9punkt - Die Debattenrundschau

Präsidentielle Manie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.04.2022. In mehreren Medien wird reflektiert, wie gefährlich Putins Parole der "Entnazifizierung" ist, die den russischen Soldaten das Gefühl gibt, beliebig morden zu dürfen. Die Religion Dispatches verweisen auf eine Predigt des Patriarchen Kirill, der diesen Begriff in der "Hauptkirche der Streitkräfte Russlands" stützte. In der Berliner Zeitung schreibt Claus Leggewie über die Putinophilie in sämtlichen Fraktionen der französischen Politik. In der NZZ spricht die Historikerin Tanja Penter über den Holodomor als Leerstelle in der russischen Erinnerungskultur.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.04.2022 finden Sie hier

Europa

Butscha ist kein Einzelfall, Butscha ist das System, schreibt der Schriftsteller Juri Andruchowytsch in der FAZ: "Von den ersten Kriegstagen an kämpfte Russlands Armee - wie in all ihren anderen Kriegen - besonders  siegreich gegen die Zivilbevölkerung. Mit anderen Worten: Die russische Armee ist eine weitverzweigte gesamtstaatliche Terrororganisation mit Hunderttausenden Mitgliedern, die mit extremer Grausamkeit und einem außergewöhnlichen Sadismus ausgerüstet sind. Russland ist ein terroristischer Staat."

Wann meldet sich schon mal der BND in die öffentliche Debatte ein? Er hat Funksprüche russischer Soldaten abgehört, die routinemäßig besprechen, Zivilisten erschießen zu wollen, berichtet unter anderen Konrad Litschko in der taz: "In einem der abgefangenen Funksprüche soll nach taz-Informationen ein russischer Soldat schildern, wie er mit Kollegen eine Person auf einem Fahrrad erschossen habe. In einem weiteren sollen russische Streitkräfte sich besprechen, Gefangene zunächst zu befragen und dann zu erschießen. Die Funksprüche sollen indes nicht aus Butscha stammen, sondern aus einem anderen Kiewer Vorort."

Butscha ist auch die Folge von Putins Parole von der "Entnazifizierung" der Ukraine, die russischen Soldaten sozusagen die Lizenz zum Töten gibt, analysiert der russische Soziologe Greg Yudin im Gespräch mit Sarah Jones vom New York Magazine, der auch noch mal den Aufruf zum Völkermord von Timofej Sergejzew in Ria Nowosti erwähnt (unser Resümee). "Sie infiziert auch die russische Gesellschaft, weil diese Art von Erzählung immer mehr akzeptiert wird. Wir kannten diese verrückten Ideen über Nazis in der Ukraine und der Nazis in der ukrainischen Regierung, aber bis jetzt hat es nie eine so schreckliche Wendung genommen. Es hieß nie: Wir müssen die ganzen 40 Millionen Menschen in unserer Umgebung reinigen. Das selbst eine Nazi.Vision von nationaler Reinheit, der Purifizierung eines ganzen Volkes mit Gewalt."

Ein Gasembargo würde Russland erheblich schaden, sagt der von taz-Korrespondentin Inna Hartwich befragte Moskauer Energieexperte in bemerkenswert klaren Worten: "Ja, in Deutschland müssten wohl Chemiewerke die Arbeit einstellen, Stahlwerke würden leiden, auch kleinere Betriebe. Manche müssten wohl auch stillstehen. Auch Pläne des Green Deal müssten aufgeschoben werden und viel Geld für Flüssiggas bezahlt werden. Das trifft Deutschland und auch andere Länder empfindlich, natürlich. Aber hier gilt die Wahl: Teilnahme am Krieg oder materielle Opfer."

Von einer "Zeitenwende" könne kaum die Rede sein, nach wie vor regiere "jene Politik des doppelten Standards, mit der die zunächst west-, später dann gesamtdeutsche Gesellschaft so lange so gut gefahren ist", ärgert sich der Soziologe Stephan Lessenich in der SZ: "Wie geht Doppelmoral heute? Nun: allerschärfste Verurteilung des russischen Angriffs, aber keine Verhängung eines Gasembargos. Den Krieg in Europa ächten, aber Kriege im Rest der Welt geschehen lassen. Auf die russische Lügenpropaganda verweisen, aber über den auf Lügen aufgebauten Irak-Krieg schweigen. Putins Gas dämonisieren, aber dafür in den Emiraten antichambrieren."

Bill Clinton erinnert sich in Atlantic, wie er in den Neunzigern versuchte, Russland in internationale Sicherheitsstrukturen einzubinden. Und er verteidigt die Ausdehnung der Nato: "Weder die EU noch die Nato konnten innerhalb der Grenzen bleiben, die Stalin 1945 gezogen hatte. Viele Länder, die sich hinter dem Eisernen Vorhang befunden hatten, strebten mit der EU und der Nato nach mehr Freiheit, Wohlstand und Sicherheit, unter inspirierenden Führern wie Václav Havel in der Tschechischen Republik, Lech Wałęsa in Polen und, ja, einem jungen pro-demokratischen Viktor Orbán in Ungarn."

Die Doomsday Clock steht aktuell schon auf hundert Sekunden bis Mitternacht und kommendes Jahr wird diskutiert werden, ob sie weiter nach vorne gestellt wird, sagt der amerikanische Physiker Robert Rosner, der im Komitee sitzt, im SZ-Gespräch mit Andrian Kreye und Georg Mascolo. Neben Klimawandel und neuerdings auch Desinformation hält er die zu lange vernachlässigte Bedrohung durch Atomwaffen für eine der größten Gefahren: "Was mich wirklich beunruhigt ist, dass China alles, was gerade geschieht, sehr aufmerksam verfolgt. Sie sind in einem massiven nuklearen Aufrüstungsprogramm, keine kleine Sache, sondern eine Generalüberholung ihres Arsenals. Und ebenso furchterregend ist, was dies hier bei uns in den USA auslösen wird. Die Rufe nach neuen Tests, nach einem Ausbau des Arsenals werden lauter werden. Und die Russen werden das Gleiche tun. Man darf nicht vergessen, dass wir Zeiten hatten, in denen die USA und die Sowjetunion jeweils über 20.000 Sprengköpfe hatten, ein kompletter Overkill. Es war völlig irrational. Und ich fürchte, auf diesem Weg könnten wir uns bald wieder befinden."

Die Welt hat fünf ungarische Künstler nach der Wiederwahl von Orban zur Lage in ihrer Heimat befragt, darunter den Schriftsteller Ferenc Barnas, der sich nicht wundert, dass die Opposition scheiterte: "Ich halte es für die Schande der ungarischen Demokratie, dass die Anführer des oppositionellen Zusammenschlusses am Wahlabend nicht hinter dem Spitzenkandidaten standen, als dieser gerade die Wahlniederlage eingestehen musste. Ein politisches Bündnis mit einer solchen Moral ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Ungarns Zukunft kann ich mir einzig und allein innerhalb der Europäischen Union vorstellen. Ich bin mir ganz sicher, dass meine Landsleute ebenso denken, selbst wenn der Ministerpräsident auf seine populistische Weise regelmäßig von den sogenannten Bürokraten in Brüssel spricht. Ich möchte daran erinnern, dass die Ungarn unter den EU-Ländern zu den engagiertesten Anhängern der Europäischen Union zählen. Ungarn war nie eine bürgerliche Demokratie im westlichen Sinne und wird es, so glaube ich, in absehbarer Zeit auch nicht sein. Das bedeutet aber nicht, dass unser politisches System nicht grundlegend demokratisch wäre. Und es bedeutet auch nicht, dass wir uns nicht im Kontext des kulturellen und politischen Wertesystems der westlichen Demokratien definieren wollten."

"Hat dieses Land jemals Demokratie gekannt?", fragt indes die Sprachwissenschaftlerin Kinga Toth: "Es hatte so wenig Zeit, sie auszuprobieren, und nach der Wende ging das 'Business' weiter, das Land, die Natur wurden verkauft - das Resultat dieser Prozesse sieht man jetzt, Oligarchen besitzen die Seen, Naturgebiete, Denkmäler, und die Sporthallen, Korruption und und und."

Dient das Land als "Nährboden für den sich auf dem Vormarsch befindlichen Rechtspopulismus", fragt in der SZ Gerhard Matzig nach den Ungarn- und vor den Frankreichwahlen: "Die Differenz war politisch noch nie so entzündlich wie heute. (…) Der Boden, auf dem ein neues Gespenst in Europa umgeht, ist von ländlicher Gestalt, zugleich aber auch von städtischer Bedeutung. Stadt, Land, Hass ist kein Spiel - sondern die zentrale Herausforderung einer Zeit, die den Dualismus, er ist so alt wie die Stadtgesellschaft selbst und seit der Antike bekannt, nur vermeintlich überwunden hat. Die Gräben zwischen den Lebenssphären waren noch nie so tief. Jedenfalls in politischer bis ideologischer Hinsicht, was grotesk anmutet, denn in lebenspraktischer Hinsicht waren sich die Sphären noch nie so nah. Die Menschen in Deutschland leben mehrheitlich weder nur in der einen, noch nur in der anderen Sphäre."

Dieser Dame hier werden gute Chancen bei den französischen Präsidentschaftswahlen eingeräumt:


Nicht nur die Rechte und Linke in Frankreich diente sich dem Putinismus an, schimpft Claus Leggewie in der Berliner Zeitung: "Frankreich pflegt eine uralte russophile Obsession, die von der geopolitischen Lage zu Ende des 19. Jahrhunderts datiert, als man die preußischen und habsburgischen Rivalen umzingeln zu müssen meinte. Diese Idee wurde im Gaullismus wiederaufbereitet - mit einer 'Force de frappe' als Faustpfand, um die 'Boches' unter Kontrolle und die 'Amis' aus Europa rauszuhalten. Noch 2011 wollte die Regierung den Russen ein Schlachtschiff der Mistral-Klasse bauen, was nach der Krim-Annexion von François Hollande gecancelt werden musste. Aber die Zuneigung der Neogaullisten Nicolas Sarkozy und François Fillon, dem 2017 über eine Korruptionsaffäre gestolperten Gegenkandidat Macrons, blieb ungetrübt. Sarkozy sorgte sich um die ethnischen Russen im Donbass und radebrechte auf Russisch von einer gemeinsamen (eurasischen) Zivilisation. Fillon, der Duzfreund Putins, wollte ganz Russland vor den Atlantisten und Kalten Kriegern im Westen bewahren. Und da die präsidentielle Manie offenbar jeden Amtsinhaber im Elysée befällt, gerierte sich auch Emmanuel Macron lange als ehrlicher Makler und erklärte die Nato für hirntot."

Im Tagesspiegel hat Albert Funke keine große Hoffnung, dass die neu gegründete "Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit" den Bundestag verkleinern wird: "Es wäre schon ein echter Fortschritt, wenn sich im Bundestag die Erkenntnis durchsetzen würde, dass der globale Normalfall das Parlament mit einer festen Größe ist und nicht das Parlament, dessen Größe eine Schwankungsbreite von mehreren Dutzend Sitzen hat. Zu befürchten ist, dass auch die neue Kommission nicht verändert, was bisher schon eine echte Reform verhindert hat: die Neigung zum kleinkarierten Herumschrauben am bisherigen System. Denn wird sich in den gut vier Monaten bis August der Mut entwickeln, die Sache mal mit ein bisschen mehr Offenheit für andere Möglichkeiten anzugehen? Eher nicht."
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Religion

Quelle: Wikipedia, kremlin.ru


So olivgrün-golden sieht die unter Wladimir Putin errichtete "Hauptkirche der Streitkräfte Russlands" in der Nähe Moskaus aus, in der das Putin-Regime des Siegs im Großen Vaterländischen Krieg gedenkt. Und hier predigte Patriarch Kirill am Sonntag. Er unterstützte Putins Begriff der "Entnazifierung", schreibt Katherine Kelaidis in den Religion Dispatches. "Und dann bot der Patriarch, dessen Amt noch vor wenigen Jahrhunderten (ein Wimpernschlag im Gedächtnis des christlichen Ostens) nicht in Moskau, sondern in Kiew angesiedelt war, eine Version der Geschichte an, die die Ukraine einfach von der Landkarte tilgt. Kirill macht 'verschiedene Kräfte' (das heißt Außenstehende, einschließlich - so könnte man meinen - des Westens), die im Mittelalter entstanden sind, für das verantwortlich, was er als falsche Teilung zwischen Russland und der Ukraine betrachtet. Tatsächlich erkennt er nicht einmal an, dass es Ukrainer gibt, und bezeichnet alle Beteiligten (einschließlich, so könnte man vermuten, Weißrussen) als 'Heilige Russen'."
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Geschichte

Während sich ukrainische Historiker und Politiker um eine Anerkennung des Holodomor als Genozid bemühen und versuchen, diese Anerkennung auch in der globalen Erinnerungskultur zu verankern, spielt die Erinnerung an die Opfer der Hungersnot in der russischen Erinnerungskultur heute kaum eine Rolle, schreibt die Osteuropa-Historikerin Tanja Penter in der NZZ: "Russische Historiker verstehen die Hungertoten häufig nicht als Opfer einer verbrecherischen Politik Stalins, sondern als Kollateralschäden der forcierten Kollektivierung und Industrialisierung, die sich später als entscheidend erwies, um den sowjetischen Sieg gegen NS-Deutschland im Zweiten Weltkrieg herbeizuführen. Russische Politiker kritisierten mehrfach, dass die ukrainische Deutung der Hungersnot darauf abziele, Russland die Verantwortung dafür zuzuweisen und dadurch Feindschaft zwischen den zwei Völkern zu säen. In diesen Tagen hat der russische Bildungsminister Sergei Krawtsow die Untersuchung ukrainischer Schulbücher angeordnet, die angeblich die Geschichte verzerrten und Russland als 'potenziellen ersten Feind der Ukraine' darstellten. Nach dem Ende der Sowjetunion ist es den Nachfolgestaaten nicht gelungen, integrierende Narrative über zentrale Ereignisse ihrer Geschichte des 20. Jahrhunderts zu entwickeln."
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Politik

Die Serie der islamistischen Attentate in Israel ging gestern Abend weiter. Ein Terrorist erschoss in Tel Aviv zwei Menschen. Die Attentate zeigen, dass der geschwächte Islamische Staat nach wie vor einzelne zu Attentaten motivieren kann, schreibt Ralf Balke in der Jungle World: "Anhänger des IS neigen mittlerweile dazu, alleine zu handeln, was es den Sicherheitsbehörden schwermacht, sie aufzuspüren. Und sie können eine gefährliche Dynamik auslösen. Obwohl Hamas und Islamischer Jihad keinesfalls über die Existenz von Zellen einer konkurrierenden Gruppe, beispielsweise im Gaza-Streifen, begeistert sind, können sie durch spektakuläre Anschläge, verübt von Sympathisanten des IS, unter Zugzwang geraten, es ihnen gleichzutun."
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Gesellschaft

Die chinesiche Null-Covid-Strategie ist gescheitert, schreibt FAZ-Korrespondentin Friederike Böge mit Blick auf die steigenden Omikron-Zahlen und die drastische Quarantäne in Schanghai: "Nur ein Fünftel der über Achtzigjährigen ist geboostert. Der Schutz vulnerabler Gruppen spielte bisher keine Rolle, weil nur die 'Null' als Erfolgsmaßstab gelten durfte. Lange hat die Bevölkerung die strikte Null-Covid-Politik der Partei unterstützt, weil sie das Land vor einer hohen Zahl an Corona-Toten bewahrt hat. Doch die hochansteckende Omikron-Variante treibt den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Preis der Strategie in die Höhe und macht die Kollateralschäden immer sichtbarer."

Gescheitert ist auch die Ampelkoalition, die es nicht schaffte, im Bundestag eine Mehrheit für die Impfpflicht ab 60 zu bekommen. Fast ein Totalschaden für Krisenmanager Olaf Scholz, kommentiert Stefan Reinecke in der taz.
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