonymous gegen die russischen Propaganda.
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Thomas Schmid staunt in seinem Blog über den Konsens, mit dem der von Olaf Scholz ausgerufene Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik aufgenommen wurde. Die Kehrtwende war überfällig, findet Schmid, "es bleibt aber politisch und intellektuell unredlich, wenn dieser Abschied von einem ganzen Bündel alter Gewissheiten augenblicklich als eine - erfreuliche oder bedauerliche - Selbstverständlichkeit angesehen wird". Wäre nicht auch Selbstkritik fällig? "Die heutige Friedensbewegung maßt sich in unanständiger Weise an, das geistige Dach der Solidaritätsbewegung für die Ukraine zu sein. Wäre sie aufrichtig, würde sie an den Eingang ihrer Protesträume ein Schild stellen, auf dem sie sich dafür entschuldigt, dass sie mit ihren Plädoyers für Waffenverzicht und immerwährenden Dialog auch dazu beigetragen hat, die heutige Ukraine einem Angriffskrieg auszusetzen. Ganz abgesehen davon, dass es klein und schäbig ist, wenn Klimaaktivisten wie Luisa Neubauer wieselflink die Gelegenheit nutzen, das Entsetzen über den Krieg im Osten Europas auf die Mühlen der Klimabewegung umzulenken. Und dabei darüber hinwegsehen, dass es für Deutschland wegen der auch selbstverschuldeten Energieabhängigkeit von Russland nun einmal einen schmerzhaften, aber so schnell nicht lösbaren Konflikt zwischen Klima- und Ukraine-Rettung gibt."
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