9punkt - Die Debattenrundschau

Alles lange bekannt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.04.2022. Die Stadt Mariupol ist inzwischen Symbol des russischen Vernichtungskriegs. Bürgermeister  Wadym Bojtschenko schätzt die Zahl der Toten im Gespräch mit AP auf 10.000. In der NZZ kommt Timothy Snyder auf Timofej Sergejzews Aufruf zum Völkermord in der russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti zurück. Deutschland hat die falsche Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen, sagt die Historikerin Franziska Davies in der taz. In Frankreich gibt es keine Opposition, nur Gegner des Status quo, sagt Raphaël Enthoven im Philomag nach der ersten Runde der Wahlen. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.04.2022 finden Sie hier

Europa

Journalisten der Nachrichtenagentur AP haben per Telefon mit Wadym Bojtschenko, dem Bürgermeister von Mariupol, gesprochen. Er schätzt die Zahl der Toten in der eingeschlossenen Stadt auf 10.000 - und fürchtet, dass sich diese Zahl noch vergrößern könnte. Er berichtet auch über Kremationswagen, mit denen Russen in Mariupol angeblich Leichen verbrennen. "In Mariupol sind etwa 120.000 Zivilisten dringend auf Nahrung, Wasser, Wärme und Kommunikation angewiesen, so der Bürgermeister. Nur die Bewohner, die die russischen 'Filtrationslager' passiert haben, dürfen die Stadt verlassen, sagt Bojtschenko."

Sehr luzide spricht die Historikerin Franziska Davies im taz-Interview mit Erica Zingher über das deutsche Verhältnis zu Russland, den Ländern Ostmitteleuropas und den Wunsch nach Aussöhnung, den Protagonisten wie Frank-Walter Steinmeier fast ausschließlich auf Russland projizierten. Sie will die guten Absichten nicht in Frage stellen: "Wenn das aber dazu führt, die Aggressoren der Gegenwart nicht zu erkennen, dann ist das die falsche Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg. Putins Machtantritt ist untrennbar verbunden mit dem zweiten Tschetschenienkrieg. Was er in Grosny und später in Aleppo gemacht hat, wie er die Unterdrückung im eigenen Land vorangetrieben hat, seine Verstrickungen als Ex-Geheimdienstler in kriminelle und oligarchische Strukturen - alles lange bekannt. Warum daraus aber keine politischen Konsequenzen erfolgt sind, damit müssen wir uns auseinandersetzen."

Genauso sieht es auch Daniel Brössler in der SZ während er auf die "Parade der Reue" blickt, auf der jetzt deutsche Politiker erklären, sich in Putin ganz schlimm getäuscht zu haben und glauben, damit sei es jetzt gut. Aber es muss schon noch mehr kommen, eine Enquete-Kommission des Bundestages zum Beispiel, findet Brössler: "Nach 2014 ging es wechselnden deutschen Regierungen immer auch darum, ein in Jahrzehnten eingeübtes Geschäftsmodell zu erhalten. Billige Energie aus Russland sollte die deutsche Industrie auch in kommenden Jahrzehnten am Laufen halten. ... Im Ergebnis führte das zu einer Komplizenschaft zu Lasten der Mittel- und Osteuropäer. Die bedingte Handlungsfähigkeit Deutschlands heute ist Folge chronischen Politikversagens. Deshalb können die bisherigen Eingeständnisse allenfalls ein Anfang sein."

In der NZZ nimmt sich der Historiker Timothy Snyder der von Timofej Sergejzew verfassten Hetzschrift an, die die offizielle russische Presseagentur RIA Nowosti unlängst veröffentlicht hat (unser Resümee). Für Snyder ist sie schlicht ein Handbuch zum Völkermord: "Dem Handbuch gemäß kam die Gründung eines ukrainischen Staates vor dreißig Jahren der 'Nazifizierung der Ukraine' gleich. So ist 'jeder Versuch, einen solchen Staat zu errichten', ein 'Nazi'-Akt. Die Ukrainer sind 'Nazis', weil sie 'die notwendige Tatsache, dass das Volk Russland unterstützt', nicht akzeptieren. Die Ukrainer sollen dafür büßen, zu glauben, dass sie als eigenständiges Volk existieren; nur diese Buße kann zur 'Erlösung von Schuld' führen. Für alle, die immer noch denken, dass Putins Russland in der Ukraine oder anderswo der extremen Rechten entgegentritt, gibt das Völkermordprogramm Anlass zum Umdenken. Putins Regime spricht nicht von 'Nazis', weil es gegen die extreme Rechte ist, was ganz sicher nicht der Fall ist, sondern benutzt den Begriff als rhetorisches Mittel, um einen unprovozierten Krieg und eine völkermordende Politik zu rechtfertigen. Putins Regime ist selber die extreme Rechte. Es ist das Weltzentrum des Faschismus."

Deutschland ist zu 55 Prozent, die ganze EU zu 40 Prozent von russischem Gas abhängig. Es dürfte schwierig werden, Alternativen zu finden, schreibt Tom Wilson in der Financial Times: "Gazprom, Russlands größter Gasproduzent und Monopolexporteur, beherrscht den globalen Gasmarkt. Nach Angaben des Beratungsunternehmens Wood Mackenzie förderte Gazprom im vergangenen Jahr 540 Milliarden Kubikmeter, mehr als BP, Shell, Chevron, ExxonMobil und Saudi Aramco zusammen. Davon wurden 331 Mrd. Kubikmeter in Russland verbraucht und 168 Milliarden Kubikmeter über Pipelines nach Europa geleitet. Giles Farrer, Leiter der Gasforschung bei Wood Mackenzie, sagte, dass es 'unmöglich' sei, diese Menge zu ersetzen, da die Produktion der meisten Gasprojekte in der ganzen Welt bereits an der Obergrenze liege. 'Es gibt nichts anderes da draußen.'"

Catherine Beltons Buch "Putins Netz" schildert das Ausmaß russischer Einflussnahme im Westen, schreibt Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen. Aus der Lektüre werde klar, "dass die Staaten des Westens und damit auch Deutschland an zwei Fronten kämpfen müssen: Zum einen an der Seite der Ukraine, um ihre Vernichtung zu verhindern und den militärischen Sieg über Russland zu ermöglichen, zum anderen muss es gegen Putins fünfte Kolonne gehen: Wir können unserer Freiheit nicht sicher sein, solange wir die Kollaborateure nicht kennen, die Putin gekauft hat oder die ihm aus Überzeugung folgen."

Es wirkt im Moment nur wie ein Schlaglicht auf die Katastrophe der deutschen Politik, aber eines, das etwas über sie aussagt. Schon gestern hatte die Bild-Zeitung berichtet, dass die Bundesregierung gewusst habe, wo sich der gesuchte Wirecard-Manager und Finanzbetrüger Jan Marsalek in Moskau aufhält ("Angela Merkel wusste vom Versteck des Wirecard-Betrügers", hier). Der russische Geheimdienst FSB soll ein Verhör mit Marsalek angeboten haben, resümiert die FAZ: "Der Zeitung zufolge beantwortete die BND-Zentrale die Frage aus Moskau aber nicht. Das Bundeskanzleramt wurde jedoch über das brisante Gesprächsangebot informiert. Die bayerischen Strafverfolgungsbehörden, die gegen die Verantwortlichen des früheren Dax-Konzerns aus der Nähe von München ermitteln, wurden über das Angebot hingegen offenbar nicht informiert. Sie erhielten demnach nur einen vagen Hinweis auf ein Gebäude in der Nähe einer 'langen Chaussee in Moskau' als Versteck Marsaleks."

In Frankreich gibt es keine Opposition, sondern nur Gegner des Status quo, sagt der Philosoph Raphaël Enthoven in einem bemerkenswerten Gespräch mit Martin Legros in philomag.com. Auch Jean-Luc Mélenchon kann für Enthoven nicht behaupten, eine Alternative darzustellen. Denn "inhaltlich unterscheidet sich die Alternative, die er verkörpert, nicht wesentlich von dem, was Marine Le Pen vorschlägt. In Bezug auf Nato, Ukraine, Wladimir Putin, Europa, die 'politische Oligarchie' und die 'Mediakratie' hat er eine tiefe Affinität zu Marine Le Pen - und präsentiert sich gleichzeitig als Bollwerk gegen die extreme Rechte. Diese Elemente erklären, warum er stagniert." Am Ende seiner Rede hat Mélenchon seinen Anhängern zugerufen "Macht es besser". Aber Enthoven sagt, dass seine Partei ohne ihn in ihre Fraktionen zerfallen wird: "Ziehen Sie Tito zurück, und sie werden Ex-Jugoslawien haben". Marine Le Pen ist für Frankreich noch gefährlicher: "Es gibt in Frankreich zwar nicht 46 Prozent Rechtsextreme, aber 46 Prozent, die drohen, Le Pen zu wählen."

Die Lager der Putinophilen haben in der ersten Runde des französischen Wahlkampfs weit über 50 Prozent erhalten. Dazu zählen die RechtspopulistInnen Marine Le Pen, Eric Zemmour und Nicolas Dupont-Aignan einerseits und Mélenchon andererseits. Le Pens Putin-Idolatrie dürfte in der zweiten Runde des Wahlkampfs stärker thematisiert werden, vermutet FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel, "denn Le Pens Verbindungen mit dem Kreml sind bislang kaum der Rede wert gewesen. Auch über ihr europapolitisches Programm ist wenig debattiert worden. Vielmehr verstand sie es, sich als Beschützerin der kleinen Leute und Anwältin der Kaufkraft in Szene zu setzen." Niklas Bender thematisiert im Fuilleton der FAZ außerdem den kaum merklichen Einfluss der französischen Kulturszene in diesem Wahlkampf.

In der SZ verzweifelt Lacy Kornitzer angesichts der Niedertracht, mit der Victor Orban die Wahlen in Ungarn gewonnen hat und die sich auch in die Köpfe vieler Intellektueller frisst: "Es sei klar gewesen, sagen sie sich, dass die Schuld an den unhaltbaren Zuständen die EU trage, der Einfall der Kapitalisten in Ungarn zu einer rechtsextremen, nationalistischen Politik führen würde. Das hört sich an wie die Konstruktion eines Naturgesetzes, wonach es ausgeschlossen sei, dass auch eine liberale Politik in der Lage wäre, mit den gegebenen politischen und Geschäftspartnern zu verhandeln, den Vorteil nutzend, dass sie alle derselben Union angehören. Aber nun wird am Tisch die These wiederholt, damals habe die EU drittklassige Leute zu den Verhandlungen nach Ungarn geschickt und das Land übers Ohr gehauen." Aber hat Ungarn nicht "die Wende mit herbeigeführt, weil es das westliche Wirtschaftsmodell für sich beanspruchte? Hat die EU Ungarn dazu ermutigt, den Rechtsstaat abzubauen, die Medien zu zerschlagen, die gigantische Korruption einzuführen, hat sie Orbán zur Selbstbereicherung aus den EU-Zuflüssen überredet?"

Außerdem: Der Historiker Jörn Leonhard fragt in der FAZ, ob der Ukraine-Krieg eine historische Zäsur markiert. Ebenfalls in der FAZ gehen Winand von Petersdorff und Philip Plickert der Frage nach, ob Fracking-Gegner in den USA und Großbritannien mit russischen Geldern finanziert wurden. Allzu viele Belege gibt es nicht, allerdings hat Putins Propagandasender RT jahrelang kräftig Stimmung gegen Fracking gemacht. Nachzutragen ist der Hinweis auf Alexej Hocks und Uwe Müllers Recherchen zu den Verflechtungen zwischen Gazprom und der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern unter Manuela Scweisig in der Welt am Sonntag. Freigegebene Papier "zeigen, dass die Landespolitik wie eine Filiale der Nord Stream 2 AG agierte", schreiben die Autoren. Eine wichtige Rolle spielte der Ex-Stasi-Agent Matthias Warnig.
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