9punkt - Die Debattenrundschau

Keine Zähne, keine Schuhe, aber Orden

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.03.2022. Deutscher Friedenskitsch verwischt die Unterschiede zwischen Angreifern und Opfern der Aggression, schreibt der ukrainische Philosoph Kyrylo Tkachenko in der FAZ. Faschismus wird möglich, wenn die Gesellschaft die Fehler der Vergangenheit nicht als solche anerkennt, schreibt die russische Autorin Irina Rastorgueva ebendort. Im Standard spricht Herta Müller über osteuropäische Identitäten. Maria Pevchikh erzählt bei Twitter, wer Roman Abramowitsch ist, und warum Putin ihn so gerne hat. Außerdem: In der SZ macht sich Peter Nadas wenig Hoffnungen auf einen Sieg der Opposition in Ungarn.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.03.2022 finden Sie hier

Europa

"Was jahrzehntelang so gut wie alle Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft, die sich mit Russland beschäftigten, für unmöglich gehalten hatten, gilt nun als eine Gefahr, die jederzeit über das Land hereinbrechen könnte", schreibt Berthold Kohler in der FAZ. Bundeswirtschaftminister Habeck hat die Vorwarnstufe für die Gasversorgung ausgerufen. Verbraucher sollen sparen, erläutert Malte Kreutzfeldt in der taz: "Wenn es tatsächlich zu einem Mangel käme, müsste vor allem die Industrie mit Einschränkungen rechnen; sie verbraucht ebenfalls rund ein Drittel des Erdgases. Teilweise würden die Unternehmen die Produktion von sich aus herunterfahren, weil sie bei den hohen Gaspreisen nicht mehr wirtschaftlich ist; in geringem Ausmaß ist das auch jetzt schon der Fall. Wenn das Gas trotzdem nicht langt, entscheidet die Bundesnetzagentur in Abstimmung mit dem Wirtschaftsministerium und den Netzbetreibern, wer auf Gas verzichten muss."

Deutscher Friedenskitsch verwischt die Unterschiede zwischen Angreifern und Opfern der Aggression, schreibt der ukrainische Philosoph Kyrylo Tkachenko in der FAZ. Aber zwei kleine Mädchen, die in die russische und die ukrainische Fahne gewickelt werden, das ist, als hätte man 1939 ein polnisches und ein deutsches Mädchen in ihre Fahnen gewickelt, so Tkachenko: Was sollte Deutschland statt dessen tun? "Es würde reichen, ein zuverlässiger Partner des westlichen Bündnisses zu sein und Initiativen zum 'Dialog', zum 'Brückenbauen', zur 'Gesichtswahrung' eines rückfälligen Kriegsverbrechers einzustellen. Nicht Mitleid, nicht Gebete, nicht Friedensglocken helfen uns in der Ukraine. Die drei Sachen, die wir seit Beginn des Krieges fordern, sind Waffen, Waffen und nochmals Waffen. Und natürlich die komplette Einstellung des Handels mit Russland." Aber für den Handel veranstalten wir doch den Kitsch!

Der Faschismus in Russland wurde möglich, "weil nach dem Fall des Sowjetregimes nur wenige von Entkommunisierung und Entstalinisierung sprachen", schreibt die russische Autorin Irina Rastorgueva ebenfalls in der FAZ: "Niemand wurde für die Millionen von Menschen, die vom Sowjetregime getötet und unterdrückt wurden, zur Rechenschaft gezogen. Wenn die Gesellschaft die Fehler der Vergangenheit nicht als solche anerkennt, beginnt sie, diese Fehler zu rechtfertigen, sie sogar als die schönsten Siege zu betrachten."

Es gab keinen Zweifel daran, dass aus Putins Ideologie, dieser "Mischung aus Antisemitismus, purem Faschismus, Gewaltverherrlichung und eurasischen Träumen" der Krieg in der Ukraine folgen würde, sagt Bernard-Henri Lévy im großen Zeit-Gespräch mit Iris Radisch, in dem er auch den "deutschen Neo-Pazifismus" geißelt: "Ich bewundere den augenblicklichen Paradigmenwechsel in Deutschland, der gut, brutal und radikal ist. Aber Sie haben da einen Namen ausgesprochen, der den Gipfel der Unanständigkeit markiert. Die neue deutsche Unanständigkeit heißt Gerhard Schröder. Ich habe ihn 1999 getroffen, als es um die Pläne zur Holocaustgedenkstätte in Berlin ging. Ich war schockiert von der Leichtfertigkeit und Frivolität, mit der Schröder über diese Pläne für das Mahnmal zum Gedenken an die Schoah sprach. Alles, was danach kam, die Art und Weise, wie er sich in den Dienst Putins stellte, wie aus ihm ein Angestellter Putins wurde, war für mich darin schon im Keim angelegt. Wer ein feines Ohr für den Antifaschismus und den Antinazismus hat, konnte bei Leuten wie ihm schon ein Vorspiel dessen erkennen, was heute explodiert."

Die Zeit inszeniert außerdem ein Streit-Gespräch zwischen Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maizière und dem russischen Oppositionellen Michail Chodorkowski, diskutiert wird über das Engagement des Westens im Ukraine-Krieg, Flugverbotszonen und die Frage, ob sich der Westen bereits im Krieg mit Putin befindet. De Maizière winkt ab, während Chodorkowsi meint, Putin und die Menschen um ihn herum seien davon überzeugt, "dass Russland in der Ukraine Krieg gegen die USA führt - und damit gegen die Nato. Aus Putins Sicht sind deshalb nicht erst Waffenlieferungen ein Casus Belli, sondern schon die Sanktionen. Das ist deswegen so wichtig zu verstehen, Herr de Maizière, weil Putin nicht an der Grenze zur Nato stoppen wird. Er wird Nato-Staaten angreifen, so oder so - nicht unbedingt mit Raketen, aber etwa mit Terrorangriffen. Sie müssen begreifen, dass Sie jetzt nicht ein paar Monate Bedenkzeit haben. Wenn Putin das Gefühl hat, dass er zuschlagen kann, wird er zuschlagen. Wenn er glaubt, es hilft ihm innenpolitisch, das Baltikum anzugreifen, wird er das tun. Wenn er glaubt, es könnte die Nato auseinanderreißen, wenn er Polen angreift, wird er angreifen."

Joe Biden hat sich nicht versprochen, als er sagte, dass Putin nicht an der Macht bleiben kann, er hatte schlicht recht, meint Jan Feddersen in der taz: "Karitatives in Deutschland ist wichtig, also die gute Versorgung von ukrainischen Flüchtlingen - auch wenn die Bemerkung von Berlins Bürgermeisterin Franziska Giffey schräg klang, das sei auch prima im Hinblick auf den Facharbeitermangel in Deutschland. Wichtiger muss sein, die Ukraine mit Waffen auszurüsten. Das Ziel ist am Ende nicht: Waffenstillstand, Kompromisse, sozialpädagogischer Staatenstuhlkreis. Das wäre nur ein Etappensieg. Letztlich kommt es darauf an: dass das Putin-Regime zerstört wird, mit dem Chef in Den Haag vor dem Obersten Gerichtshof, Nürnberg 2.0 quasi, höchstselbst für seine Verbrechen einstehend."

"Als Deutsche befinden wir uns in einer Phase sich stetig durch Nichthandeln vermehrender neuer historischer Schuld", urteilt Johannes Schneider auf ZeitOnline: "Mariupol ist auch eine bundesrepublikanische Katastrophe, obwohl Deutschland keine direkte Schuld treffen mag dafür, was russische Soldaten der Bevölkerung dort zur Stunde antun. Deutschland lernt gerade, dass es keinen Zugang zum Leid anderer Menschen gibt, außer über tätige Hilfe und echtes Mitleiden durch Verzicht und Opferbereitschaft. Warme Worte aus warmen Stuben sind als solche nichts. Das war schon in früheren Konflikten so, nun allerdings gibt es neben der viel beschworenen räumlichen Nähe auch diese historische Dimension: Ukraine, das sind die bloodlands. Das sind die historischen Mordorte, an denen von Deutschen oder zumindest in deutschem Namen unvorstellbare Gräuel verübt wurden - mit denen die (west-)deutsche Politik in den vergangenen Jahrzehnten bei jedwedem globalen Konflikt seine Zurückhaltung begründet hat. Das geht nun nicht mehr. Beziehungsweise: Das geht national schon. Es ist halt zynisch und obendrein noch international entwürdigend."

Die Europäische Union muss neben den USA und China selbst Hegemon werden, fordert der Zukunftsforscher Daniel Dettling in der Welt: "Eine umfassende Zukunftssicherheit verbindet militärische Selbstbehauptung mit sozialer Sicherheit und liberaler Freiheit. Für Europa geht es darum, Demokratie, Digitalisierung und Dekarbonisierung zu einer neuen Machtpolitik zu verbinden. Anfällig ist Europa vor allem bei der Kritischen Infrastruktur, angefangen von Krankenhäusern über staatliche Verwaltung bis hin zu Banken, Versicherung und Kommunikation. (…) Die digitale wie die ökologische Dimension einer neuen europäischen Souveränität braucht angesichts der demografischen Entwicklung eine erweiterte EU. Georgien und auch die Ukraine haben Anträge auf einen Beitritt gestellt, weitere werden folgen."

Die Russen hatten versprochen, aus der Region Kiew abzuziehen, doch die Stadt wurde munter weiter beschossen, berichtet Anastasia Magasowa in der taz: "Auch die Kiewer*innen sind misstrauisch gegenüber Russlands angeblichen Zusagen. Ohnehin hat hier niemand großes Vertrauen in die Verhandlungen gesetzt. Gleichzeitig betrachten viele in der Ukraine eine solche radikale Veränderung der russischen Rhetorik gegenüber Kiew jedoch als ein Eingeständnis der Niederlage."

Für die Zeit hat Cathrin Gilbert mit Olena Selenska, der Frau des ukrainischen Präsidenten, über den Alltag im Krieg, russische Mütter und ukrainische Frauen gesprochen: "Eine ukrainische Frau wartet mehr als 48 Stunden an der Grenze, um ihr Kind in Sicherheit zu bringen. Eine ukrainische Frau geht nach Westeuropa, um humanitäre Hilfe nach Mariupol und Charkiw zu bringen. Eine ukrainische Frau meldet sich bei den Streitkräften, nimmt sich ein Gewehr und kämpft. Sie ist aber auch diejenige, die Tarnnetze knüpft, Suppen für Soldaten kocht, in einem Laden arbeitet und weiterhin Geschäfte macht, um der ukrainischen Wirtschaft zu helfen."

Maria Pevchikh erzählt in einem Twitter-Thread, wer Roman Abramowitsch eigentlich ist, warum man misstrauisch werden sollte, wenn er an Friedensgesprächen teilnimmt, und warum Putin ihn so gern hat. Zum Beispiel hat einst den Konzern Sibneft vom russischen Staat verkauft und ihn dann wieder an den Staat verkauft... Aus den Erlösen hat er übrigens Putins Palast am SChwarzen Meer mit finanziert, so Pevchikh.


Außerdem: SZ-Autor Peter Richter stört sich in einem unscharfen, aber eindeutig beleidigt klingenden Text an der Empörung nicht benannter Diskursgegner, die ein scharfes Einschreiten gegen Putins Angriffskrieg fordern: "Je Zivildienst, desto rein in den Krieg." Andrian Kreye fragt ebendort nach der Wahrscheinlichkeit von Atomschlägen.

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Auch in Ungarn wird im April gewählt. In der SZ macht sich der Schriftsteller Peter Nadas wenig Hoffnung auf einen Sieg der Opposition. Woher kommt der ungarische Nationalismus, will der schwedische Übersetzer Svante Weyler, der Nadas besucht hat, wissen. Nadas macht auch die EU mitverantwortlich: "'Ihr habt uns durch farbige Brillen betrachtet. Die Linken sahen alle sozialen Fortschritte und freuten sich. Die Rechten sahen nur Negatives. Und alle wussten am Ende nur das, was sie wissen wollten. Ihr habt euch betrügen lassen. Und dann diese unglückliche Siegesgewissheit. ... Ungarn hatte nichts, womit man sich den Eroberungen des Kapitalismus hätte entgegenstellen können. Die Europäische Union schickte dritt- oder viertklassiges Personal.' Er habe früh geahnt, dass so viel Arroganz eine Radikalisierung nach rechts zur Folge haben werde. Während er so redet, klingt er wie ein Linker, der er wahrscheinlich nie war. Er formuliert eine Erfahrung, die viele Ungarn zu teilen scheinen: Ungarn wurde ein Territorium, das sich erobern ließ, vor allem durch deutsches und französisches Kapital. Seine Agenten traten wie Kolonialherren auf, die nicht verstanden hatten, dass es keine Kolonien mehr gab."

Macron wird die Wiederwahl vermutlich erreichen, wenn auch nicht mit viel Vorsprung vor Marine Le Pen, glaubt Gero von Randow in einem ZeitOnline-Essay, in dem er Frankreichs Rechte zu analysieren versucht. Aber was wir nach der Wahl aus den Rechten? "Zunächst die gemäßigte Rechte innerhalb des Macron-Lagers: Edouard Philippe, erfolgreicher Ex-Premier, bewährter Bürgermeister einer Großstadt, standhaft bei Gegenwind und ein ernstzunehmender Romanautor mit sarkastischem Humor, bereitet sich vor, Macron zu beerben. Gehen seine Pläne auf, dann droht den Republikanern die Marginalisierung. Erst recht, wenn die Extremisten doch noch zusammenfinden sollten. Kaum jemand glaubt an eine große Zukunft für Marine Le Pen. Die kommende Persönlichkeit ist Zemmours Verbündete, Marines Nichte Marion, die intelligent genug wäre, eine Brücke zur proletarischen Rechten zu schlagen. Um was zu tun? Um die Revanche vorzubereiten. Rache für die gestohlene Wahl; die Melodie ist bekannt."
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Gesellschaft

Anetta Kahane tritt nach 24 Jahren als Leiterin der Amadeu Antonio Stiftung ab. Im Gespräch mit Konrad Litschko und Daniel Schulz in der taz (in dem sie auch kurz auf ihre Zeit als Stasi-IM eingeht) erinnert sie sich an die Anfänge: "Schlimmer als die Nazis war die Schwäche der Politik und die Schwäche der Leute, die nichts gegen diesen Hass gemacht haben und die zugelassen haben, dass Menschen schlecht behandelt, gejagt oder getötet wurde."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Kahane, Anetta

Politik

Letztlich hat der Feminismus die Präsidentschaftswahlen in Südkorea entschieden - und zwar zu Ungunsten der Frauen, schreibt Hoo Nam Seelmann in der NZZ. Die Frauen rebellierten, die Männer fühlten sich bedroht und wählten den konservativen Yoon Suk Yeol, der ankündigte, die Frauenquote sowie das Ministerium für Frauen und Familie abzuschaffen. Dabei ist die Kluft zwischen Frauen und Männer so groß wie nie zuvor: "Seit Jahren geht die Zahl der Eheschließungen zurück, die der Single-Haushalte nimmt zu, das Heiratsalter steigt, und die Geburtenrate sinkt. …Schulen mussten schließen, ebenso Universitäten. Die weit fortgeschrittene Überalterung der Gesellschaft beschleunigt sich. Angefangen mit dem Rentensystem, geraten sämtliche sozialen Sicherungssysteme in Schieflage. Ein Mangel an Arbeitskräften gesellt sich dazu. Die beispiellos tiefe Geburtenrate illustriert wie nichts anderes den Wandel der südkoreanischen Gesellschaft. Noch in den 1970er Jahren verteilte die Regierung kostenlos die Pille an die Frauen, damit sie weniger Kinder bekamen. Damals dachten die Menschen, dass Heiraten und Kinderkriegen zum Menschsein einfach dazugehörten. Dieses Selbstverständnis ist längst verschwunden. Die Politik hat zwar den Ernst der Lage erkannt, aber alle bisherigen Versuche, Frauen das Kinderkriegen mit viel Geld schmackhaft zu machen, sind gescheitert."
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Stichwörter: Südkorea, Feminismus, 1970er

Geschichte

Wie es mit den Identitäten in osteuropäischen Ländern ist, lernt man ein bisschen in einem Interview, das Bert Rebhandl für den Standard mit Herta Müller führte. Sie erzählt, wie es war, für die "Atemschaukel" in der Ukraine zu recherchieren: "Da war die Ukraine kurz davor unabhängig geworden. Man hat es fast noch nicht gemerkt. Es war alles noch sowjetisch. Alle osteuropäischen Länder hatten keine eigene Identität, weil die Sowjetunion es nicht zugelassen hat. In der Ukraine sah man damals als öffentliche Denkmäler überall diese Kriegspanzer, auf Hochglanz gepflegt. Und alte Menschen, die hatten Kriegsorden an den Jacken, keine Zähne, keine Schuhe, aber Orden. Das war ihre einzige Würde. Über all die Jahre hat man ihnen nicht mehr gegeben."
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Stichwörter: Müller, Herta

Religion

Ärger bei den Orthodoxen, erläutert Friedrich Schmidt in der FAZ. Längst sucht das Kiewer Patriarchat (KP) die "Autokephalie " gegenüber dem Moskauer Patriarchat (MP), dessen Patriarch Kirill Putins Diskursen eng verbunden ist: "Jetzt, im Krieg, haben viele Diözesen der MP-Kirche aufgehört, ihr Oberhaupt, Kirill, in den Gottesdiensten zu erwähnen. Die KP-Kirche berichtet vom Übertritt Dutzender Gemeinden und Klöster. Kirills Kirche kritisiert ein ukrainisches Gesetzesprojekt, welches das Eigentum der MP-Kirche verstaatlichen und ihr Verbot in der Ukraine bedeuten würde."
Archiv: Religion
Stichwörter: Orthodoxe Kirche, Patriarchat, Kp