9punkt - Die Debattenrundschau

Der unerträgliche Geschmack von Blut

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.03.2022. Es bleibt bei den fast monothematischen Presseschauen. Die Financial Times erklärt in einem Online-Dossier, warum der Krieg nur schlimmer werden kann. Zugleich versuchen Intellektuelle zu verstehen, was passiert: Ebenfalls in der FT erklärt die russische Autorin Marija Stepanowa ihr Gefühl, als Statistin in einem von Putin ersonnenen Film zu leben. In der FAZ attackiert der Historiker Martin Schulze Wessel die Russland-Romantik seines Kollegen Jörg Baberowski. Die SZ fragt nach der Verantwortung Angela Merkels.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.03.2022 finden Sie hier

Europa

"Ich schreibe dies auf Russisch, und mit jedem Satz wird es härter", ist der Financial-Times-Essay der russischen Autorin Marija Stepanowa über den Ukraine-Krieg überschrieben. Er kommt ihr vor "wie eine grässliche Rekonstruktion, eine Filmkulisse, in der scharf geschossen wird, mit echten Menschen als Zielscheiben... Das ist es, was Putin in diesem Moment beschäftigt: die Durchsetzung seines persönlichen Willens, der Versuch, die Geschichte der Ukraine und Europas neu zu schreiben, unsere Gegenwart zu verändern und unsere Zukunft zu bestimmen. Er plant, die Ukraine, Russland, Europa, die Welt (und jeden, der ständig die Live-Nachrichten neu aufruft) in das schreckliche Buch zu ziehen, das er selbst geschrieben hat."

Ebenfalls in der Financial Times befindet sich ein Online-Dossier über die bisherige russische Kriegsführung, die an vielen Punkten, aber nicht überall gescheitert ist. Dass sich die Städte nicht so leicht erobern ließen wie erträumt, lässt Schlimmstes befürchten, so die Autoren, die mit den Experten Justin Bronk und  Michael Kofman gesprochen haben: Russland werde zunehmend "auf Methoden zurückgreifen, die sich in früheren Konflikten bewährt haben, wie der Angriff auf Mariupol zeigt... 'Sie scheinen auf das extrem brutale, aber leider sehr erfolgreiche Muster in Syrien und Grosny zurückzukommen - Menschen belagern, isolieren', so Bronk. 'Man bombardiert die Menschen, bis sie verhungern und die Bombardierung sie zur Kapitulation zwingt.' Kofman fügt hinzu: 'Es wird ihnen klar, dass sie sich auf einen ernsthaften Kampf einstellen müssen ... dieser Krieg wird noch hässlicher werden.'" In einem ähnlich aufwändigen Online-Dossier untersucht CNN den russischen Angriff auf ein Kinderhospital in Mariupol.

Der Filmemacher Oleksiy Radynski kommt in einem Essay für die taz (ursprünglich für das e-flux-Magazin) nochmal auf Wladimir Putins Problem mit der Ukraine zurück. Letztlich stecke hinter Putins Geschichtsessay (unser Resümee), der sich im Nachhinein lese wie seine Kriegserklärung, der Wunsch, die Ukraine zum Verschwinden zu bringen, gerade durch die Behauptung, dass Russland und die Ukraine eigentlich eins seien: "Wenn die Ukrainer*innen in Wirklichkeit Russ*innen sind, wie kann man es zulassen, dass sie Wahlen ohne vorher festgelegte Ergebnisse abhalten? Wenn die Ukrainer*innen tatsächlich Russ*innen sind, wie kann es sein, dass der ukrainische Staat keine 'homosexuelle Propaganda' bestraft? Wenn all diese Dinge in der Ukraine möglich sind, bedeutet dies für ein autokratisches russisches Denken automatisch, dass sie auch in Russland möglich wären. Das bedeutet wiederum, dass die Ukraine um jeden Preis verschwinden muss."

Sie steigt aus aus Deutschland, schreibt Antje Rávik Strubel in einem Abschiedsbrief in der FAZ, in dem sie die zögerliche Bundesregierung scharf kritisiert: "Mein ganzes Leben lebe ich im Bewusstsein der Schrecknisse des Zweiten Weltkrieges, die von unserem Boden ausgegangen sind. Ich möchte nicht bis an mein Lebensende im Bewusstsein leben, einen weiteren Krieg mitfinanziert zu haben. Ich habe nicht den Zusammenbruch einer sozialistischen Diktatur erlebt, um jetzt zuzuschauen, wie ein vom sowjetischen Geheimdienst trainierter und ausgebildeter Diktator Europa erneut mit Schrecken überzieht." Ihren Brief unterschreibt sie mit "Rávik, aufgehörte Deutsche".

Dem gegenüberzustellen wäre ein tatsächlicher Abschiedsbrief. Der russische Intellektuelle Sergej Medwedew erklärt bei DeskRussie, warum er Russland, in das er nach langer Zeit im Westen zurückgekehrt war, nun endgültig verlässt: "Es ist nicht die Angst vor dem Niedergang, der Krise und dem Mangel, nicht einmal die Angst vor Repressionen - ich bin an diesen Zustand gewöhnt, ich überprüfe regelmäßig die Liste der Auslandsagenten, schließe die Tür doppelt ab und habe die Telefonnummer meines Anwalts griffbereit. Getrieben werde ich vom unerträglichen Ekel, in einem Aggressorland zu leben, dem unerträglichen Geschmack von Blut in meinem Mund, dem Gefühl eines fortgesetzten, permanenten Verbrechens, dessen unfreiwilliger Zeuge und Komplize ich bin."

Schon einmal wurden mit dem Argument des "Nie wieder" keine oder unzureichend Waffen in ein Krisengebiet geschickt, beim Krieg der schwer bewaffneten Serben gegen die fast waffenlosen Bosnier, erinnert die ehemalige Grünen-Politikerin Marieluise Beck in der taz. Dann kam Srebrenica. "Die Bundesregierung hielt allzu lange fest an dem Grundsatz: Keine Waffen in Krisengebiete. Nun verfolgen wir den verzweifelten Abwehrkampf unzureichend ausgerüsteter Männer und Frauen, die mit einem hohen Blutzoll die russische Armee aufhalten - bisher aufhalten -, und unerwartet widerspenstig sind. Aber wie lange noch? (...) Ein Untergang der Ukraine würde das russische Militär an Polens Grenze bringen. Atomare Iskander-Raketen würden uns noch näher rücken. Und was, wenn Putin mit der Ukraine nicht satt wäre?"

Zu welcher Banalität gerade Experten fähig sind, zeigt ein Tagesspiegel-Artikel Claudia Majors sowie Liviu Horovitz' und Lydia Wachs' von der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin über Wladimir Putins Drohung mit Atomwaffen. "Die gute Nachricht ist: Die russischen Drohungen sind vor allem Rhetorik. Sie sind ernst zu nehmen, aber kein Grund zur Panik. Ein Einsatz bleibt sehr unwahrscheinlich. Die schlechte Nachricht ist: jeder Konflikt mit einer Atommacht ist gefährlich." Da mag sich ein Politiker dann aber gut beraten fühlen.

Mit Fassungslosigkeit blickt der einstige FDP-Politiker Gerhart Baum im Interview mit Reiner Burger von der FAZ auf seine engsten Kollegen: "Ich verstehe immer noch nicht, wie viele Politiker gerade in Deutschland Putin so verharmlosen konnten. Die Krim-Annexion, der Mord im Berliner Tiergarten, der Nervengift-Anschlag auf Nawalny, die Zerstörung in Syrien - das hat sich doch alles vor unseren Augen abgespielt. Und Putin war schon der Hauptverantwortliche für Millionen syrische Flüchtlinge. Trotzdem gab es so unfassbar viele Putin-Versteher!" Ebenfalls in der FAZ ruft Moskau-Korrespondent Friedrich Schmidt in Erinnerung, dass Putin immer nur er selbst war und seine Karriere bereits mit einem mörderischen Krieg in Tschetschenien begann.

Die Aufarbeitung fängt jetzt erst an. Angela Merkels Bilanz wird durch den Krieg im Nachhinein gewaltig überschattet. Eine Autorengruppe der SZ fragt nach ihrer Mitverantwortung für das jetzige Desaster. Unter anderem war sie 2008 maßgeblich gegen einen Nato-Beitritt Georgiens und der Ukraine. Erst danach griff Putin Georgien an: "Durch Vermittlung des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy wurde der Konflikt faktisch eingefroren - bis heute. Aber die Debatte blieb: 'Das Hinausschieben des Beitrittstermins hat Russland darin bestärkt, bald schon Tatsachen zu schaffen', sagte 2008 der tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg. Und: 'Appeasement ist keine Alternative.'"

Der Krieg stärkt Viktor Orbans Position in Ungarn, das vor Wahlen steht, fürchtet der Publizist Lacy Kornitzer im Gespräch mit Tom Wohlfarth in der taz: Und "selbst wenn er abgewählt würde, bliebe die Innenpolitik noch lange so, wie sie ist: Die nächste Regierung, so bunt sie zwischen rechts und liberal auch sein mag, wenn sie zustande kommt, wird nicht viel ändern können: Orbán hat vorsorglich Gesetze erlassen, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert oder aufgehoben werden können. Außerdem ist und bleibt Orbáns Partei Fidesz die stärkste Fraktion, sie kann jeden Versuch, die Politik zu korrigieren, boykottieren, so wie Orbán dies auch schon in der Opposition zwischen 2002 und 2010 getan hat. Bei alldem ist es eine Art Schicksalswahl. Denn wenn Orbán wiedergewählt wird, bleibt Ungarn ein despektierlicher Partner für die EU." Kornitzer legt bei Suhrkamp gerade einen Essay vor: "Über Destruktivität - Eine essayistische Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ungarns".
Archiv: Europa

Geschichte

Vor acht Jahren hatte der Historiker Jörg Baberowski noch geleugnet, dass die Ukraine überhaupt ein Land sei. Davon ist er in seinem jüngsten Essay für die FAZ zwar abgerückt (unser Resümee), aber immer noch schreibt er "Ich glaube an Russland und seine Menschen", notiert Kollege Martin Schulze Wessel in einer scharfen Polemik gegen Baberowskis von vielen Historikern und Politikern geteiltes romantisches Russland-Bild: "Es ist höchste Zeit, sich von diesem pseudoreligiösen Russland-Kitsch zu befreien. Putin betreibt eine Rekolonisierung Osteuropas. Die Antwort darauf muss in einer konsequenten Dekolonisierung unserer Denkmuster liegen. In der Geschichtswissenschaft erfordert dies zum Beispiel, das immer noch verbreitete Schema der 'Russischen Geschichte' zu überwinden. Dieses führt von der Kiewer Rus über das Moskauer Zarentum zum Petersburger Imperium und blendet andere Erzählungen aus, so zum Beispiel das Werk des ukrainischen Historikers Mychajlo Hruschewskyj, der 1904 die Geschichte anders erzählte: Die Kiewer Rus fand ihre Fortsetzung nicht in Wladimir und Moskau, sondern in ihren westlichen Territorien, das heißt in Galizien und Wolhynien und später in der Adelsrepublik Polen-Litauen."
Archiv: Geschichte

Internet

In der FR denkt Kathrin Passig über das Archivieren des Internets nach und stellt dabei auch ein Freiwilligenprojekt vor, das versucht "Daten ukrainischer Onlinearchive und Webseiten zu sichern, so lange das noch geht. Wenn Sie sich daran beteiligen wollen, finden Sie alles Nötige unter sucho.org. Und falls Sie beim Lesen dieses Beitrags dachten 'tja, es geht doch nichts über das gute haltbare Papier': Papierarchive aus Kriegsgebieten zu retten ist noch ein bisschen schwieriger."
Archiv: Internet

Medien

Putins Propagandasender RT betrieb in Großbritannien aktive Korruption. Lieblingspolitiker des Senders in Großbritannien war kein anderer als Nigel Farage, der unablässig bei RT auftrat und 2.000 Pfund Honorar pro Auftritt bekommen haben soll, erzählt die investigative Journalistin Carol Cadwalladr in einem Twitter-Thread:



Archiv: Medien

Gesellschaft

Am Sonntag fallen in Deutschland die Maskenpflicht (außer in Bussen und Bahnen) und viele andere Corona-Maßnahmen (mehr dazu hier). In der SZ kann Werner Bartens es nicht fassen: "An diesem Sonntag folgt eine besonders hübsche Pointe aus dem Setzkasten des Wahnsinns: Freedom Day zur Feier der täglich ansteigenden Höchstinzidenzen. Man muss das nicht verstehen, man kann sich auch nur wundern. Ein fahler, offenbar vereinsamter Mann droht vom langen Tisch aus mit dem Atomknopf, das ukrainische Volk wehrt sich gegen massenhaften Tod und die Versklavung - derweil befreien wir Deutschen uns von der Maske, dem Großsymbol von zwei Jahren Diktatur, Freiheitsberaubung und Unterjochung. ... Wer steckt sich denn ernsthaft noch mit Corona an, wenn die Seuche erst mal per Dekret beendet wurde? Die Bilder aus der Ukraine von Menschen in U-Bahn-Schächten und Krankenhäusern zeigen es ja auch: Kaum einer trägt dort Maske."

Viel Empörung erregt in der amerikanischen Twitter-Sphäre ein Leitartikel der New York Times, der unter Bezug auf Umfragen feststellt, das Amerika ein "Free Speech"-Problem habe - immer mehr Amerikaner haben das Gefühl, sich wegen der Hysterisierug nicht frei äußern zu können. Für Ärger bei den meisten Twitter-Kommentatoren sorgt, dass die Redaktion der Times "Links" und "Rechts" als zwei Seiten einer Medaille darstellt. Das polarisierte Klima erkläre sich daraus, "dass die politische Linke und die Rechte in einer destruktiven Endlosschleife von Verurteilungen und Schuldzuweisungen über 'Cancel Culture' gefangen sind. Viele auf der Linken weigern sich anzuerkennen, dass es die Cancel Culture überhaupt gibt und glauben, dass diejenigen, die sich darüber beschweren, Rechten Deckung bieten, um mit Hassreden hausieren zu gehen. Viele auf der Rechten haben sich trotz ihres Gezeters über Cancel Culture eine noch extremere Version der Zensur-Mentalität als Bollwerk gegen eine sich schnell verändernde Gesellschaft zu eigen gemacht, mit Gesetzen, die Bücher verbieten, Lehrer unterdrücken und offene Diskussionen in Klassenzimmern verhindern."

In der NZZ fragt Hans Christoph Buch, warum die Cancel-Kultur lieber "aufgeklärte Liberale" aufs Korn nimmt, statt Rechte.
Archiv: Gesellschaft