9punkt - Die Debattenrundschau

Demontage erster Klasse

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.03.2022. Timothy Snyder scheut sich in der Washington Post nicht, Putins Politik gegenüber der Ukraine genozidal zu nennen. In der Welt fragt die ehemalige Nato-Beraterin Stefanie Babst, ob Putin wirklich nur einen "strategischen Puffer zur Nato" herstellen will. Die taz erzählt, wie in der Ukraine jetzt schon zu  russischen Kriegsverbrechen recherchiert wird. Die SZ arbeitet die Geschichte russischer Fake News auf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.03.2022 finden Sie hier

Europa

Aufklärung ist eine der Waffen gegen Wladimir Putin. Anastasia Magasowa erzählt in der taz, wie Menschenrechtsaktivistinnen quasi live Menschenrechts- und Kriegsverbrechen dokumentieren: "Die meisten dokumentierten Fälle betreffen Morde an sowie Verletzungen von Zivilist*innen, die Zerstörung ziviler und kultureller Einrichtungen, Plünderungen, den Einsatz von Zivilist*innen als menschliche Schutzschilde sowie die Einberufung von Bewohnern der Krim und der ''Volksrepubliken Donezk und Luhansk' in die russische Armee. Auch geht es um die Behinderung friedlicher Kundgebungen sowie die Entführung von Aktivist*innen und Journalist*innen."

Und Dominic Johnson erläutert ebenfalls in der taz, wie die Ukraine die Verantwortlichen in Russland zur Rechenschaft ziehen will: "Zwar sind weder die Ukraine noch Russland dem Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) beigetreten. Doch bereits 2014 und 2015, nach der russischen Besetzung der Krim und Teilen des Donbass, hatte die Ukraine die Zuständigkeit des ICC für sein Staatsgebiet anerkannt - erst für den Zeitraum der Maidan-Proteste und der Revolution 2013/14, dann für den gesamten Zeitraum seitdem. Auf dieser Grundlage forderten am 2. März 39 Staaten, darunter auch Deutschland, den ICC auf, in der Ukraine tätig zu werden - inzwischen sind es 41. "

Aber auch in Russland wird "ermittelt". Und dafür werden Ukrainer in bisher unbekannter Zahl nach Russland entführt, wo zu ihnen kein Kontakt besteht. Ein offizielles "Ermittlungskomitee" geht der Behauptung eines Genozids im Donbass nach, um Putins offizielle Begründung für eine "Spezialoperation" zu unterfüttern, berichten Sofia Dreisbach und Friedrich Schmidt in der FAZ: "Das Ermittlungskomitee drohte, 'ungeachtet aller Behinderungen seitens der internationalen Gemeinschaft' alle Ukrainer, die an 'grausamen Verbrechen' an der Zivilbevölkerung des Donbass beteiligt gewesen seien, zu ermitteln und 'unbedingt der verdienten Strafe zuzuführen'. Die Vereinigten Staaten hatten im Februar, noch vor Ausbruch des Krieges, vor russischen Listen gewarnt, auf denen Ukrainer stünden, die getötet oder in Lager gesteckt werden sollten."

Nur der Nato-Eintritt schützt. Russland ist 2008 in "abtrünnige" Regionen Georgiens einmarschiert, nachdem Frankreich und Deutschland dafür sorgten, dass es nicht in die Nato eintritt, schreibt der georgische Journalist Sandro Gvindadze in der taz: "Im Dezember 2021, während Russland seine Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammenzog, forderte Moskau die Nato auf, ihre Expansionspolitik aufzugeben. Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs wurden die Georgier*innen von einem Gefühl der Solidarität, aber auch von einer wahnsinnigen Angst ergriffen. Schließlich ist Russland der Ansicht, dass es das Recht habe zu entscheiden, wie das ukrainische Volk weiter leben soll. Was hält Moskau davon ab, das Gleiche in Georgien zu tun?"

Timothy Snyder scheut sich in der Washington Post nicht, Putins Politik gegenüber der Ukraine genozidal zu nennen. Es gehe Putin um die Vernichtung der Identität eines Volks. In seinem Geschichtsessay habe Putin dargelegt, dass der Westen den Ukrainern überhaupt erst eingeredet hätte, sie hätten eine eigene Identät, das müsse nun korrigiert werden: "Dies ist auch ein Reflex der Ideen Hitlers. Der Führer hielt die Ukrainer ebenfalls für ein natürliches Kolonialvolk, das, sobald es von der angeblich jüdischen Führung der Sowjetunion befreit sei, gerne neuen Herren dienen würde. Dmitri Medwedew schloss die Lücke zwischen diesen beiden Positionen, indem er deutlich machte, dass die ukrainische Regierung durch ihren jüdischen Präsidenten disqualifiziert wurde. In den Wochen vor der Invasion weigerte sich Russland, mit der Ukraine zu verhandeln, und stellte sie als Vasallen dar." 

Snyder spielt hier übrigens auf einen Geschichtsessay Medwedews an, in dem Medwedew Selenski mit dem Anführer eines jüdischen "Sonderkommandos" vergleicht - dieser Essay aus dem Kommersant wurde im Westen kaum wahrgenommen, Link und Informationen hier. Medwedew hat sich jüngst auch zu Polen in einem gehässigen kleinen Artikel geäußert, auf den Gerhard Gnauck in der FAZ verweist - der Artikel werde in Polen als akutes Warnsignal wahrgenommen. Ausführlich wird Medwedews Polen-Diatribe in diesem Twitter-Thread übersetzt.

Der ehemalige amerikanische Offizier ukrainischer Herkunft Alexander Vindman, der unter Trump diente und sich von Trump distanzierte, ist in der amerikanischen Diskussion des Ukraine-Kriegs zu einer wichtigen Stimme geworden. Im Gespräch mit KK Ottesen von der Washington Post glaubt er nicht, dass Putin Atomwaffen einsetzen würde: "Dieser Typ liebt sich.  Er sitzt ein Fußballfeld entfernt von seinen engsten Vertrauten und Beratern, weil er nicht krank werden will. Er ist nicht selbstmordgefährdet. Für ihn ist das alles rational und beruht auf der Tatsache, dass er so lange damit durchgekommen ist."

Die Putin-Versteher schöpfen unbewusst aus einer deutschen Vergangenheit, die heute in Vergessenheit geraten ist, findet der Osteuropa-Historiker Ulrich Schmid in der FAZ: "Die Aufarbeitung der NS-Zeit dominiert die deutsche Geschichtspolitik in einem solchen Maße, dass frühere Epochen oft zu wenig kritisch wahrgenommen werden. Das gilt vor allem für Bismarck, der seinem deutschen Reichsprojekt alles andere unterordnete. Wie Putin setzte er auf die Verbreitung von Fake News. Wie Putin scheute er nicht davor zurück, Kriege auszulösen. Wie Putin annektierte er ein Gebiet, in dem es vor der militärischen Intervention keinen Irredentismus gegeben hatte. Und wie Putin bekämpfte er innere Feinde."

Es wird sich ein "neuer eiserner Vorhang durch die Mitte Europas" ziehen, prophezeit in der Welt Stefanie Babst, die lange für den Internationalen Stab der Nato in Brüssel tätig war. Ein Ende des Kriegs ist allerdings vorerst nicht in Sicht, meint sie: "Mittelfristiges Ziel Moskaus könnte es sein, die Ukraine auf einen westukrainischen Rumpfstaat ohne Seeanbindung zu reduzieren, der dann an der wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Nabelschnur der USA und ihrer Nato- und EU-Verbündeten hinge. Damit würde Russland den seit Längerem angestrebten strategischen Puffer zur Nato herstellen. Die wirtschaftliche und militärische Infrastruktur in der Westukraine nachhaltig zu zerstören und den Strom ukrainischer Flüchtlinge in die EU weiter anschwellen zu lassen, dürfte ebenfalls zu den Zielen der russischen Angriffstaktik gehören."

Der Dritte Weltkrieg hat noch nicht begonnen, erwidert in der FR der Jurist und Grünen-Politiker Rupert von Plottnitz der ukrainischen Schriftstellerin Katja Petrowskaja. Deshalb sei es weder politisch noch moralisch verwerflich, den Frieden dort zu sichern, wo bisher kein Krieg herrscht, meint er: "Wer von den Mitgliedstaaten der Nato den Mut zu einer Intervention an der Seite der Ukraine fordert, sollte auch den Mut aufbringen, die konkreten Konsequenzen zu benennen, die der verlangte Mut im Falle eines Falles fordern könnte: nämlich Städte und Orte in Europa, zum Beispiel auch Frankfurt am Main, in denen es am Ende so aussieht, wie es jetzt bereits in der Ukraine in Charkiw, Mariupol oder Kiew der Fall ist."

Deutschland wird beim heutigen Treffen von Nato, G7 und Europäischer Union in Brüssel mit Fragen und Vorwürfen konfrontiert werden, mutmaßt Josef Kelnberger in der SZ. Aber wenn eine militärisches Eingreifen schon keine Option ist, sollten wir nicht zumindest sofort Öl- und Gasimporte aus Russland stoppen? "Wer moralisch argumentiert, mag zu dem Schluss kommen. Politisch wäre es höchst fragwürdig, den von vielen Experten befürchteten Zusammenbruch ganzer Industriezweige zu riskieren und darauf zu spekulieren, andere Experten behielten recht und es werde schon irgendwie gutgehen. Niemandem in Europa ist gedient, wenn die größte Wirtschaftsmacht sich und damit den ganzen Kontinent in eine Wirtschaftskrise stürzt."

Vor wenigen Tagen erklärte die Antje Ravik Strubel, aus ihrem Deutschsein austreten zu wollen, heute erklärt Maxim Biller in der Zeit, warum er - vorerst zumindest - kein Schriftsteller mehr sein will. Die Leute gehen ihm einfach auf die Nerven: "Ich kriege natürlich auch mit, wie immer mehr Postlinke behaupten, ukrainische Flüchtlinge würden heute in Deutschland wie Könige behandelt werden, während die syrischen Kinder, Frauen und Männer 2015 von den bösen weißen deutschen Rassisten praktisch gelyncht wurden - was erstens nicht wahr ist und zweitens der vergebliche Versuch dieser Leute, wieder ein bisschen von ihrer alten Aufmerksamkeit zurückzukriegen, weil sich gerade keiner für ihre Twitter-Dramen interessiert. ... Nein, für solche Leute will ich gerade keine Romane und Erzählungen schreiben, wirklich nicht."

Außerdem: Inna Hartwich erzählt in der taz, wie sich die westlichen Sanktionen für die Mokauer anfühlen - inzwischen ziemlich konkret. In der Zeit fordert der Osteuropa-Historiker Philipp Ther Solidarität mit unseren osteuropäischen Nachbarn - vor allem mit Polen.
Archiv: Europa

Gesellschaft

In der Zeit kann der Soziologe Armin Nassehi einfach nicht verstehen, warum die FDP trotz steigender Inzidenzen unbedingt die Maskenpflicht abschaffen will: "Das Tragen einer FFP2-Maske gehört zu den mildesten, einfachsten, niedrigschwelligsten, kostengünstigsten und effektivsten Public-Health-Maßnahmen überhaupt. Das Tragen einer Maske schützt den Träger ebenso wie das Gegenüber. Was kann also der gute Grund sein, bei höchsten Inzidenzen darauf zu verzichten, zumal uns Österreich mit sehr ähnlichen Pandemieparametern gerade eindrucksvoll demonstriert, wohin das führt? Die Frage ist leicht zu beantworten. Sachlich lässt es sich gar nicht begründen. Es geht ums Prinzipielle. Es geht darum, dass es dem kleinsten Koalitionspartner, flankiert von einem teils unsäglichen öffentlichen Diskurs, gelungen ist, einfache Public-Health-Maßnahmen so sehr mit symbolischer Bedeutung aufzuladen, dass es keine sachliche Begründung mehr braucht. ... Ist es die Angst vor so etwas wie einer Gelbwestenbewegung, die den kleinsten Koalitionspartner derart mächtig werden lässt?"
Archiv: Gesellschaft

Kulturmarkt

Der Verlag Ambo/Anthos zieht die niederländische Ausgabe des umstrittenen Buches über den Verrat an Anne Frank zurück, bittet um Entschuldigung und die Buchhandlungen darum, die bereits gelieferten Bestände zurückzuschicken, meldet Jens-Christian Rabe in der SZ. (Unser Resümee) Am Dienstagabend habe ein "niederländisches Forscherteam um den Historiker Bart Wallet, Professor für jüdische Geschichte an der Universität Amsterdam, seine Überprüfung der im Buch präsentierten neuen Ermittlungen zum Verrat von Anne Frank vorgestellt. Die Veranstaltung war eine "Demontage erster Klasse", so Rabe weiter: "In dem 70-seitigen Report Wallets und seiner Kollegen werden die vermeintlichen Fakten und die Methoden des Cold Case Teams tatsächlich skrupulös und eindrucksvoll detailliert zerlegt. Das Cold Case Team behauptet, Arnold van den Bergh hätte das Wissen, das Motiv und die Gelegenheit gehabt, das Versteck zu verraten. Der Report zeigt dagegen, dass alle diese Unterstellungen auf Quellenmissbrauch und amateurhaften Schlussfolgerungen beruhen."
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Frank, Anne

Medien

In der SZ blickt Andrian Kreye auf den Ursprung russischer Fake News, nämlich die 1983 vom KGB lancierte Geschichte, "HIV sei ein afrikanisches Virus, das von amerikanischen Militärs untersucht worden sei, um es zur biologischen Waffe zu züchten." "Der offizielle russische Begriff für die psychologische Kriegsführung gegen die Gesellschaften des Westens war 'Aktive Maßnahmen'. In seinen Hochzeiten soll der KGB bis zu 85 Prozent seines Budgets dafür ausgegeben haben. In der Abteilung, die dafür zuständig war, arbeiteten der New York Times zufolge zeitweise um die 15 000 Leute. Die New York Times rekonstruierte schon vor fünf Jahren in einer aufwendigen Recherche eine Art Regelkatalog der 'Aktiven Maßnahmen'. Der erste Schritt ist dabei immer, Brüche in der Gesellschaft des Ziellandes zu identifizieren und diese zu verstärken. Die Kulturkämpfe der amerikanischen Gesellschaft und ihre Spaltung entlang der beiden Parteien sind dabei seit Jahren ein Ziel. Im nächsten Schritt wird eine Falschnachricht erfunden, die so ungeheuerlich ist, dass sie genug Empörung erzeugt, dass Zweifel untergehen. Wichtig ist es, in jeder der Falschnachrichten ein Körnchen Wahrheit einzubauen."
Archiv: Medien