9punkt - Die Debattenrundschau

Was aussah wie ein Sieg

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.03.2022. Gestern hielt Wolodimir Selenski per Videoschaltung eine historische Rede im Bundestag - und der Bundestag ging zur Tagesordnung über: scharfe Kritik in der Presse. "Mein Land ist krank", schreibt der russische Journalist Konstantin Goldenzweig, der ins Exil gegangen ist, in der SZ. Ljudmila Ulitzkaja ist vergangene Woche mit ihrem Mann aus Moskau nach Berlin geflohen. In der NZZ hofft sie auf einen Prozess gegen Putin. Hat der russische Feldzug seinen "Kulminationspunkt" erreicht, fragt die FAZ. Und distanziert sich China, fragt der Guardian.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.03.2022 finden Sie hier

Europa

Gestern hielt Wolodimir Selenski per Videozuschaltung seine Rede im Bundestag, sie beginnt etwa bei Minute 7:12 des Videos:



Eine der bemerkenswertesten Passagen lautet: "Jedes Jahr wiederholen die Politiker 'Nie Wieder'. Und jetzt sehen wir, dass diese Worte einfach nichts wert sind. In Europa wird ein Volk vernichtet." Der Bundestag ging nach ein paar würdigen Worten der stellvertretenden Sprecherin Katrin Göring-Eckardt zur Tagesordnung über und wird dafür in den Medien scharf kritisiert. Es hätte nach der Rede im Bundestag debattiert werden sollen, meint Robin Alexander in der Welt: "Olaf Scholz war von Selenski direkt angesprochen worden. Warum stand er nicht auf und erläuterte seinen Zwiespalt: alles zur Unterstützung der Freiheitskämpfer tun zu wollen und doch die Gefahr eines dritten Weltkrieges in jedem Fall vermeiden zu wollen? Warum sprach Robert Habeck nicht von seinem Dilemma: weiter täglich Millionen an den Kriegsherren überweisen zu müssen, weil er fürchtet, die Bundesbürger trügen den beim Stopp des Gases absehbaren Einbruch von Wirtschaftswachstum und Sozialleistungen nicht mit?"

Auch Sabine am Orde nennt das schnöde Beharren der Ampel auf Routine in der taz beschämend, auch wenn sie die Regierung inhaltlich stützt: "Das Nein zu Selenskis Forderung, dass die Nato über der Ukraine eine Flugverbotszone einsetzt, ist ebenso richtig wie das Nein zu einer 'Friedensmission' des Bündnisses, wie es Polen gerade vorgeschlagen hat." Resümiert wird die Rede von Gareth Joswig. Simon Strauss fragt in der FAZ: "Was hätte es den deutschen Bundeskanzler gekostet, nach Selenskis Rede aufzustehen und eine sogenannte Kurzintervention zu machen? Ein paar Worte der Anerkennung zu finden, möglicherweise sogar der Bewunderung?" Stefan Laurin hält bei den Ruhrbaronen fürs Protokoll fest, dass eine Debatte auch im Bundestag gefordert wurde: "Der CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz sprach aus, was Millionen Bürger denken: 'Ich bin damit nicht einverstanden.' Die Ampel lehnte seine Forderung nach einer Debatte ab. Während Mariopol und Kiew unter Beschuss stehen geht in Berlin das Alltagsgeschäft weiter."

Trotz der Weigerung, direkt in den Krieg einzutreten, hat der Westen mit seiner Strategie der Waffenlieferungen und indirekten Unterstützung der Ukraine Erfolg, meint Nikolas Busse in der FAZ: "Die westlichen Waffenlieferungen haben ihre Kampfkraft ohne Frage gesteigert. Das sollte man auch in Deutschland anerkennen. Putin wäre seinen völkerrechtswidrigen Zielen schon viel näher, hätten alle westlichen Regierungen so mit der Bewaffnung Kiews gezögert wie die deutsche."

Auch Arnold Schwarzeneggers Rede an die Russen und sein Bestehen auf den Fakten gehört zu den Ereignissen, die den historischen Moment markieren:



Hat Putins stockender Feldzug bereits seinen "Kulminationspunkt" erreicht, fragt Thomas Gutschker in der FAZ und bezieht sich dabei auf einen Begriff des Kriegstheoretikers Carl von Clausewitz: "er hatte dabei Napoleons Russlandfeldzug von 1812 vor Augen. Clausewitz sah dessen Einmarsch in Moskau als Kulminationspunkt: Was aussah wie ein Sieg, stellte sich als Beginn der Niederlage heraus. Napoleon hatte achtzig Prozent seiner Armee verloren und musste auf dem Rückmarsch froh sein, dass er seine eigene Haut retten konnte."

Beim EU-Gipfel in Versailles bestand die Chance, die EU näher zu einer "politischen Union" zu führen, kritisieren Timothy Garton Ash, Daniel Cohn-Bendit, Claus Leggewie und Ireneus Pawel Karolewski nochmals in der FAZ: "Deutschland, Frankreich, Polen und die baltischen Staaten müssen eine verstärkte sicherheitspolitische Kooperation eingehen, wenn nötig auch im Bereich der nuklearen Rüstung. Großbritannien muss wieder enger an die durch den Brexit leichtsinnig verspielte politische Schicksalsgemeinschaft Europas heranrücken. Ein verstärkter Schutz vor Russland bedeutet aber auch, dass den Trojanischen Pferden Putins, wie Orbáns Ungarn und Vučićs Serbien, entschlossener entgegengetreten werden sollte."

Die investigative Website Bellingcat stellt auf einer interaktiven Karte alle verifizierten Berichte über zivile Opfer in der Ukraine zusammen und arbeitet dabei mit einer Gruppe freiwilliger Rechercheure: "Das 'Global Authentication Project' besteht aus einer großen Gemeinschaft von Open-Source-Forschern, die Bellingcat bei der Recherche durch strukturierte Aufgaben und Feedback unterstützen. Für diese Datenzusammentsllung arbeiten wir mit vielen Personen zusammen, die die ukrainische Sprache beherrschen, und mit anderen, die über lokales Hintergrundwissen zu den Ereignissen und Orten verfügen, die auf der Karte zu sehen sind. Weitere Teilnehmer sind Personen, die sich mit Geolokalisierung und Chronolokalisierung auskennen, wobei alle Beiträge von Bellingcat-Forschern überprüft werden." Mehr zu den Open-Source-Rechercheuren bei heise.de.

Dunkle Clouds über Russland: Die Speicher laufen voll, berichtet Oliver Nickel bei golem.de: "Cloud-Provider, die zu großen Teilen aus den USA und anderen Nationen stammen, die Sanktionen gegen Russland verhängt haben, haben sich aus dem Land zurückgezogen. Zudem werden Storage-Hardware, Festplatten, SSDs und Rackserver nicht mehr an das Land verkauft. Deshalb denkt Russland wohl bereits etwa darüber nach, zurückgelassene Hardware von Unternehmen zu enteignen und für eigene Zwecke in das öffentliche Netz zu integrieren."

Russland wird sich an kein Abkommen halten, ruft der ukrainische Menschenrechtsaktivist und ehemalige Präsident der ukrainischen PEN, Myroslaw Marynowytsch bei ZeitOnline dem Westen entgegen. "Wie viele Tote braucht es noch, bis die Welt begreift: Putin wird an der ukrainisch-polnischen Grenze nicht Halt machen und deshalb ist es Europa selbst, das sich verteidigen muss! Weil die ganze menschliche Zivilisation bedroht ist. Dementsprechend sollte Hilfe für die Ukraine, vor allem Militärhilfe, einen ähnlichen Umfang haben wie das Leih- und Pachtgesetz, unter dem die Alliierten im Zweiten Weltkrieg Waffen und anderes kriegswichtiges Material an Staaten lieferten, die gegen die Achsenmächte kämpften. Und es sollte Schluss sein mit der Befürchtung, Putin durch das Angebot von Kampfjetlieferungen an die Ukraine oder die Verhängung einer Flugverbotszone noch mehr zu verärgern. Hat er denn die früheren Versuche, ihn zu verstehen, und all die Gesten der Beschwichtigung honoriert?"

"Mein Land ist krank" - helfen wird ihm nur der totale Zusammenbruch oder die "langsame und qualvolle Zersetzung", schreibt aus dem schwedischen Exil in der SZ der russische Journalist Konstantin Goldenzweig, der vor kurzem noch für den russischen Sender Doschd tätig war. Hoffnungen, wenn auch keine großen, setzt er auf die Sanktionen gegen Russland. Aber: "Einer der Gründe für die schwache Wirksamkeit der Sanktionen ist … die Tatsache, dass die Mehrheit der Russen - mit Ausnahme von Moskau und Sankt Petersburg - ein Leben im Wohlstand einfach nie kannte. Einer Familie in der Provinz wird es zunächst vielleicht gar nicht auffallen, wie Armut durch Elend und der Gemüseeinkauf in einem Discounter durch die Bewirtschaftung eines Gemüsegartens ersetzt werden. Das alles ist ja nichts Neues. Ein großer Teil der russischen Gesellschaft, nostalgisch für die Sowjetunion, hat keine Angst vor Armut, sondern vor Verantwortung, sich ein eigenes Bild von der Welt zu machen."

Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja ist vergangene Woche mit ihrem Mann aus Moskau nach Berlin geflohen. In der NZZ hofft sie auf einen Prozess gegen Putin: "Doch schon heute, da die ganze Welt noch unter Schock steht, wissen wir eines mit Sicherheit: Eines Tages wird man diesen Mann vor Gericht stellen. Der Prozess gegen ihn wird in die Geschichte eingehen wie die Nürnberger Prozesse und das Kriegsverbrechertribunal von Den Haag. Ob er noch zu Lebzeiten des Verbrechers stattfinden wird oder erst nach seinem Tod, das wissen wir nicht."

Auch China befindet sich an einem Wendepunkt und muss entscheiden, ob es sich wirklich an Russlands Seite stellen will, analysiert Julian Borger im Guardian einige Stunden vor einem Gespräch Joe Bidens mit Xi Jinping: "Die deutsche Bild-Zeitung berichtete, der russische Außenminister Sergej Lawrow sei am Donnerstag auf dem Weg nach Peking gewesen, habe aber aus unbekannten Gründen umgedreht und sei nach Moskau zurückgekehrt. Ein US-Beamter bestätigte den Vorfall, wies aber darauf hin, dass es noch zu früh sei, um die Bedeutung des Vorfalls einzuschätzen, und spekulierte, dass China 'vielleicht öffentliche Freundschaftsbekundungen herunterspielen' wolle."

Ist die Friedensethik in diesen Zeiten nichts anderes als "billiger Moralismus", fragt die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr in der FR. Nein, im Sinne der Friedensethik sollten wir eher lernen"der Ideologie von den russischen Feinden und ukrainischen Freunden zu misstrauen - und die energie-, außen- und sicherheitspolitischen Kontexte ins Auge zu fassen, in denen der Bundestag die Waffenlieferungen beschlossen hat. Dazu gehören: die fortgesetzten Öl- und Gas-Geschäfte mit Russland; die vagen Versprechen an die Ukraine auf eine Nato- und EU-Mitgliedschaft, die niemand einlösen will. In diesen weiteren Kontexten lassen sich die Waffenlieferungen nicht mehr ohne weiteres als Akt der Solidarität mit dem ukrainischen Freiheitskampf bejubeln. Sie stellen sich eher als Tributzahlungen dar, damit die Ukraine auch weiterhin das russische Öl und Gas durch ihr Territorium fließen lässt - und nicht die Leitungen zerstört, um Putin die Kriegsgelder abzuschneiden. Mit unseren Energiegeschäften mit Russland und unseren Waffenlieferungen an die Ukraine tragen wir dazu bei, dass der Krieg noch lange fortgesetzt werden kann."

Außerdem: US-Außenminister Antony Blinken dämpft Hoffnungen auf eine diplomatische Lösung, berichtet James Politi in der Financial Times. Im Feuilleton-Aufmacher der SZ analysieren Christine Dössel und Gerhard Matzig die Inszenierung der Bilder im Krieg. "Hat die Welt es versäumt, den Kalten Kriegern zuzuhören, weil sie mit ihren Erfahrungen zu einem Kapitel der Geschichte gehörten, das als abgeschlossen galt?", fragt Andrian Kreye in der SZ Cynthia Lazaroff, Veteranin der sogenannten Track II Diplomacy im Kalten Krieg, der nicht-staatlichen Diplomatie. Ja, meint sie und fordert nach dem Krieg in der Ukraine müsse sich "sich eine globale Bewegung formieren." "Ist dem Frieden gedient, wenn wir kulturelle und wissenschaftliche Brücken nach Russland abbauen?", fragt der Kommunikationswissenschaftler Michael Brüggemann im Tagesspiegel. Im NZZ-Interview mit Sarah Pines setzt der Philosoph Michel Onfray zum Rundumschlag gegen Linke, Medien und Macron an.
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Medien

"Generäle sind jetzt die neuen Virologen", sagt der Filmemacher Martin Keßler im FR-Gespräch mit Thomas Stillbauer, in dem er nicht zuletzt den Öffentlich-Rechtlichen einseitige, effektheischende Berichterstattung vorwirft: "Es ist eine Emotionalisierung im Gange. Alle reden von 'Putins Krieg'. Natürlich hat er den Krieg vom Zaun gebrochen, Leid verursacht, und das ist absolut zu verurteilen. Aber dass es um eine Entwicklung geht, an der wir auch teilhaben, wird mir zu wenig beleuchtet. Man müsste auch Vertreter der klassischen Friedensbewegung zu Wort kommen lassen, weil die mit anderen Ansätzen an so einen Konflikt herangehen. Die habe ich noch in keiner Talkshow gesehen. Wir müssen stärker auf die Frage fokussieren: Wie lösen wir den Konflikt, wie kommen wir da raus?"

Ein bizarres Phänomen betrachtet Marie-Luise Goldmann in der Welt: Tiktok-Videos in Kriegszeiten. Gepostet werden - meist von jungen Ukrainerinnen - beispielsweise die besten Kriegsoutfits, "Haustiere, die nicht in den Bunker dürfen, Selenski-Glorifizierungen, Putin-Pranks." Die Unmittelbarkeit des Mediums hat Vorteile, etwa wenn Influencer dazu aufrufen, "ukrainische Airbnbs zu buchen, ohne darin Urlaub zu machen, um die Besitzer finanziell zu unterstützen. Außerdem solle man über Tinder-Premium Leute in Russland matchen, um auf direktem Wege aufzuklären, oder über Google russische Restaurants bewerten und in die Bewertung Informationen über den Krieg einfließen lassen."

Auf Netzpolitik berichtet Chris Köver allerdings, dass Tiktok in Russland nicht-russische Kanäle sperrt: "TikTok zensiert seinen eigenen Inhalt in Russland wesentlich stärker als es bisher öffentlich zugegeben hat und blockiert alle ausländischen Accounts in Russland. Das berichten Forscher:innen der Organisation 'Tracking Exposed' in einem detailliertem Bericht. Sie werfen TikTok vor, damit ein Vakuum zu hinterlassen, in dem vor allem Raum für Kreml-nahe Propaganda bleibt, während kritische Inhalte zum Ukraine-Krieg zensiert werden."
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