9punkt - Die Debattenrundschau

Ihr habt eine Mitverantwortung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.03.2022. Nüchtern geht die Financial Times die Szenarien für den Ausgang des Kriegs durch. Drei seien denkbar, eine Absetzung Putins, eine Waffenruhe, eine Eskalation. Die New York Times fragt nach Putins Verhältnis zu Atomwaffen. Mstyslav Chernov von AP gehörte zu den letzten westlichen Journalisten in Mariupol. Er erzählt,warum die ukrainische Armee ihn bat zu gehen. Deutschland lässt Ostmitteleuropa gerade zum zweiten Mal im Stich, schreibt die polnische Politologin Justyna Schulz in der FAZ. Und laut New York Times dürfen in der Literatur alle Männer verschwinden, aber bitte nicht alle Menschen mit Y-Chromosom.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.03.2022 finden Sie hier

Europa

Nüchtern geht Gideon Rachman in der Financial Times die möglichen Szenarien für ein Kriegsende durch. Es könnte einen Aufstand in Russland und eine Absetzung Putins geben - aber die Wahrscheinlichkeit dafür ist gering. Etwas plausibler wäre eine Waffenruhe, weil beide Seiten nicht fähig sind, einen endgültigen Sieg zu erringen. Am wahrscheinlichsten ist eine Eskalation: "Der Druck auf die westlichen Staats- und Regierungschefs zu intervenieren würde zunehmen, je schlimmer die Gräueltaten werden. Die Regierungen der USA und Europas werden sich diesem Druck wahrscheinlich weiterhin widersetzen. Eine verstärkte Militärhilfe für die Ukraine könnte jedoch die Grenze zwischen Intervention und Nichteinmischung verwischen und das Risiko eines direkten Zusammenstoßes zwischen Russland und dem Westen erhöhen."

AP war das letzte westliche Medium, dessen Journalisten aus Mariupol berichteten (wir hatten sie zitiert). Mstyslav Chernov erzählt, wie ukrainische Soldaten sie suchten und in einen geschützten Keller brachten: "Erst dann erfuhren wir von einem Polizisten, warum die Ukrainer das Leben von Soldaten riskiert hatten, um uns aus dem Krankenhaus zu holen. 'Wenn sie euch erwischen, werden sie euch vor die Kamera stellen und euch sagen lassen, dass alles, was ihr gefilmt habt, eine Lüge ist', sagte er. 'All Eure Mühe, und was Ihr in Mariupol getan habt, wird umsonst gewesen sein.'  Der Offizier, der uns einst so dringend gebeten hatte, der Welt seine sterbende Stadt zu zeigen, flehte uns nun an zu gehen."

Russland verfügt über eine große Menge "kleiner" Atomsprengköpfe, die eine geringere Wirkung haben als die Hiroshima-Bombe. William J. Broad erkundet in einem größeren Hintergrundartikel in der New York Times, wie groß die Versuchung eines frustrierten Putin sein könnte, eine solche Waffe einzusetzen. Broad hat unter anderem mit dem deutschen Experten Ulrich Kühn gesprochen: "Putin könnte eine Waffe auf ein unbewohntes Gebiet statt auf Truppen abfeuern, so Dr. Kühn. In einer Studie aus dem Jahr 2018 entwarf er ein Krisenszenario, in dem Moskau eine Bombe über einem abgelegenen Teil der Nordsee zündete, um tödlichere Angriffe anzukündigen. 'Es fühlt sich schrecklich an, über diese Dinge zu sprechen', sagt Kühn im Interview. 'Aber wir müssen in Betracht ziehen, dass dies eine Möglichkeit wird.'"

"Geschichte ersetzt für Putin das Völkerrecht", sagt der Osteuropa-Historiker Wilfried Jilge im Gespräch mit Frank Patalong vom Spiegel. Sie "liefert ihm so Legitimationsgrundlagen: durch Geschichtsbilder, an die Rechtsansprüche geknüpft werden, durch die aber eigentlich das Völkerrecht außer Kraft gesetzt werden soll." Ganz im Muster des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wolle Putin selbstdefinierte "Landsleute" "heim ins Reich" holen: "In dieser weitgespannten, hoch flexiblen und für alle Fälle nutzbaren Definition gilt ein 'Landsmann' als Angehöriger der 'Russischen Welt' oder mehr oder weniger als Russe, ob er das nun will oder nicht. Und steht damit unter dem Schutz des Kremls - mit kulturellen, diplomatischen, aber eben auch mit militärischen Mitteln." Die Russen machen bis auf bewundersnwerte Ausnahmen mit, so Jilge, und protestieren frühestens, wenn allzu viele Soldaten im Sarg zurückkehren.

Nachtragen müssen wir den Hinweis auf den Artikel Serhij Zhadans in Spiegel online - mit scharfer Kritik am Westen: "Ihr habt zu lange und zu unverschämt mit den Tätern dieses Kriegs verhandelt. Ihr habt lange zwischen euren Prinzipien und eurer Bequemlichkeit geschwankt und dabei alle Verpflichtungen der Partnerschaft vergessen. Ihr habt zugelassen, dass die russische Propaganda euer Bewusstsein mit Lügen über 'ukrainische Nazis' und den 'Bürgerkrieg in der Ukraine' oder den 'gesellschaftlichen Konflikt' überschwemmt hat. Ihr habt eine Mitverantwortung."

Deutschland hat Ostmitteleuropa zweimal im Stich gelassen, schreibt die polnische Politologin Justyna Schulz in der FAZ, im Moment der Solidarnosc, durch die man sich nicht die schöne Entspannungspolitik mit Russland kaputtmachen wollte, und jetzt. Deutschland agiere dabei aus wirtschaftlichem Egoismus: "In einer Gesellschaft, in der seit Jahren jeden Freitag gegen Konsum auf Kosten der Natur demonstriert wird und in der die Kritik am Wachstumsdrang des Kapitalismus weit verbreitet ist, scheint man nicht bereit zu sein, durch konkrete Konsumeinschränkung tausendfaches Menschenleben zu retten." Schulz attackiert nicht nur die deutsche Politik: "Zurzeit wird seitens der deutschen Öffentlichkeit kaum Druck ausgeübt, um Antworten auf diese Fragen zu bekommen." Schulz wirft auch der Printpresse vor, einseitig pro Nordstream 2 Einfluss genommen zu haben und behauptet, Gerhard Schröder habe seit 17 Jahren einen Beratervertrag bei Springer (aber war das nicht eher Ringier, mehr hier?)

Auf Antje Ravik Strubel, die in der FAZ mal eben ihren Austritt aus Deutschland erklärte (unser Resümee), antwortet heute Ines Geipel und fordert Engagement: "Warum keine Boykottaufrufe gegen Firmen, die weiter Handel mit Russland treiben? Was ist mit der bewaffneten Friedensmission, die die Polen angeregt haben? Warum nicht die Öl- und Gaslieferungen auf Zeit aussetzen, bis zur nächsten Einberufungswelle am 1. April in Russland?"

Russland hat die Brexit-Kampagne zwar aktiv mitfinanziert, aber Boris Johnson entblödete sich neulich nicht, den Kampf der Ukrainer mit dem Kampf der Brexitbefürworter gleichzusetzen. Hugo Rifkind antwortet in einer Kolumne der Times: Zunächst habe Johnson "übersehen, dass die Ukraine wie Georgien und Moldawien der EU gerade deshalb beitreten will, weil sie die Alternative zur Unterdrückung durch den Kreml ist. Auch fällt es mir schwer, mich zu erinnern, dass Brüssel unsere Krankenhäuser mörderisch bombardiert hätte. Und andersherum betrachtet könnten Sie sich fragen, ob die Ukrainer wirklich in der Frage gespalten sind, ob sie abgeschlachtet werden wollen, wobei die Hälfte von ihnen dies aktiv befürwortet?"
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Internet

Die Abspaltung Russlands vom Internet könnte Tendenzen zu einer Balkanisierung des Internets noch vorantreiben, fürchtet James Ball bei heise.de: "China und der Iran nutzen nach wie vor dieselbe Internettechnologie wie die USA und Europa, auch wenn sie den Zugang zu bestimmten Angeboten sperren oder von bestimmten Angeboten ausgeschlossen sind. Wenn diese Länder rivalisierende Verwaltungsorgane und ein rivalisierendes Netz einrichten, könnte das bisherige Internet nur durch die gegenseitige Zustimmung aller großen Nationen der Welt wiederhergestellt werden. Die Ära der global vernetzten Welt wäre dann vorbei."
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Ideen

In der NZZ erklärt der Philosoph Andreas Brenner, warum er eine Impfpflicht ablehnt: Sie liefe auf eine Enteignung des Körpers hinaus, schreibt er und argumentiert mit Locke und Kant: "Definierte der eine die Person als ausschließlichen Eigentümer ihres Körpers, so leitete der andere aus der Würde des Menschen her, dass er nie (und das heißt unter keinen denkbaren Umständen) als Sache gedacht werden dürfe. Genau dies wäre aber der Fall, wenn Menschen zur Impfung gezwungen würden: Sie würden nicht länger als Eigentümer ihrer selbst gesehen und stattdessen zu einer Sache gemacht, in diesem Falle zu einer Sache, welche dem Wohl der allgemeinen Gesundheit zu dienen hat."
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Gesellschaft

Bari Weiss wünscht sich in der Welt, dass der Westen - und besonders seine woken Kritiker - sich ein Beispiel an dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski nehmen. Deshalb muss man nicht gleich in den Krieg ziehen, aber: "Es lohnt sich, für die individuelle Freiheit zu kämpfen. Seit Beginn des Krieges sind folgende Dinge geschehen: Das Russia House, ein Restaurant in Washington, D.C. in der Nähe des Dupont Circle, wurde mehrfach Opfer von Vandalismus - die Fenster wurden eingeschlagen und die Tür zertrümmert. In Vancouver wurden die Eingangstüren der orthodoxen Kirche St. Sophia mit roter Farbe beschmiert. Das Symphonieorchester von Montreal hat einen Auftritt des russischen Virtuosen Alexander Malofeev abgesagt. Oh, und vergessen wir nicht die Katzen: Die Internationale Katzenföderation hat russische Katzen verboten. Ganz im Ernst. Diese moralische Panik, diese Mob-Mentalität - die sich jetzt als antirussische Bigotterie darstellt, aber in ein oder zwei Wochen etwas ganz anderes sein wird - kann nie und nimmer zur Normalität werden. Sie verstößt gegen das grundlegendste Prinzip der liberalen Demokratie: die individuelle Freiheit. In freien und gerechten Gesellschaften beurteilen wir Menschen als Individuen, nicht als Mitglieder einer Gruppe. Wir beurteilen sie auf der Grundlage ihrer Taten, nicht auf der Grundlage der Taten ihrer Eltern. Oder von Menschen desselben Geschlechts. Oder derselben Postleitzahl. Oder Hautfarbe."

Um im Moment Debatten der modischen Linken nachzuvollziehen, müssen sie einen Grad an Lächerlichkeit erreichen, dass es sich wirklich lohnt. So zum Beispiel die Debatte um die Romanautorin Sandra Newman und die Essayistin Lauren Hough, die Newman gegen den Vorwurf der Transfeindlichkeit verteidigte und darum von einer Liste von Kandidatinnen für einen queeren Buchpreis entfernt wurde. Das Problem an Newmans Roman "Leaving Isn't the Hardest Thing" ist, dass sie sich eine Welt ausmalt, in der alle Menschen mit Y-Chromosom, also alle Männer, plötzlich verschwinden. Offenbar hat sie dabei nicht ausreichend gewürdigt, dass auch Transfrauen ein Y-Chromosom haben und wurde in den sozialen Medien angegriffen. Nach dem Bericht Marc Tracys in der New York Times wurde Hough folgendes Argument übelgenommen: "'Andere Bücher, die von dieser Prämisse ausgingen - alle Männer verschwinden - haben die Existenz von Trans-Personen ausgelöscht, und es war Newman wichtig, das nicht zu tun, so sensibel wie möglich zu sein', schrieb Hough. 'Als ich also sah, dass die Leute annahmen, diese einfache Idee sei die gesamte Handlung, sagte ich ihnen, sie sollten das Buch lesen, bevor sie das Schlimmste annehmen.'"

In der SZ erinnert Susan Vahabzadeh daran, dass die DDR 1972 ein Abtreibungsrecht mit Fristenlösung verabschiedete hatte. In der BRD brauchte man als Frau zu dieser Zeit noch eine Genehmigung des Ehemanns, wenn man arbeiten wollte. Zwei Jahre später durfte man auch hier abtreiben, allerdings mit Beratungspflicht und rechtswidrig blieb es auch. Im Zuge der Wiedervereinigung wurde das DDR-Recht dann einkassiert: "Es war das westdeutsche Modell, das sich durchsetzte. 1990, vor der Wiedervereinigung, gab es Demonstrationen vor dem Palast der Republik, auf den Transparenten standen Sätze wie 'Kein Paragraf 218! So wahr uns Gott helfe'. Es nützte nichts: Das ostdeutsche 'Gesetz über die Unterbrechung einer Schwangerschaft' verschwand mit der Wiedervereinigung, als habe es nie existiert. Aber 1972 war es eines der modernsten der Welt."
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