9punkt - Die Debattenrundschau

Bis zum Ende der Spezialoperation

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.03.2022. Nun stellt mit der Nowaja Gaseta das letzte unabhängige Medium in Russland sein Erscheinen ein - und verabschiedet sich mit einem nüchternen Tweet. Im FAZ-Interview bekennt Catherine Belton, Autorin von "Putins Netz", dass sie niemals mit diesem Krieg gerechnet hätte. Der "globale Süden" denkt anders über Russland als der Westen, notiert Zeit online - die Abhängigkeiten von Russland sind groß. Die SZ porträtiert den Talkshow-Moderator Tucker Carlson, der sich bei Fox News für Putin engagiert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.03.2022 finden Sie hier

Europa

Mit einem Tweet in nüchterner Sprache gibt die Nowaja Gaseta, das letzte unabhängige Medium in Russland, bekannt, dass sie ihr Erscheinen einstellt: Man habe eine weitere Warnung von den Zensurbehörden erhalten: "Daraufhin setzen wir die Zeitung im Netz und auf Papier aus - 'bis zum Ende der 'Spezialoperation auf dem Territorium der Ukraine''."

Pierre Haski kommentiert bei France Inter: "Die Invasion der Ukraine versetzte der unabhängigen Presse den Todesstoß, für Wladimir Putin ging es um absolut zentrale Fragen. Die Nowaja Gaseta hatte die Grenzen ausgetestet. Am ersten Tag des Krieges hatte die Zeitung eine zweisprachige Ausgabe in russischer und ukrainischer Sprache veröffentlicht. Und am Wochenende hatte ihr Chefredakteur an einem Video-Interview mit dem ukrainischen Präsidenten Selenski durch russische Journalisten, von denen die meisten im Exil lebten, teilgenommen. Moskau hat die Veröffentlichung verboten."

Nicht dass Politiker anderer Parteien sich nicht auch gern mit Putin an einen mehr oder weniger langen Tisch setzten, aber die AfD trieb es besonders eifrig und streitet sich nun über den Krieg, wie Gareth Joswig in der taz berichtet. Bei vielen sind die Sympathien für den Giftmörder allerdings unverbrüchlich: "Wenn selbst führende AfD-Politiker in Kriegszeiten Putins Propaganda verbreiten, trauen sich das diejenigen aus der zweiten und dritten Reihe erst recht. Zumeist sind es diejenigen, die, gern auf Kosten des Kremls, nach Russland gereist sind, um etwa als Pseudowahlbeobachter Wahlen in Russland und sogar in den Separatistengebieten in der Ukraine und der annektieren Krim Legitimation zu verleihen."

Catherine Belton hat mit dem Buch "Putin's People", deutsch "Putins Netz" eine der wichtigsten Analysen der Putinschen Kleptokratie geschrieben. Aber auch sie sagt im Gespräch mit Sandra Kegel in der FAZ, dass sie niemals mit einem Angriff Putins auf die Ukraine gerechnet hätte. "Alle klammerten sich an den Status quo des Friedens, wollten nicht wahrhaben, dass jemand so mörderisch handeln würde. Aber Putin hatte es immer wieder getan, in Tschetschenien, in Syrien, Georgien. Doch nicht nur der Westen hat sich in ihm getäuscht, sondern auch die russische Elite, die Moskauer Geschäftswelt. Selbst sein eigenes Außenministerium und die diplomatischen Kreisen waren scheinbar überzeugt, dass er so weit nicht gehen würde."

Der taz-Ukraine-Korrespondent Bernhard Clasen kritisiert scharf Maßnahmen der ukrainischen Regierung gegen angebliche Russland-Sympathisanten im eigenen Land: "Niemand aus dem sogenannten 'prorussischen Milieu' der Ukraine hat die russischen Besatzer mit Blumen empfangen. Deswegen ist es ein Fehler, diese Kräfte mit Verboten auszugrenzen. Vielmehr sollte die Regierung sie noch mehr einbinden. Jedes Besatzerregime braucht für eine Besatzung ein Mindestmaß von Unterstützung eines Teils der Bevölkerung. Diese Unterstützung hatte man sich in Russland wohl von den sogenannten 'prorussischen' Kräften erhofft. Aufgabe der ukrainischen Regierung ist es jetzt, diese Kreise für sich zu gewinnen."

Angeblich wollen sich die russischen truppen, da sie die Ukraine nicht als Ganzes schlucken können, auf die Gebiete Luhansk und Donezk konzentrieren. Aber Florian Hassel von der SZ ist skeptisch: "Eine Streitmacht, die tatsächlich die gesamte ukrainische Armee im Osten einschließen und eine militarisierte Grenze wie zwischen Nord- und Südkorea kontrollieren sollte, würde demnach mindestens weit über 100.000 russische Soldaten erfordern."

Sehr streng urteilt der politco.eu-Korrespondent Matthew Karnitschnig über die politische Klasse in Deutschland: "Deutschlands kollektive Verantwortung ist der Grund dafür, dass die Zeitenwende leichter verkündet als getan ist. Es gibt keine Churchill-ähnliche Figur in der deutschen Politik, die seit Jahren vor Vertrauen in Putin gewarnt hätte. Auch wenn Merkel die Hauptschuld daran trägt, dass sie in die Falle des russischen Führers ging, ist in Wahrheit die gesamte politische Klasse Deutschlands schuld."

Der "globale Süden" denkt anders über Russland als der Westen, notiert Johannes Plagemann bei Zeit online: "Indien und Vietnam, zum Beispiel, beziehen einen Großteil ihrer Rüstungsgüter aus Russland. Solcherart umfassende Rüstungskooperationen sind Ergebnis jahrzehntelanger Partnerschaften. Sie lassen sich nicht leichtfertig ersetzen. Einmal eingerichtete Waffensysteme benötigen Ersatzteile und Unterhalt, die ebenfalls von Russland bezogen werden. Wie viele andere Länder des globalen Südens importiert Indien auch einen Großteil der für die Landwirtschaft unverzichtbaren Düngemittel aus Russland (und der Ukraine). Weizen aus beiden Staaten ist Grundnahrungsmittel in Nahost und Nordafrika."

Von Angela Merkel ist nichts zu hören, konstatierte Bernd Rheinberg vor einigen Tagen bei den Salonkolumnisten: "Vielleicht ist das gerade jetzt so ein Moment, in dem unsere ehemalige Bundeskanzlerin, Angela Merkel, erkennt, dass ihre Politik in den vergangenen zwei Jahrzehnten in wichtigen Punkten falsch war, ja, fahrlässig blind. Vielleicht ist es aber auch der Moment, in dem die Öffentlichkeit erkennt, dass ihre sehr oft positive Einschätzung der Merkelschen Politik über viele Jahre ebenso falsch war. Noch scheint es nicht so zu sein. Noch macht man bei fast allen Rückblicken auf die Fehler der deutschen Politik der letzten Jahre einen Riesenbogen um ihren Namen."

Außerdem: Russland fordere keine Entnazifierzierung der Ukraine mehr, Nato-Mitgliedschaft soll ausgeschlossen sein, aber nicht EU-Mitgliedschaft - so zitiert die Financial Times den angeblichen Stand bei den ukrainisch-russischen Friedensgesprächen.
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Ideen

Selenskis Ukraine ist real, Putins Ukraine ist ein aggressiv romantisches Hirngespinst, schreibt die Literaturwissenschaflterin Amelia Glaser bei CNN.com: "Die Ukrainer haben sich zunehmend einem zivlen Verständnis der ukrainischen Identität zugewandt, das sich auf Staatsbürgerschaft und nicht auf Abstammung gründet… Zudem fiel Selenskis Erdrutschsieg 2019 in eine Zeit, in der die ukrainische Gesellschaft offen über ihre Vielfalt und Wiedergutmachung vergangenen Unrechts sprach. In den letzten Jahren haben sich neue ukrainische Kunst und Literatur mit Themen wie dem Holocaust und der mehrfachen Vertreibung der Tataren auseinandergesetzt; die Regierung hat Maßnahmen zum Schutz indigener Kulturen ergriffen und das Kabinett die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften diskutiert."
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Gesellschaft

Der Wokeismus ist zu Beginn von Putins Krieg schüchtern verstummt, Putin passt nicht in sein Koordinatensystem. Aber das dauerte nicht lange. Schon durfte die Musikerin Ronja Maltzahn bei "Fridays for Future" nicht bei Solidaritätskonzert für die Ukraine auftreten, weil sie Dreadlocks trägt und sich für "Fridays for Future" somit der kulturellen Aneignung schuldig gemacht hat. Zum Vergnügen des SZ-Autors Hilmar Klute fühlt sich auch Wladimir Putin vom Westen gecancelt und vergleicht sich mit J.K. Rowling. Der Vergleich zeige, "dass der im Gebäude seines selbstgezimmerten Wahns gefangene Präsident zumindest ein, wenn auch ziemlich verqueres Interesse für bestimmte auch schon heiter irre Spielarten der westlichen Moral unterhält. Mit totalitären Gesten kann ein totalitärer Herrscher halt grundsätzlich schon etwas anfangen."

Sylvia Wagner ist Pharmaziehistorikerin und Vorstandsmitglied beim "Verein ehemaliger Heimkinder". Sie engagiert sich für Missbrauchsopfer der Katholischen Kirche. Oranus Mahmoodi berichtet bei hpd.de, dass die Missbrauchsopfer sehr verärgert sind über die intransparente Weise, in der die Kirche Entschädigungszahlungen und Schmerzensgeld zahlt. "Der erste Hemmschuh: 'Es fängt schon bei der Antragstellung an, man muss zu den Bistümern gehen, in deren Strukturen die Taten verübt wurden', erläutert Wagner. Viele Betroffene könnten diese Hemmschwelle erst gar nicht überwinden. Es sei wahrscheinlich, dass sich mehr Opfer eher an eine unabhängige Stelle wenden würden, als sich bei der 'Täterorganisation' zu melden. Bisher gebe es bundesweit aber nur eine unabhängige Beratungsstelle in Köln. Das Angebot müsse dringend erweitert werden."
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Medien

Das neueste Mediengesicht des Trumpismus heißt Tucker Carlson, berichtet Hubert Wetzel in der SZ. Er hat bei Fox News die erfolgreichste Politik-Talkshows der USA, "Tucker Carlson Tonight" und bringt dem Sender Millionen an Werbegeldern. Er arbeitet gern mit rhetorischen Fragen und Halbwahrheiten und suggeriert, dass Putin im Ukrainekrieg der Angegriffene sei. Seine Agenda liest sich etwa so: "Die Demokraten haben eure Jobs ins Ausland geschickt. China hat das Virus auf euch losgelassen. Die Demokraten haben euch mit ihren Lockdowns arm gemacht und erzählen euren Kindern, dass sie Rassisten seien, weil sie weiß sind. Ah, und Mexiko schmuggelt tödliches Fentanyl über die Grenze im Süden, die Biden geöffnet hat. Und der fängt einen Krieg gegen Putin an, um davon abzulenken."

Und noch eine Nachricht an die SZ selbst:

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