9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn die Ukraine bei dir ist

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.03.2022. Der Krieg gegen die Ukraine geht in die dritte Woche. In der Zeit gibt sich Wolodimir Selenski unerschütterlich kämpferisch. Außerdem erklärt Heinrich August Winkler in der Zeit, was Wladimir Putin mit den anderen Ultranationalisten der Geschichte verbindet, mit Hitler, Mussolini und Milosevic, die NZZ sieht ihn eher in der Linie absolutistischer Zarenherrscher. In der taz bereitet Dmitry Glukhovsky die Russen darauf vor, zu klatschen, wenn Staatsfeinde exekutiert werden. Die SZ mahnt, dass Menschen von Läusen und Flöhen zugleich befallen werden können.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.03.2022 finden Sie hier

Europa

Russlands Krieg gegen die Ukraine geht in die dritte Woche. Große Empörung löste die Zerstörung einer Geburtsklinik bei einem russischen Luftangriff auf die Stadt Mariupol aus. In der Nacht wurden weitere Städte angegriffen. Der Guardian berichtet derweil unter Berufung auf britische Erkenntnisse, dass die russische Kolonne vor Kiew nicht vorankommt und die Ukrainer den Luftraum gut verteidigen. Auf die Gespräche in der türkischen Stadt Antalya (korrigiert) setzt kaum jemand große Hoffnung.

Im Interview mit Cathrin Gilbert in der Zeit gibt sich der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski gewohnt kämpferisch und heldenhaft. Er fordert mehr Waffen und noch schärfere Sanktionen, aber um sein Leben sorgt er sich nicht: "Ich bin bei meinem Volk. Das ist für mich der beste Schutz. Als Russland die Invasion vorbereitet hat, da erwartete Putin nicht, dass die Ukrainer ihr Land so entschlossen verteidigen würden. Nicht nur wenige, sondern die ganze Nation. Der Kreml rechnete nicht damit, dass dieser Krieg ein vaterländischer Krieg für uns sein würde, wie ihn die Sowjetunion gegen Hitler geführt hat. Putins Leute kennen die Ukraine einfach nicht. Aber wir sind so. Wenn die Ukraine bei dir ist, fühlst du dich sicher. Dies ist ein Grundsatz, von dem sich viele im Westen etwas abschauen sollten."

In einem weiteren Interview mit der Zeit betont die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, dass Belarus nicht Kriegspartei sei: "Lukaschenkos Regime hat den belarussischen Boden zum Flugzeugträger des russischen Militärs gemacht. Die Belarussen selbst aber sind gegen diesen Krieg. Zurzeit versucht Lukaschenko sich durchzulavieren. Unser Territorium wird von Russland genutzt, aber unsere Soldaten sind an der Invasion in die Ukraine nicht beteiligt."

Der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky sieht in der taz voraus, was es heißt, Wladimir Putin zu folgen: "Ja, wir wissen, wie man stillhält, wie man wegschaut, sich wegduckt und seine Gedanken für sich behält, aber wir müssen noch lernen, diese Gedanken selbst beiseitezuschieben. Um nicht in Angst zu leben, um nicht das Gefühl zu haben, wir seien Feiglinge oder Sklaven, müssen wir lernen, aufrichtig zu glauben, was wir vor noch nicht allzu langer Zeit für falsch hielten. Es bedeutet zu lernen, Seite an Seite zu marschieren, nach Aufforderung zu klatschen, aufrichtig, verzweifelt zu klatschen, wenn die Staatsfeinde exekutiert werden, und eine Gänsehaut zu spüren, wenn wir uns ehrlich an den Reden unseres Führers ergötzen. Es bedeutet Kriege zu feiern. Blutvergießen zu begrüßen. Erklärungen und Rechtfertigungen dafür zu finden, hochgestimmt zu sein durch den Verrat unserer Brüder und die Vergeltungsakte gegen sie."

Ein deprimierendes Beispiel patriotischer Gleichschaltung in Russland übersetzt Osteuropa mit der Erklärung von 700 russischen Hochschulrektoren, die sich alle hinter Putins Krieg stellen. Darin verkünden die Akademiker: "Die Universitäten waren stets eine Stütze des Staates. Unser vorrangiges Ziel ist es, Russland zu dienen und sein intellektuelles Potenzial zu entwickeln. Heute, da wir zahlreichen wirtschaftlichen und medialen Angriffen ausgesetzt sind, müssen wir mehr denn je Selbstgewissheit und Festigkeit zeigen, uns in Wort und Tat um unseren Präsidenten scharen, unserer Jugend ein Beispiel für Optimismus und Glauben an die Kraft der Vernunft geben und die Hoffnung auf baldigen Frieden wecken."

In der taz sieht due unerschütterliche Feministin Ute Scheub im Ukraine-Krieg zwei Weltordnungen aufeinanderkrachen und kann nur hoffen, dass mit Wladimir Putin auch die Welt der maskulinistischen Dinosaurier untergeht: "Deren verrottete Knochenreste stecken in den fossilen Energien, und fossil sind auch die Strukturen des russischen Imperiums und aller anderen autoritären Zentralstaaten. Eine neue Weltbürgerordnung will gerade geboren werden, vertreten unter anderem durch Selenski. Verkörpert auch durch die junge Generation, die in der ganzen Welt zu Hause ist, die in Gestalt der mehrheitlich weiblichen Klimaaktiven von Fridays for Future gegen die Doppelkrise der Klimakatastrophe und des Artensterbens demonstriert, die sich in Gestalt russischer und belarussischer Feministinnen gegen die Machos Putin und Lukaschenko stellt. Diese junge Generation träumt von einem Klima der Gerechtigkeit. Von einer Welt der Freiheitsenergien zwischen Menschen, zwischen den Geschlechtern, zwischen Mensch und Natur."

In der FAZ beschreibt Kolumnist Bülent Mumay den schwindelerregenden Schlingerkurs, den der türkische Präsident Erdogan fährt: "Unmittelbar nach dem Einmarsch empfahl Erdogan der Nato, entschlossener gegen Russland vorzugehen. Bei der Abstimmung über die Aussetzung der Mitgliedschaft Russlands im Europarat dagegen enthielt sich derselbe Erdogan, um Putin nicht zu verärgern. Um wiederum die USA und Europa nicht zu verstimmen, sperrte er mit Rückgriff auf die Bestimmungen des Vertrags von Montreux den Bosporus und die Dardanellen für die Durchfahrt russischer Kriegsschiffe. Nicht genug damit, er schickte gar eine neue Partie in der Türkei produzierter Drohnen in die Ukraine."

In der Diskussion um die Lieferung polnischer Kampfflugzeuge vom Typ MiG-26 an die Ukraine mokiert sich Hubert Wetzel in der SZ über die "Twitter-Strategen", die eine Lieferung der Jets fordern, ohne zu erwähnen, dass sie die Nato damit an den Rand eines Atomkrieges bringen. In der FAZ nennt Nikolas Busse das dagegen die Selbstabschreckung des Westens: "Die Nato befestigt die Ostflanke, lässt sich von den Hilferufen aus Kiew jedoch nicht zu Grenzüberschreitungen verleiten. Das ist eine realpolitisch vertretbare Entscheidung, aber keine moralische Sternstunde des Westens." Richard Herzinger fordert in seinem Blog sogar einw direkte Intervention der Nato in den Krieg: "Der Westen kann es sich nicht länger leisten, dem Aggressor die volle Eskalationsdominanz zu überlassen und seine Entscheidungen von der Willkür Putins bestimmen zu lassen. Es ist allerhöchste Zeit, dass der Westen selbst die Initiative ergreift und dem Kreml deutlich seine Grenzen aufzeigt."

In einer Kiewer Erklärung fordern etliche ukrainische NGOs ebenfalls die Lieferung der Waffen, aber auch die Errichtung von Schutzzonen innerhalb der Ukraine.

Im taz-Interview fordert Ralf Fücks, Grünen-Politiker und Gründer des Zentrums Liberale Moderne einen Stopp von Öl- und Gasimporten aus Russland: "Es besteht inzwischen weitgehend Konsens, dass wir uns so schnell wie möglich aus der Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland befreien müssen. Aber wenn wir Putins Krieg stoppen wollen, müssen wir Putin hier und jetzt den Geldhahn abdrehen."
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Geschichte

In der Zeit sieht der Historiker Heinrich August Winkler den russischen Präsidenten Wladimir Putin durchaus in einer Reihe mit anderen Ultranationalisten wie Adolf Hitler, Benito Mussolini oder Slobodan Milosevic: "Wie Milošević entstammt er dem kommunistischen Staatsapparat. Mit dem Belgrader Politiker teilt er das Trauma des Untergangs eines multinationalen Staatsgebildes. Was dem einen jenes Großserbien war, zu dem sich Jugoslawien zuletzt entwickelt hatte, ist dem anderen die Sowjetunion, die sich im gleichen Jahr 1991 auflöste wie der einstige Staat des Marschalls Tito. Auch Mussolini kam von ganz links. Im Ersten Weltkrieg wandelte sich der radikale Sozialist in einen glühenden Nationalisten. Während Hitlers Nationalsozialisten (und nicht nur sie) auf die Niederlage von 1918 und das 'Diktat von Versailles' mit der Legende vom marxistisch-jüdischen Dolchstoß in den Rücken des angeblich im Felde unbesiegten Heeres reagierten, pflegten die italienischen Faschisten den Mythos von der 'vittoria mutilata', dem 'verstümmelten Sieg': Sie behaupteten, dass die westlichen Siegermächte Italien um die Früchte seines heroischen Beitrags zum gemeinsamen Erfolg der Alliierten betrogen hätten. Die politische Instrumentalisierung einer (wirklichen oder gefühlten) Niederlage und die Selbststilisierung zum Opfer mächtiger Feinde: Das ist es, was diese so unterschiedlichen politischen Führer miteinander verbindet."

In der NZZ sieht Ulrich M. Schmid Wladimir Putin dagegen eher in der absolutistischen Linie der russischen Zaren, zwischen Iwan dem Schrecklichen und Alexander III., die bis zu ihrer Abdankung im März 1917 nicht nur über dem Gesetz standen, sie waren das Gesetz. "Als der britische Botschafter Nikolai II. während des Ersten Weltkriegs auf dessen wachsende Unpopularität ansprach, antwortete der Zar vielsagend: 'Meinen Sie nun, dass ich das Vertrauen meines Volks zurückgewinnen muss, oder meinen Sie nicht vielmehr, dass mein Volk mein Vertrauen zurückgewinnen muss?' Allerdings verachtet Putin Nikolai II. als schwachen Herrscher, der für den Zerfall seines Reichs verantwortlich ist. Umso heller strahlt in Putins Augen Nikolais Vater, Alexander III., der Russland mit eiserner Hand regierte. Putin verwendet gerne ein Zitat von Alexander III., um seinen Isolationismus historisch zu begründen: Russland verfüge nur über zwei Verbündete: die Armee und die Flotte."

Der russische Ökonom Wladislaw Inosemzew befindet dagegen in einem weiteren Text in der NZZ: Putin ist kein Nazi, sondern ein Faschist: "Was Putin in seiner Regentschaft reproduzierte, ist das prototypische faschistische Modell, wie es Benito Mussolini entwickelt hat - versetzt mit sozialdemokratischen Elementen, einem starken Gefühl der Größe des verlorenen Reiches, einer korporativen Organisation der nationalen Wirtschaft und einer eher maßvollen Unterdrückung des politischen Gegners."
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Kulturpolitik

Viel Kritik musste Petra Kahlfeldt seit ihrer Ernennung zur neuen Berliner Senatsbaudirektorin einstecken, in einem Offenen Brief wurde eine Neubesetzung des Postens gefordert, Kahlfeldt wird Konservatismus und Ästhetisierung baukultureller Fragen vorgeworfen. (Unsere Resümees). "Ich komme ja von Haus aus der Transformationsecke", sagt Kahlfeldt gegenüber Niklas Maak in der FAZ: "Geprägt habe sie die Idee der behutsamen Stadterneuerung; sie ist auch bei ihren Kritikern als Expertin für Bestandssanierungen anerkannt. Was Kahlfeldt zum Bauen selbst sagt, könnten erst einmal auch ihre Kritiker unterschreiben: dass es 'absolut unökologisch' sei, 'in Amortisationszyklen und in Abrisszyklen zu denken'; und dass 'die Idee des langlebigen und qualitativ hochwertigen Bauens zentral sein muss'. Scheitert diese Idee nicht schon an der Bodenspekulation? 'Boden ist keine vermehrbare Ressource, die ist knapp. Es sind die Grundstücke da, es ist die Infrastruktur da, und trotzdem wird nicht gebaut', sagt Kahlfeldt: 'Das ist unsolidarisch. Es kann nicht sein, dass jemand von dieser Knappheit profitiert. Hier sollte etwas passieren.' Aber was? 'Es gab schon die Überlegung zu sagen, die Baugenehmigung gilt nur drei Jahre. Oder sie erlischt beim Wiederverkauf. Da bewegen wir uns aber auf juristisch dünnem Eis.'"
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Gesellschaft

In der SZ weiß Werner Bartens, dass Menschen Schwierigkeiten haben, zwei Krisen gleichzeitig zu verarbeiten, findet aber trotzdem wahnwitzig, dass die Warnungen vor einer weiteren Corona-Welle nicht ernstgenommen werden: "Dem Virus ist das Desinteresse der Bevölkerung übrigens egal. Und als Memento für die eigene Aufmerksamkeitsökonomie darf verraten werden, dass es tatsächlich mehrere Krisen und Katastrophen gleichzeitig geben kann. Mediziner zum Beispiel wissen, dass Patienten mitunter zugleich von Läusen und Flöhen besiedelt werden."

Die Autorin Mirna Funk geißelt in der Welt einmal mehr die Wokeness, die sie in den Tiefen der Ideologie versunken sieht: "Mir als Ostdeutsche, die freitags ihr blaues Pionierhalstuch tragen musste, und mir als Jüdin, der es unmöglich ist, sich in ein Fußballstadion zu begeben, in dem alle gleichzeitig jubeln, ohne eine Panikattacke zu bekommen - mir läuft es beim Anblick gleichgeschalteter Pronomen, gleichgeschalteten Gedanken, die keine Ambiguitätstoleranz und keine Komplexität mehr kennen, eiskalt den Rücken runter. Vielleicht gerade, weil ich den Kern der politischen Forderungen mal verteidigt habe."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Wokeness, Funk, Mirna, Corona