9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Win-win-win-win-Situation

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.04.2022. "Der Russofaschismus hat sein böses Haupt erhoben. Putin ist in die Rolle Hitlers geschlüpft", schreibt Durs Grünbein in der SZ - und er sieht Putin zugleich in der Kontinuität mit den bolschewistischen Kreml-Herrschern. In der taz prangert Daniel Cohn-Bendit die deutsche Blindheit gegenüber Wladimir Putin an: "Billige Energie war den Deutschen mehrheitlich wichtiger als jegliche andere Überlegung." In Russland bekommt man inzwischen 50.000 Rubel Strafe aufgebrummt, wenn man  einmal drei und einmal fünf Sternchen auf ein Schild malt, erzählt Zeit online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.04.2022 finden Sie hier

Europa

Und so fing alles an: Manfred Kriener erzählt in der taz die Geschichte von "Wandel durch Handel" und zeigt, dass es für Deutschland in den Gasgeschäften nie einen Bruch gab. Den Startschuss feuerte Willy Brandt ab: "Am 1. Februar 1970 unterschreiben in der Essener Nobeladresse Kaiserhof die Manager von Mannesmann, Ruhrgas AG und Deutscher Bank mit ihren sowjetischen Verhandlungspartnern den Vertrag zu einem einträglichen Milliardengeschäft. Mannesmann liefert den Sowjets Großröhren, die für eine 2.000 Kilometer lange Pipeline reichen. Die Deutsche Bank schießt einen günstig taxierten Kredit von 1,2 Milliarden Mark vor, damit die Käufer die Ware bezahlen können. Im Gegenzug liefert die Sowjetunion zwanzig Jahre lang bis zu 3 Milliarden Kubikmeter Erdgas im Jahr. Die Ruhrgas AG verteilt und verkauft alles. Für die Beteiligten ist es eine Win-win-win-win-Situation."

In dieser Logik bedeutete der Mauerfall eben keinen Bruch, sondern eine Intensivierung bereits vorher bestehender herzlicher Beziehungen. Durs Grünbein verweist in einem SZ-Essay ebenfalls auf Kontinuität: "Wie jeder Sowjetdiktator in ähnlicher Lage vor ihm (Chruschtschow beim Ungarn-Aufstand, Breschnew beim Prager Frühling) konnte Putin sich den Kiewer Maidan-Aufstand nicht anders als vom Westen befeuerte, vom CIA gesteuerte Aktion vorstellen, jedenfalls nicht als spontanen Protest einer gebrannten Bevölkerung gegen jede Form der Fremdbestimmung. Im Weltbild des KGB-Obristen hatte der Wille zur Freiheit keinen Platz. In diesem Weltbild dreht alles sich nur um Verrat und Verschwörung." Für Grünbein kann nur antitotalitäres Denken erfassen, was heute geschieht: "Der Hitler-Stalin-Pakt war die Ursünde des zwanzigsten Jahrhunderts." Grünbeins Essay kulminiert in den Sätzen: "Der Russofaschismus hat sein böses Haupt erhoben. Putin ist in die Rolle Hitlers geschlüpft."

Auch Daniel Cohn-Bendit staunt im Gespräch mit Andreas Fanizadeh in der taz über die Deutschen und ihre Liebe zum russischen Gas. Von Frankreich aus gesehen, sei das nie zu verstehen gewesen. War es der immer fettere Geldbeutel, der die Sicht auf Putins Verbrechen versperrte? "Diese Blindheit. Das hatten ja weder die deutsche Politik, Gerhard Schröder oder Angela Merkel, noch Wirtschaft, Mehrheitsgesellschaft und Medien wirklich in Frage gestellt. Es wäre von daher falsch, die Fehler allein der deutschen Politik in die Schuhe zu schieben. Billige Energie war den Deutschen mehrheitlich wichtiger als jegliche andere Überlegung." Ebenfalls in der taz sieht Claus Leggewie einen Regimewwechsel in Moskau als einzigen Weg zum Frieden: " Dieser muss zugleich den Übergang in eine postfossile Weltwirtschaft einleiten."

"Ein gutes Kriegsende ist nicht zwingend ein schnelles Ende", schreibt die Konfliktforscherin Florence Gaub in der SZ, "sondern eines, das eine klare Entscheidung herbeiführt. Wo Konflikte hastig beendet werden, werden sie nicht aufgelöst, sondern eingefroren - und kommen immer wieder. Der heutige Krieg etwa ist ein Nachfahre des eingefrorenen Konflikts von 2014, als Russland nach der Krim und dem Donbass griff."

In welche surrealistischen Szenen die Zensur in Russland getrieben wird, erzählt Nils Markwardt bei Zeit online. Es reicht ein leeres Blatt hochzuhalten. Viele solche Szenen wurden festgehalten: "Im 250 Kilometer von Moskau gelegenen Iwanowo wurde schließlich ein Mann festgenommen, der ein Papier hochhielt, auf dem untereinander einmal drei und einmal fünf Sternchen zu sehen waren, ebenfalls ein mutmaßlicher Platzhalter für die russische Formel 'Nein zum Krieg'. Laut Informationen des Deutschlandfunks wurde der Mann später zu einer Strafe von 50.000 Rubel - aktuell etwa 550 Euro - verurteilt."

Peter Burghardt fordert in der SZ die Aufarbeitung der engen Putin-Connections um den ehemaligen Stasi-Agenten Matthias Warnig in Mecklenburg-Vorpommern. Ministerpäsidentin Manuela Schwesig entblödet sich inzwischen nicht zu sagen, "die Unterstützung für Nord Stream 2 und die Einrichtung der Klimastiftung sei 'mit dem Wissen von heute' falsch gewesen." Bis ins Jahr 22 wurde Nord Stream 2 in ihrer Regierung eifrigst vorangetrieben.

Oligarch Roman Abramowitsch hätte den Krieg gern beendet, der ihm wirtschaftlich ein kleines bisschen schadet und ist tatsächlich zu Putin gejettet, der ihn als Vermittler akzeptierte, erzählt Max Seddon in der stets wohl informierten Financial Times. "In den letzten Monaten ist er zwischen Moskau, Israel und der Türkei hin und her geflogen, um bei den Gesprächen zu vermitteln, und ist sogar mindestens zweimal nach Kiew gereist, um den ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelensky zu treffen, wie mit der Angelegenheit vertraute Personen berichten. Er überlebte auch eine mutmaßliche Giftattacke während der Verhandlungen, die dazu führte, dass er mehrere Stunden lang sein Augenlicht vollständig verlor." Seddons Artikel endet pessimistisch, Putin zeige keine Anzeichen, den Krieg beenden zu wollen, hätten Abramowitsch nahe stehende Quellen gesagt.

Außerdem: Ein BBC-Team berichtet über mutmaßliche russische Kriegsverbrechen in der Nähe von Kiew - 13 Tote, offenbar fast alles Zivilisten. Der Guardian zitiert einen Unesco-Bericht, wonach 53 ukrainische Kulturstätten im Krieg beschädigt oder zerstört wurden.

==============

Gibt es noch eine Hoffnung für die französische Linke? In Marseille zeigt der "Printemps marseillais" auf Kommunalebene, dass eine Zusammenarbeit zwischen linken Parteien, die sich sonst hassen, möglich ist. Aber die Lage ist kompliziert, schreibt Sabine Seifert in der taz: "Marseille ist eine arme Stadt in einer reichen Region. Etwa 25 Prozent seiner Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 11 Prozent höher als im Landesdurchschnitt, in den armen Stadtteilen im Norden der Stadt geht sie teilweise rauf bis zu 40 Prozent. Hier sitzen die Jugendlichen als Späher an den Zugängen der Cités und regeln den Drogenverkehr. Sie geraten manchmal zwischen die Fronten der rivalisierenden Banden, allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres hat es acht Tote gegeben."

Außerdem: In der taz erzählt Erich Rathfelder die Geschichte der Kriege im ehemaligen Jugoslawien, die vor dreißig Jahren anfingen - die Ukraine weckt bei Bürgern Sarajewos heute Erinnerungen. In der FAZ macht sich Wolfgang Thierse Gedanken um die Überreste der Friedensbewegung.
Archiv: Europa

Gesellschaft

Die Trans-Debatte ist ... aktuell der "Kern der Identitätspolitik", sagt Alice Schwarzer, die gerade einen Band mit Beiträgen zur Transsexualität herausgegeben hat, im großen Welt-Gespräch mit Mara Delius und Marie-Luise Goldmann, in dem sie nochmal deutlich betont, dass das biologische Geschlecht "keine Definitionssache" sei und vor der Reform des Transsexuellen-Gesetzes in Deutschland warnt: "In der ganzen westlichen Welt hat sich die Anzahl vor allem junger Mädchen, die sich trans fühlen, in den letzten Jahren um mehr als 4000 Prozent erhöht. Ich bin beileibe nicht die Einzige, die über diese Entwicklung hoch alarmiert ist - und darin auch die sehr verständliche Verweigerung der Frauenrolle dieser jungen Mädchen sieht. Die wollen einfach die Freiheiten von Jungen haben und keine doofen rosa Prinzessinnen sein! Ich bin die Erste, die das versteht. Aber dazu muss frau nicht zwangsläufig unters Messer und nicht lebenslang Hormone nehmen. So ein Mädchen kann sich auch einfach 'männliche' Freiheiten erlauben. Darum ist das deutsche Gesetzesvorhaben so problematisch. Andere Länder - wie Schweden oder Großbritannien - haben das erkannt und ihre Pläne zurückgezogen. Ich bin überzeugt: In Deutschland wird das Gleiche passieren, wenn die bisher nichts ahnenden PolitikerInnen sich erst mal informiert haben."

Die französische Journalistin Noémie Halioua hat ein Buch über Sarcelles geschrieben ("Les uns contre les autres"), eine Vorstadt von Paris im Val d'Oise. Im Gespräch mit Ronan Planchon vom Figaro schildert er die Vorstadt nicht so sehr als Hochburg des Islamismus, sondern des Kommunitarismus: "In Sarcelles ist alles perfekt so strukturiert, dass die Forderungen jeder Gemeinschaft eine Stimme haben: Politiker und religiöse Gruppen arbeiten Hand in Hand in einer Summe gemeinsamer Interessen. Je nach Wahlgewicht fordert jeder sein Stück vom Kuchen und die Politiker bringen es ihm auf einem Silbertablett, im Austausch für einen Stimmenvorrat."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Helmut Lethens große Mentalitätsstudie der 1920er Jahre "Verhaltenslehre der Kälte" wird dieses Jahr neu aufgelegt. Für die Literarische Welt hat Jan Küveler mit Lethen über die Kraft der Literatur, die Aktualität der Studie und den Krieg in der Ukraine gesprochen: "Zum Krieg in der Ukraine habe ich einen einzigen direkten Draht - das Erlebnis des Kindes, das ich einst war, das 1944 im Luftschutzkeller Bombenangriffe überlebte. Das ist mein Identitätspunkt. Insofern habe ich keine Mühe, den Horror des Angriffskriegs zu verurteilen. Andererseits weiß ich, dass man aus Empathie keine Politik machen kann, dass es immer kühler Interventionen strategischer Überlegungen bedarf. Eine merkwürdige Sache: Wenn in Talkshows jetzt Generäle auftreten, finde ich die in vielen Fällen analytisch entschieden präziser als andere Teilnehmer, woher kommt das? Der Potsdamer Militärhistoriker Sönke Neitzel hat davon gesprochen, dass die BRD durch einen strukturellen Pazifismus gekennzeichnet sei. Wenn das wahr ist, muss sich dieser strukturelle Pazifismus jahrzehntelang in die Körper von zwei Generationen eingegraben haben."

In Kriegszeiten rät der Philosoph Otfried Höffe in der NZZ zur Kant-Lektüre, um zu verstehen, was Frieden eigentlich bedeutet. Voraussetzung ist für Kant das "Ende aller Hostilitäten": "Der Staat ist für Kant eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders als er selbst zu gebieten und disponieren hat'. Deshalb darf ein russischer Staatspräsident den Präsidenten der Ukraine nicht zur Übergabe des Landes oder eines Teils davon auffordern. Und der ukrainische Präsident darf einer solchen Aufforderung nicht nachkommen."
Archiv: Ideen