9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Grenzüberschreitung nach der anderen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.04.2022. Die Leichen von Butscha schockieren die Weltöffentlichkeit. Der Vorwurf des Völkermords steht im Raum, kommentiert die taz. Ein Sieg Putins in der Ukraine wäre eine Niederlage Europas, schreibt Ralf Fücks in der FAZ. Im New Statesman versichert der Putin-Berater Sergei Karaganow dagegen, dass es nichts anderes als einen Sieg Putins geben kann. Yascha Mounk fragt in einem Twitter-Thread: Könnte Emmanuel Macron die Wahlen verlieren?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.04.2022 finden Sie hier

Europa

Die Bilder aus Butscha - Leichen am Wegesrand, offenbar von den abziehenden Russen ermordet - haben selbst in diesem Krieg eine neue Qualität, schreibt Dominic Johnson in der taz: "Nicht jeder Massenmord ist ein Völkermord, und man wird darüber diskutieren können und müssen, ob das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine wirklich dieser Charakterisierung entspricht oder doch 'nur' ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt. Aber der Vorwurf steht im Raum. Die Ukraine sieht sich jetzt bestätigt in ihrer Wahrnehmung, dass sie gegen Russland um ihr Überleben kämpft. "

Konrad Schuller, der in Kiew ist, und Reinhard Veser tragen für die FAZ die Informationen über die Morde in Butscha zusammen: "Bewohner von Butscha bekräftigten gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, dass die Toten auf den Straßen von russischen Soldaten erschossen worden seien. Diese Angaben decken sich auch mit den Berichten, die ukrainische und internationale Menschenrechtsorganisationen schon sammeln, seit die russischen Truppen die Vororte Kiews Anfang März eingenommen haben."

Sehr gut zusammengefasst sind die Ereignisse in dieser Reportage des französischen Fernsehens:


Ein Sieg Putins in der Ukraine wäre einer Niederlage Europas, warnt Ralf Fücks, Elder Statesman der Grünen, der mit seiner Frau Marieluise Beck in Kiew war, in der FAZ: "Keine europäische Regierung sollte die Ukraine zu einer faktischen Kapitulation nötigen. Das wäre das Ende der europäischen Sicherheit und ein Sprengsatz für die europäische Einheit. Putin hat seit dem Krieg gegen Georgien 2008 eine Grenzüberschreitung nach der anderen begangen. Diesmal muss er an der Ukraine und am Widerstand des Westens scheitern."

Wie sich die Lage aus Putins Sicht anfühlt, erklärt ganz unverhohlen Sergei Karaganow, ein Berater Putins und Erfinder der Putin-Doktrin von der "konstruktiven Zerstörung"  im Gespräch mit Bruno Maçães vom New Stateman: "Ich weiß nicht, wie dieser Krieg ausgehen wird, aber ich denke, er wird so oder eine Teilung der Ukraine zur Folge haben. Hoffentlich wird am Ende noch etwas übrig bleiben, das Ukraine heißt. Aber Russland kann es sich nicht leisten zu 'verlieren', wir brauchen eine Art Sieg. Und wenn wir das Gefühl haben, dass wir den Krieg verlieren, dann besteht meiner Meinung nach durchaus die Möglichkeit einer Eskalation. Dieser Krieg ist eine Art Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und dem Rest - wobei Russland, wie in der Geschichte, die Speerspitze des 'Rests' ist - um eine zukünftige Weltordnung. Für die russische Elite steht sehr viel auf dem Spiel - für sie ist es ein existenzieller Krieg." Karaganow sieht eine wachsende Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer direkten Konfrontation zwischen der Nato  und Russland kommt. Den Beistandspakt der Nato nach Artikel 5 hält er für wertlos - die Nato-Länder hätten zu viel Angst vor Putins Atomraketen.

Könnte es sein, dass es für die deutsche Politik ein bisschen ungemütlich wird? Die Frage, wie die gesamte politische Klasse das Land in die Abhängigkeit von einem einzigen Diktator treiben konnte, steht im Raum - bis hin zu den größten Gaslagern im Land, die der Gazprom gehören und heute verdächtig leer stehen (der aktuelle Spiegel hat hierzu recherchiert). Jan Fleischhauer fordert in seiner Focus-Kolumne einen Untersuchungsausschuss im Bundestag. Zu klären wäre, welche Personen in Deutschland das Land an diesen Abgrund getrieben haben: "Jeder Untersuchungsausschuss strebt einem Höhepunkt zu. Wenn es einen Architekten der deutschen Russlandpolitik gibt, dann den heutigen Bundespräsidenten. Es war Frank-Walter Steinmeier, der erst als Kanzleramtschef unter Schröder und dann als zweimaliger Außenminister unter Angela Merkel die Abhängigkeit von russischer Energie als Projekt zur Friedenssicherung verstand und vorantrieb."

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hatte schon ein Versöhnungskonzert im Schloss Bellevue abgesagt, nun kritisiert er Frank-Walter Steinmeier sehr scharf im Gespräch mit  Claudia von Salzen und Georg Ismar im Tagesspiegel: "Steinmeier weiß genau, wie wir Ukrainer ticken und wie sensibel das Thema ist. Aus Putins Sicht gibt es kein ukrainisches Volk, keine Sprache, keine Kultur, und daher auch keinen Staat. Steinmeier scheint den Gedanken zu teilen, dass die Ukrainer eigentlich kein Subjekt sind. Das Konzert war aus meiner Sicht ein klares Signal Richtung Moskau, vielleicht sogar, um Putin zu zeigen: Ich halte hier die Stellung."

Außerdem: taz-Redakteur Stefan Reinecke plädiert in einer Antwort auf Claus Leggewie, der einen Regime-Wechsel in Russland fordert (mehr hier), dafür, weiter mit Putin zu reden. Der SZ-Feuilletonismus rotiert in Höchstgeschwindigkeit. "Wenn auch der letzte McDonalds geschlossen ist, werden wir wissen, was Globalisierung war: Beginnt jetzt eine neue Zeit," fragt Jörg Häntzschel im Feuilletonaufmacher.

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Die zweitdeprimierendste Meldung des Tages ist die vom großen Wahlsieg Viktor Orbans in Ungarn. Im Liveticker der FR heißt es: "Vom Ausmaß der Niederlage bei der Ungarn-Wahl schockiert, zeigte sich Herausforderer Peter Marki-Zay. Der Spitzenkandidat des erstmals bei dieser Wahl angetretenen Oppositionsbündnisses 'Ungarn in Einheit' stellte sich seinen Anhängern. 'Unter ungleichen Bedingungen, mit zusammengebundenen Beinen, mit einer Lanze im Rücken sind wir in diesen Kampf gegangen', erklärte er das Unfassbare. 'Doch wir haben nicht gewonnen.' Dem Auftritt Marki-Zays assistierte kein einziger der Vorsitzenden der sechs Bündnisparteien. Stattdessen reihte der parteilose Konservative und bekennende Katholik seine Frau und sieben Kinder hinter sich auf. "

Am Sonntag findet in Frankreich die erste runde der Präsidentschaftswahlen statt. Der Sieg Emmanuel Macrons gilt nicht mehr als ganz so ausgemacht wie vor kurzem noch vermutet -die Rechtspopulistin Marine Le Pen, die Wladimir Putin auch jetzt noch ausdrücklich als Gesprächspartner sieht (mehr hier), holt auf. Yascha Mounk trägt in einem Twitter-Thread einige Faktoren zusammen, die Macrons Sieg in der entscheidenden zweiten Runde unsicherer erscheinen lassen - einer davon: "2017 hielten sich viele linke Wähler 'die Nase zu' und stimmten für Macron. Seitdem ist er (zusammen mit der öffentlichen Meinung) in kulturellen Fragen nach rechts gerückt. Der Hass auf ihn sitzt bei den Linken jetzt viel tiefer. Werden linke Wähler zu Hause bleiben?"
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Ideen

Gleich zwei Artikel plädierten in der ehemaligen Sonntags-FAZ für eine "feministische Außenpolitik". Ronya Othmann findet die Forderung in ihrer Kolumne richtig in dem Sinne, "dass man versucht, Frauen vor sexualisierter Gewalt zu schützen. Dass man die Taten dokumentiert, die Täter zur Rechenschaft zieht. Fragwürdig wird sie jedoch, wenn man von der 'friedliebenden Natur der Frauen' ausgehend einen radikalen Pazifismus und rigoroses Abrüsten fordert."

Nicht die Männer, die sich über diesen Begriff lustig machen, hatten das richtige Gespür, ruft Livia Gerster in Erinnerung und verweist auf eine Episode aus der unmittelbaren Vorkriegszeit: "Tatsächlich war Annalena Baerbock eine der wenigen, die Putin zu jedem Zeitpunkt klar gesehen hat. Der russische Präsident werde sich eben nicht an die Regeln halten, rief sie als Kanzlerkandidatin in einem der vielen Fernseh-Trielle, während Scholz ihre Empörung zu belächeln schien. Im Brustton kühler Überlegenheit verkündete er: 'Getanzt wird mit denjenigen, die im Saal sind.'"
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Medien

Der Fotograf Maksim Levin ist bei einer Bombardierung in der Ukraine ums Leben gekommen, meldet unter anderem der Guardian: "Der 1981 geborene Levin war ein Dokumentarfilmer, der seit 2013 an der Berichterstattung von Reuters über das Land mitgewirkt hatte. Er hatte in dem Dorf Huta Mezhyhirska gearbeitet. In diesem Gebiet war es zu schwerem Beschuss gekommen."

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Geschichte

Der Historiker Jörg Baberowski gehört zu den Russland-Experten, die sich nicht vorstellen könnten, dass Putin einen Krieg gegen die Uklraine beginnt, wie er im NZZ-Gespräch mit Benedict Neff eingesteht. Er spricht interessant über die Mentalität der russischen Armee. Sie hätte schon unter den Zaren "Disziplinierung durch Gewalt" betrieben: "Auch die Bolschewiki folgten diesem Konzept der Staatsbildung von oben. Und auch sie schufen eine Armee, in der Untertanen, aber keine Bürger dienten. Menschen, die solcher Behandlung ausgesetzt sind, geraten außer sich, sobald sich ihnen eine Gelegenheit bietet, andere Menschen genau so zu behandeln, wie sie selbst behandelt wurden. Die Gewaltexzesse der Roten Armee während des Zweiten Weltkrieges waren auch ein Resultat dieser Zurichtung."
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Stichwörter: Baberowski, Jörg, Rote Armee