9punkt - Die Debattenrundschau

Die Sicherheit der ganzen Welt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2022. Tag 10 in Putins Krieg gegen die Ukraine. Der Beschuss der Städte geht weiter. Der Antrag der Ukraine - aber auch der Republik Moldau und Georgiens - auf EU-Aufnahme ist ein verzweifelter Hilferuf, der auch gehört werden sollte, schreibt Barbara Oertel in der taz. Timothy Garton Ash sieht es im Guardian ähnlich. Richard Herzinger fordert in seinem Blog ein Eingreifen der Nato. Außerdem: John McWhorter erklärt in der New York Times, warum er das Wort "black" klein schreibt und es immer groß rauskommt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.03.2022 finden Sie hier

Europa

Tag 10 in Putins Krieg gegen die Ukraine. Der Beschuss der Städte geht weiter. Der ukainische Präsident Wolodimir Selenski fordert eine Nato-Flugverbotszone über seinem Land. Russland hat für seine Bürger Facebook und Twitter abgeschaltet und außerdem in Windeseile eine Gesetz beschlossen, das die Verbreitung von "Fake News" über den Krieg mit bis zu 15 Jahren Haft bedroht. Zusammengefasst werden die jüngsten Ereignisse in den Live-Blogs von Spiegel online (hier), Guardian (hier) und New York Times (hier) und vielen anderen Medien. Medien wie die BBC und CNN stellen ihre Aktivitäten in Russland vorübergehend ein, nachdem in dem Land strikte Zensurregeln eingeführt wurden, meldet etwa Tiffany Hsu in der New York Times.

Reporter von Sky News gerieten unter Beschuss von Scharfschützen. Einer wurde verletzt. Den Videobericht der Reporter veröffentlich der Sender hier.

Luke Harding berichtet für den Guardian aus der Ukraine, unter anderem über einen Angriff auf ein Verwaltungsgebäude in Charkiw, bei dem zehn Menschen ums Leben kamen. "Der grausame Angriff wird mit tödlichen Waffen durchgeführt: BM-30 Smerch, schwere Mehrfachraketenwerfer und zunehmend auch Bombenflugzeuge. Am Sonntag versuchten russische leichte Panzerfahrzeuge erfolglos, in die Stadt einzudringen und sie einzunehmen. Nun scheint Putin beschlossen zu haben, sie stattdessen platt zu machen. Die Botschaft ist demonstrativ. Sie richtet sich an die trotzige Regierung des prowestlichen ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski: Ihr und Kiew seid die nächsten."

CNN präsentiert ein Video aus dem von den Russen beschossenen Atomkraftwerk in Saporischschja. Es zeigt, wie Mitarbeiter des Kraftwerks die russischen Soldaten per Lautsprecher aufrufen, den Beschuss einzustellen, "sonst bringt ihr die Sicherheit der ganzen Welt in Gefahr".



Die Ukraine hat einen dringenden Antrag auf Aufnahme in die EU gestellt und die Auskunft erhalten, dass es noch dauern wird. Der Wunsch nach Aufnahme in die EU stand immer im Zentrum für die Ukraine, erinnert Barbara Oertel in der taz, durch ihn wurde die "Revolution der Würde" ausgelöst. Die EU muss sich dazu verhalten: "Den Feldzug Moskaus vor Augen sind jetzt auch Georgien und die Republik Moldau, die ebenfalls Assoziierungsabkommen abgeschlossen haben, in Brüssel mit einem Aufnahmeantrag vorstellig geworden. Dies ist ein verzweifelter Hilferuf, den es ernst zu nehmen gilt. Denn Befürchtungen, Wladimir Putins 'Spezialoperation' in der Ukraine könnte nicht sein letzter militärischer Amoklauf auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gewesen sein, sind begründet."

Bilder von der riesigen Solidaritätsdemo in Prag gestern, bei der auch Wolodimir Selenski per Videozuschaltung sprach:


Der ukrainische Präsident möchte, dass die Nato den ukrainischen Luftraum überwacht (mehr zu Selenskis neuester Videoansprache im Tagesspiegel). Die Frage, ob die Nato agiert oder nicht, wird sich eher früher als später stellen, meint Richard Herzinger in seinem Blog. "Die Alternativen sind nun klar: Entweder wir sehen passiv an den Bildschirmen zu, wie die ukrainische Nation ausgelöscht wird, oder wir springen ihr auch mit direkten militärischen Mitteln zur Seite. Die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine, sofern sie ihren Adressaten überhaupt noch erreichen, kommen zu spät und genügen nicht, um die Aggression zurückzuschlagen oder zumindest zum Stehen zu bringen."


Für Ian McEwan im Guardian ist es die atomare Drohung, die lähmt: "Nun sind wir gezwungen, die verqueren neuronalen Prozesse eines Mannes und seine kranken Träume zu interpretieren. Dies ist die ultimative 'Verrückten'-Sanktion in der Nukleartaktik: Wenn man sich nicht darauf verlassen kann, dass der Gegner logisch zu seinem eigenen Vorteil handelt, ist man wie erstarrt, wartet auf seinen nächsten Zug und kann kein Risiko durch direktes Eingreifen eingehen."

Der russische Philosoph und Aktivist Greg Yudin setzt im Gespräch mit Robin Celikates von der taz seine Hoffnung auf einen erstarkenden Widerstand in Russland, der für ihn ohnehin überfällig ist: "In Russland war in den nächsten Jahren mit einem Volksaufstand gegen Putin zu rechnen, wie gegen Lukaschenko in Belarus. Putin will sicher sein, einen solchen Aufstand mit wirklich allen Mitteln niederschlagen zu können. Er steht sehr unter dem Eindruck von Gaddafis Ende in Libyen. Die Annäherung der Ukraine an den Westen ist für ihn eine existenzielle Bedrohung. Daher erschien ihm Angriff als die beste Verteidigung. Wir müssen verstehen, dass er sich in der Defensive befindet."

Staunend, aber auch zweifelnd, nimmt Militärhistoriker Sönke Neitzel in der taz die Nachricht von der künftigen Stärkung der Bundeswehr auf. Der Status quo war ein ganz anderer: "In Merkels Russlandpolitik spielte das Militär keine Rolle. Begriffe wie 'Kriegsbereitschaft' waren im politischen Berlin nicht zu vermitteln, auch wenn alle wussten, dass es in letzter Konsequenz genau darum ging. Zwar forderten Experten geradezu flehentlich, endlich mehr zu tun. Gehör fanden diese Äußerungen nicht. Letztlich beließ es die Regierung bei einer Ankündigungsrhetorik; das Parlament nahm es achselzuckend hin. Schließlich glaubte praktisch niemand, dass die Bundeswehr je wirklich gebraucht werden würde."

Mit Eintreten und Austreten aus der EU kennen sich die Briten ja aus. Timothy Garton Ash rät der EU im Guardian vielleicht auch darum, die Ukraine möglichst rasch aufzunehmen: "Wenn die EU diesen mutigen Schritt nicht macht, lautet die Botschaft aus den westeuropäischen Hauptstädten an die belagerten Europäer in Kiew und Charkiw: 'Danke für euren heldenhaften Kampf, der uns hilft, ein geeinteres, stärkeres Europa zu schaffen, aber für euch ist darin kein Platz.' In diesem Moment der existenziellen Herausforderung kann Europa etwas Besseres tun als das."

Die Briten haben unterdes sogar Schwierigkeiten auch nur ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen, berichten Phil Kemp und Lucy Manning in der BBC: Nur Familienangehörige bereits in Britannien lebender Ukrainer dürfen bisher kommen.

Außerdem: Die grotesken Fehleinschätzungen Putins über die Ukraine haben auch damit zu tun, dass die russischen Eliten bestürzend schlecht über ihre Nachbarländer informiert sind, schreibt die Politologin Sabine Fischer bei Zeit online.
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Medien

In Russland wurde über Nacht ein einschneidendes Zensurgesetz erlassen (mehr dazu von Friedrich Schmidt in der FAZ), die letzten unabhängigen Medien wurden zuvor schon unter strengste Beobachtung gestellt. Tamina Kutscher übersetzt auf der Plattform dekoder Texte kritischer russischer Medien ins Deutsche. Im Gespräch mit Friederike Gräff von der taz schätzt sie die Lage pessimistisch ein: "Wir müssen davon ausgehen, dass die Tage für unabhängige Medien in Russland im Grunde gezählt sind. Es ist eine Frage der Zeit. Man muss eben dazu sagen: Diese Medien erreichen keine kritische Masse. Auch wenn sie jetzt mehr LeserInnen haben, ist das immer noch eine Minderheit. Und von staatlicher Seite wird alles getan, um sie so marginal wie möglich zu halten."

Eine Reihe russischer, belarussischer und ukrainischer AutorInnen, darunter Swetlana Alexijewitsch, Ljudmila Ulitzkaja, Wladimir Sorokin, ruft alle Menschen mit russischer Muttersprache auf, allen Russen, über alle denkbaren Kanäle die Wahrheit zu sagen. Der Aufruf ist in mehreren europäischen Medien verlinkt. Auf deutsch ist er auf voxeurop.eu nachzulesen: "Sie sprechen Russisch. Das ist wichtig. Bitte nutzen Sie alle Kommunikationsmittel. Telefon. Messenger. Email. Erreichen Sie die Menschen, die Sie kennen. Erreichen Sie Menschen, die Sie nicht kennen. Sprechen Sie die Wahrheit aus. Wladimir Putin ist blind und taub, vielleicht hören die Menschen in Russland auf diejenigen, die ihre Sprache sprechen. Dieser ungerechte Krieg muss gestoppt werden. #SkipPutin. Sprechen Sie mit den Russen."

Am Tag 10 des Krieges kriegt es das Feuilleton der SZ hin, ihren ganzseitigen Aufmacher so zu betiteln: "Nacht - Krieg, Angst und das Netz - ein Bombengespann: Eine kleine Erinnerung an die konkurrenzlose Dummheit von Instagram, und daran, dass auch Stille heißen kann, dass man mitfühlt." Es geht darum, wie die Modeszene auf den Krieg reagiert.

Außerdem: Lara Kirschbaum berichtet in der FAZ, dass die zehnjährige Gefängnissstrafe des saudischen Dissidenten und Humanisten Raif Badawi abgelaufen ist - bisher wurde er aber nicht freigelassen.
Archiv: Medien

Ideen

Die Sprachregler aus der modischen Linken haben im Moment wenig zu melden - auf den jüngsten Konflikt trifft ihr gesamtes Koordinatensystem nicht zu. Untergründig gehen die Debatten weiter.  Der klassisch linke und gegenüber dem modischen Antirassismus kritische John McWhorter schreibt heute in seiner New-York-Times-Kolumne just über die Frage, die wir im Perlentaucher angesprochen hatten. Wir hatten uns gewundert, dass McWhorter in der deutschen Ausgabe seines Buchs "Die Erwählten - Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet" dem antirassistischen Sprachgebrauch folgt, das Wort "schwarz" in Kombination wie "schwarze Menschen" stets groß zu schreiben. Der Hoffmann-und-Campe-Verlag hatte geantwortet, dass man in der deutschen Ausgabe nur seine englische Praxis übernehme.

McWhorter schreibt heute in der New York Times: "Viele Menschen, die meine häufig geäußerte Skepsis gegenüber dem 'Woke'-Vokabular und den 'Woke'-Rezepten für den Sprachgebrauch bemerken, fragen mich, warum ich 'Schwarz' groß schreibe, wenn ich über schwarze Amerikaner schreibe. Die Wahrheit ist: Ich tue es nicht. Der Hausregeln der New York Times, sowohl auf der Nachrichtenseite als auch auf der Meinungsseite, verlangen dies, und so liest es sich auch, wenn dieser Newsletter erscheint. Aber in den Texten, die ich einschicke, wird 'schwarz' mit einem kleinen 's' geschrieben." McWhorter legt in der Folge dar, warum er das große S zwar nicht falsch, aber auch nicht nützlich findet.

Die Schriftstellerin Pieke Biermann hat McWhorter übrigens direkt gefragt, wie das mit seiner deutschen Ausgabe sei. Er hat ihr per Mail geantwortet: "Sie wollten es so. Sie fragten mich, und ich sagte, dass es mir nicht so wahnsinnig wichtig sei."

Außerdem: In der taz erinnert Micha Brumlik an die Rolle des reaktionären Philosophen Alexander Dugin für Putins aggressiven Nationalismus - auch im Westen hat Dugin in der extremen Rechten Bewunderer. In der Welt interviewt Mara Delius die Oxforder Philosophin Amia Srinivasan zu ihrem Buch "Das Recht auf Sex - Feminismus im 21. Jahrhundert".
Archiv: Ideen