9punkt - Die Debattenrundschau

T-Shirts, Trikots, Vitamine

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.04.2022. Der Westen hatte die Devise "Nie wieder" stets auf den Lippen, während er in die Wiederholung rannte, schreibt Anne Applebaum in Atlantic. In der SZ erklärt die Russland-Expertin Heather Conley, warum die Idee "Handel durch Wandel" ein Irrtum war. Der MI6-Russland-Chef Christopher Steele setzt ebenfalls in der SZ auf eine Palastrevolution. Und sonst: Jacques Attali macht sich in seinem Blog Sorgen, dass Marine Le Pen die französischen Präsidentschaftswahlen gewinnen könnte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.04.2022 finden Sie hier

Europa

Düster, grotesk und empörend liest sich, was Vira Kuryko für die taz aus der besonder scharf angegriffenen Stadt Tschernihiw berichtet. Es ist ein Tagebuch, ein Tag im März: "Die Stadt benötigt Verbandszeug, Treibstoff, Generatoren, OP-Stirnleuchten, Chlor und Zimmerleute, um den städtischen Arbeitern bei der Anfertigung von Särgen zu helfen. Der Stadtfriedhof von Tschernihiw liegt am Stadtrand und steht unter Dauerbeschuss, so kann eine Beerdigung viele weitere nach sich ziehen."

Die "Befreiung auf Russisch" setzt sich fort, schreibt der ukrainische Schriftsteller Juri Durkot in seinem von der Welt aktualisierten Tagebuch, in dem er auch von den Vergewaltigungen ukrainischer Frauen durch russische Soldaten erzählt. "Dagegen erscheinen die Marodeure fast wie jämmerliche, kleine Diebe. Ein abgefangenes Telefonat zeigt aber auch hier die Abgründe der menschlichen Seele. Ein russischer Soldat, vielleicht sogar ein Offizier, berichtet ungeniert im Gespräch mit seiner Frau, wie er und seine Kameraden sich in einem verlassenen Haus schamlos bedienen. 'Ich habe ein bisschen Kosmetik mitgenommen. Allerdings waren nur Probedöschen da … Dann Damensportschuhe, ein Paar NB, alles Markenartikel, weißt du … Größe 38.'  Alle Jungs würden sich die Tragetaschen vollstopfen, kein Problem. T-Shirts, Trikots, Vitamine. Eine sportliche Familie. Ein Haus mit Sauna. Die Soldaten würden sich schon seit zwei Tagen dort entspannen. Nur das Notebook will der Mann nicht mitgehen lassen, die Sache sei ihm doch zu heikel, man könne damit auffliegen. Das ruft bei seiner Frau nur Bedauern hervor, schließlich hätte ihre kleine Tochter, die bald zur Schule geht, doch einen Computer gebraucht."

Thomas Kirchner unterhält sich in der SZ mit der Russland-Expertin Heather Conley, die 2016 die Analyse "The Kremlin Playbook" vorlegte. Darin beschrieb sie die wirtschaftliche und politische Einflussnahme Russlands in vielen europäischen Ländern: "Wenn lokale und nationale politische Persönlichkeiten viel investiert haben in die Verwirklichung eines Projekts, ist es nur schwer aufzuhalten. Siehe Nord Stream." Die Idee "Wandel durch Handel" war es, die Deutschland auf die abschüssige Bahn führte: "Ich verstehe das Prinzip, aber die Politik muss der Realität entsprechen. Und wenn man sieht, dass die Veränderung durch den Handel in Wahrheit eine negative Veränderung ist - was wir seit 2000 beobachten -, dann muss man die Handelsmuster neu bewerten. Stattdessen war es so: Je mehr es schiefging mit Wandel durch Handel, desto intensiver hat man es versucht. Und das wurde nie hinterfragt, von mehreren deutschen Regierungen."

Westeuropäische Politiker haben sich eigentlich noch nicht in Kiew blicken lassen. Aus Deutschland kam nur das Ehepaar Marieluise Beck und Ralf Fücks, zwei graue Emineznen der Grünen. Beck sagt im Gespräch mit Marc Röhlig vom Spiegel: "Ich wünsche mir ein gemeinsames Foto von Boris Johnson, Olaf Scholz und Emmanuel Macron mitten in Kiew. Das wäre ein starkes Zeichen und eine starke moralische Unterstützung hier in der Ukraine."

"Eigentlich war von Beginn an klar, dass 150 000 Soldaten nicht auf Dauer ein Land mit 43 Millionen Menschen besetzen und unterdrücken können", sagt der frühere MI6-Russland-Chef Christopher Steele im großen SZ-Gespräch, in dem er auch von Uneinigkeiten im Kreml und Putins eigener Bubble berichtet - und zwar Hoffnung auf ein Ende des Krieges, aber nicht auf einen demokratischen Wechsel in Russland macht: "Vermutlich wird es jemand aus seiner nächsten Umgebung sein - jemand mit einem leicht anderen Profil, der einen Deal mit dem Westen machen kann. Es wird von innen kommen müssen. Da gäbe es schon Leute, vielleicht auch mit eigenen wirtschaftlichen Interessen. Russland kann diese harten Sanktionen nicht lange überstehen, dafür ist die Wirtschaft viel zu schwach. Und dieser Krieg ist sehr, sehr teuer." Putin werde mit seinem Nachfolger vermutlich eine Art Immunität aushandeln.

Anne Applebaum spricht es in Atlantic offen aus: Unter dem Schirm des "Nie wieder", stolz auf unsere antifaschistische Gesinnung, gestatteten wir, dass ein neues autokratisches Regime sich immer mehr zu einer Diktatur verfinsterte, aber es war uns egal, zu profitabel waren die Beziehungen. Und keiner in der westeuropäischen Politik - ob links, rechts oder Mitte - warnte vor dem großen Sponsor des Rechtsextremismus: "Während wir glücklich in der Illusion lebten, dass 'Nie wieder' etwas bedeutete, bauten die Führer Russlands, die über das größte Atomwaffenarsenal der Welt verfügen, eine Armee und eine Propagandamaschine auf, die den Massenmord erleichtern sollten, sowie einen mafiösen Staat, der von einer winzigen Zahl von Männern kontrolliert wird und keinerlei Ähnlichkeit mit dem westlichen Kapitalismus hat. Lange Zeit - zu lange - weigerten sich die Hüter der liberalen Weltordnung, diese Veränderungen zu verstehen. Sie schauten weg, als Russland Tschetschenien durch die Ermordung von Zehntausenden von Menschen 'befriedete'. Als Russland Schulen und Krankenhäuser in Syrien bombardierte, entschieden die westlichen Führer, dass dies nicht ihr Problem sei."

Nicht nur die russischen Militärstrategegen haben sich mit ihrem stockenden und verlustreichen Feldzug bis auf die Knochen blamiert, sondern auch westliche Experten, die so große Stücke auf ihre Fähigkeiten und die Modernisierung der russischen Armee setzten, schreibt der britische Militärhistoriker Phillips Payson O'Brien ebenfalls in Atlantic: "Obwohl Analysten und Historiker jahrelang darüber streiten werden, warum sich die Einschätzungen des russischen Militärs vor dem Krieg als so fehlerhaft erwiesen haben, sind zwei Gründe sofort ersichtlich. Erstens haben westliche Analysten die Fähigkeit des russischen Militärs, die komplexesten Operationen durchzuführen, und die Robustheit seiner logistischen Fähigkeiten falsch eingeschätzt. Und zweitens schenkten die Prognostiker den grundlegenden Motivationen und der Moral der Soldaten, die die angeblich hervorragende Doktrin und Ausrüstung des russischen Militärs nutzen sollten, zu wenig Beachtung."

Indien hat gerade den russischen Außenminister Sergej Lawrow empfangen und laviert in seiner Politik gegenüber Russland und dem Westen, den Erzfeind China immer im Blick. Das Land hat sich in eine diplomatische Sackgasse manövriert, schreibt Shashi Tharoor, ehemaliger indischer Außenminister, im Tagesspiegel: "Seine abwartende Haltung verärgert den Westen, hält Russland aber vermutlich trotzdem nicht davon ab, zu China überzulaufen, während Pakistan dank der neu aufkeimenden Freundschaft zu seinen afghanischen und iranischen Nachbarn im Kaschmir-Konflikt immer kühner wird."

------------------------------

Die Hoffnung auf einen Regierungswechsel in Ungarn will Cathrin Kahlweit in der SZ nicht ganz aufgeben: "Schon jetzt steht die Regierung unter Druck, innen- und vor allem außenpolitisch. Wenige Tage vor der Wahl hat ein Investigativmedium enthüllt, dass das Außenministerium seit Jahren vom russischen Geheimdienst gehackt wird, dass Moskau also die Kommunikation des EU- und Nato-Mitglieds Ungarn mitlesen konnte und vielleicht sogar noch kann - mitten im Ukraine-Krieg. In Ungarn wird nun gemutmaßt, dass der erklärte Putin-Freund Viktor Orbán politisch erpressbar sein könnte. Die Nähe zu Russland hat auch andere negative Folgen: Die Visegrád-Gruppe aus Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei zerfällt, weil den Partnern der Moskau-Kurs von Orbán nicht gefällt. Eine neue Rechtsallianz, die dieser nach dem Abschied aus der Europäischen Volkspartei zimmern wollte, ist in weiter Ferne."

Jacques Attali, ehemaliger François Mitterrands, macht sich auf seinem Blog Sorgen um den Ausgang der französischen Präsidentschaftswahlen, deren erste Runde in einer Woche bevorsteht. Marine Le Pen, meint er, hätte durchaus Chancen, Macron zu besiegen. Einer der Faktoren, die für ihn dazu führen könnten: "Der Diskurs der extremen Rechten wird nicht mehr dämonisiert. Galt Marine Le Pen vor fünf Jahren noch als inkompetente Extremistin, gibt sie sich heute als eine gemäßigte Expertin und als akzeptabler, legitimer und vernünftiger als ein Eric Zemmour, der ihr als Repoussoir dient und gemäßigtere Stimmen zu ihr hinzieht." Die Folgen malt sich Attali auch gleich aus: "Die Umsetzung ihres Programms würde das Land in eine beispiellose und weitgehend unumkehrbare Krise stürzen, deren erste Opfer ihre eigenen Wähler wären."
Archiv: Europa

Ideen

In der Welt versucht Marie-Luise Goldmann die Frage, weshalb wir ukrainische Flüchtlinge willkommener heißen als syrische mit Hilfe der Philosophie zu beantworten, etwa mit dem Werk der Philosophin Barbara Bleisch, die in "Pflichten auf Distanz: Weltarmut und individuelle Verantwortung" drei mögliche Einwände gegen eine Ausweitung der Moral formuliert: "Den moralistischen (man wird zum lebensunfähigen Dauerhelfer), den kommunitaristischen (Unparteilichkeit gefährdet die Gemeinschaft) und den libertären (individuelle Freiheit wird eingeschränkt). Vor allem den kommunitaristischen Einwand hört man derzeit öfter. Kommunitaristen gehen davon aus, dass sich Pflichten auf einen bestimmten soziale Kontext beschränken sollten, da sie das Prinzip der Parteilichkeit als unverzichtbar für funktionierende Gemeinschaften erachten. Anders gesagt: Es ist nicht nur natürlich, es ist auch gerechtfertigt, sich mehr um nahestehende Personen zu kümmern als um Unbekannte. Mit dem kommunitaristischen Einwand ließe sich somit eine besondere Hilfspflicht gegenüber Flüchtlingen begründen, die aus nahen Ländern kommen, uns sozial ähnlich sind und somit leichter in unsere Kultur zu integrieren sind."

Postkolonialisten und -strukturalisten sehen den "Westen" als Quelle alles Bösen. Darin untersscheiden sie sich kaum von Alexander Dugin, meint der Historiker Konstantin Sakkas bei Dlf Kultur - und verkennen einen zentralen Punkt: "Anders als Russland hat sich der Westen; haben England, Frankreich, Deutschland und auch die USA sich mit ihren kolonialen und ausbeuterischen Vergangenheiten auseinandergesetzt, auch wenn, gerade in den USA, Ungleichberechtigung von Minderheiten, insbesondere von Schwarzen, noch lange nicht verschwunden ist."

"Feministische Außenpolitik" ist nicht nur ein Schlagwort, versichert Simone Schmollack in der taz. Sie ist aber auch ncht dagegen, dass in bestimmten Männer ihre Rolle spielen: "Den ukrainischen Truppen ist es zu verdanken, dass sich Russland die Ukraine bislang nicht einverleiben konnte. Das gelingt auch, weil Präsident Selenski allen ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 Jahren verboten hat, das Land zu verlassen. Von feministischer Sicherheitspolitik ist das weit entfernt; die andauernden Kämpfe kosten viele Menschenleben."
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

Im Gegensatz zu den Nazis, die den Kanon von unerwünschten Künstlern "säuberten", ordnen Putins Ideologen einen jeden ihrem historischen Relativismus unter, schreibt der ukrainisch-amerikanische Kunsthistoriker Konstantin Akinsha in der NZZ. Plötzlich sitze der faschistische Philosoph Ivan Iljin neben Nikolai Berdjajew, dem Theologen, der an die existenzielle Rolle der Freiheit glaubte, Malewitsch oder Schostakowitsch werden ihrer "Bedeutung entkleidet" - und sogar Memorial-Gründer Andrei Sacharow bekommt ein Denkmal gesetzt, erzählt Akinsha: "Eines schönen Tages, nachdem Wladimir Putin sich von Moskau auf den Weg nach Den Haag aufgemacht haben wird, werden die Russen vor der gewaltigen Aufgabe stehen, ihre kulturellen Schafe von den kulturellen Böcken zu trennen. Man kann nur hoffen, dass sie das Zeug haben, ihre imaginäre 'Zivilisation' wieder auseinanderzunehmen, um ihre nationale Kultur zu restituieren, mit all ihren menschlichen Schwächen. Das wird eine neue Erfahrung sein, denn die Russen haben nie aus postkolonialer Perspektive auf ihre Klassiker geblickt, sie haben nie ein Ohr gehabt für die imperialistischen Untertöne ihrer großen Romane und Gedichte. Beginnend mit den späten 1920er Jahren, war die Fetischisierung der klassischen Literatur ein wesentliches Element des stalinistischen Kulturmodells."
Archiv: Kulturpolitik