9punkt - Die Debattenrundschau

Die größte und gefährlichste Fehlkalkulation

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.04.2022. Frank-Walter Steinmeiers Gesprächsfaden ist erstmals in seiner Karriere abgerissen. Schlimm, findet die taz. Der Krieg führt nun zu einer tiefen Identitätskrise in der deutschen Politik. Der Eklat um Steinmeier ist Anlass,  die Russland-Politik nicht nur der SPD genauer zu inspizieren: Markus Wehner erzählt in der FAZ, wie es dank Steinmeier zur "Annäherung durch Verflechtung" kam. Klaus Geiger fordert in der Welt den Rücktritt Steinmeiers und Manuela Schwesigs. In Zeit online fürchtet Philipp Ther ein "zweites Srebrenica".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.04.2022 finden Sie hier

Europa

Die belarussische Opposition ist nicht untätig. Swetlana Tichanowskaja spricht über Sabotageakte aus der belarussischen Bevölkerung:

Erstmals in seiner Karriere ist Frank-Walter Steinmeiers Gesprächsfaden abgerissen. Er wollte in Kiew seine Solidarität bekunden, sollte aber nicht. Schlimm, findet nicht nur Stefan Reinecke in der taz: "Dieser Affront ist zudem eine riskante Erhöhung des politischen Einsatzes - und eine Art Erpressung Richtung Berlin."

Auch Berthold Kohler schimpft in der FAZ über die Brüskierung Steinmeiers: "Desavouiert wurde nicht nur eine Privatperson mit ruhender SPD-Mitgliedschaft, sondern der höchste Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland. Und ein Vertreter einer Politik, die bis zu Putins Überfall auf die Ukraine von weiten Teilen der politischen und wirtschaftlichen Eliten Deutschlands mitgetragen wurde, auch vom früheren Hamburger Bürgermeister und späteren Finanzminister Scholz."

Markus Wehner zeichnet ebenfalls in der FAZ ein sehr kritisches Porträt des Russland-Liebhabers Steinmeier. Er hatte als Kanzleramtschef Gerhard Schröders den ersten Nord Stream-Deal eingetütet. Schröder bekam es dann hin, Steinmeier als Außenminister in Angela Merkels erster großer Koalition zu installieren. "Der neue Außenminister besuchte schon im Dezember 2005 bei seiner ersten Moskaureise Putin auf dessen Datscha. Einen Termin mit Oppositionellen oder Menschenrechtlern hatte er nicht für nötig befunden. Erst als Angela Merkel bei ihrer ersten Russlandreise als Kanzlerin Putin-Kritiker zum Tee in die Deutsche Botschaft in Moskau einlud, nahm auch Steinmeier stets ein Oppositionstreffen in seine Reisen auf." Menschenrechtsfragen, so Wehner, blieben aber weiterhin für Steinmeier "in der Russlandpolitik nachrangig". Steinmeier entwickelte fortan an für seine Russlandpolitik zwei zentrale Konzepte, so Wehner: "Annäherung durch Verflechtung" und "Modernisierungspartnerschaft". Steinmeier sorgte auch dafür, dass nach Putins Angriff auf Georgien keine ernstzunehmenden Sanktionen gegen Russland beschlossen wurden, so Wehner. (In der Welt wurde der Begriff "Annäherung durch Verflechtung" übrigens schon im Jahr 2008 geradezu prophetisch kritisiert, der Artikel ist leider nicht signiert, Aktualisierung: Autor war Hans Rühle, siehe Kommentare.)

Aus der langen Reihe der sozialdemokratischen Putin-Freunde, die zusammen mit Steinmeier an der "Annäherung durch Verflechtung" arbeiteten, greift Wehner den Hamburger Bürgmermeister Henning Voscherau, dessen Bruder Eggert Voscherau ("als Vizechef des Chemiekonzerns BASF mit dem Bau der Ostseepipeline beschäftigt"), Peter Struck, Martin Schulz, Matthias Platzeck und natürlich die Schweriner LokalfürstInnen Erwin Sellering und Manuela Schwesig heraus. Neue Details zur "Stiftung Klima- und Umweltschutz MV", mit der die Landesregierung von Meckelnburg-Vorpommern die "Annäherung durch Verflechtung" beim Nord-Strem-2-Projekt betreiben wolte, bringt Stefan Ludmann beim NDR.

Angela Merkel ist darum nicht von Schuld freizusprechen, schreibt Klaus Geiger in der Welt: "Die CDU-Kanzlerin machte sich zwar keine Illusionen über Putin. Aber auch sie verwechselte Außenpolitik mit Außenwirtschaftspolitik - und ließ das fest geknüpfte Netz der SPD gewähren, dessen Stränge über das Steinmeier-geführte Außenministerium in die Wirtschaft liefen." Für Geiger ist die deutsche Russlandpolitik der letzten zwanzig Jahre "die größte und gefährlichste Fehlkalkulation in der Geschichte der Bundesrepublik": "Das sind politische Fehler, die verbieten, dass Exponenten dieser Politik an führenden Positionen bleiben können. Manuela Schwesig kann nicht bleiben, weil sie eine nützliche Idiotin der Steinmeier-Schröder-Connection war. Frank-Walter Steinmeier kann nicht bleiben, weil er über zwanzig Jahre der nützliche Idiot Putins war. Das aktuell mächtigste Mitglied der Putin-Steinmeier-Schröder-Connection ist der außenpolitische Berater von Olaf Scholz, Jens Plötner."

Andere reden lieber gleich über Olaf Scholz selbst:

Mit einem sofortigen Embargo für russisches Gas und Öl könne Deutschland die "gravierendsten Fehler" seiner Russland-Politik korrigieren, sagt der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk im SZ-Gespräch mit Daniel Brössler. Aber dazu sei Olaf Scholz ja zu zögerlich, zunächst müsse auch der "massive Druck wirtschaftlicher Interessen reduziert" werden, fährt er fort. Angela Merkel hätte den Krieg verhindern können, glaubt er: "Wir haben Angela Merkel fast blind vertraut. Es gab ein riesiges Vertrauen in der Überzeugung, dass sie die Dinge besser einschätzen und regeln kann. Niemand war so nah an Putin dran wie sie persönlich und die Deutschen, auch als Vermittler im Normandie-Format. Niemand wusste besser als sie, wie angespannt das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine geblieben ist und dass Putin keine Einigung, sondern die Vernichtung meiner Heimat will. Trotzdem wurde in Berlin noch 2015 für Nord Stream 2 entschieden und gegen Waffenlieferungen an die Ukraine."

Gestern sprach Joe Biden von Völkermord an den Ukrainern. Ein "zweites Srebrenica liegt in der Luft", schreibt heute auch der Osteuropa-Historiker Philipp Ther in einem Zeit-Online-Essay: "Der Politikberater Timofei Sergeitsew forderte dazu auf, den Namen der Ukraine nach einer Rückeroberung zu tilgen, die regierungstreue Bevölkerung einer gerechten Bestrafung zuzuführen und eine Generation lang umzuerziehen. Der Name und die Person sind hier weniger wichtig, entscheidend ist, wo diese genozidalen Forderungen veröffentlicht wurden: in der staatlichen 'Nachrichtenagentur' RIA Novosti. (…) Srebrenica, das wird häufig übersehen, folgte auch einer militärischen Logik, denn es ging damals in Bosnien um eine Verkürzung der Fronten und Rache an einer Stadt, die sich erfolgreich gegen eine feindliche Übernahme gewehrt hatte, wie nach 2014 der ukrainisch gebliebene Teil des Donbass. Wahrscheinlich sind in Mariupol mindestens so viele Menschen getötet worden wie in der Endphase des serbischen Kriegs gegen das unabhängige Bosnien. Nur wird sich die genaue Zahl der Opfer niemals ermitteln lassen, weil russische Bulldozer die Trümmer der Stadt und die darunter liegenden Kriegsopfer einfach planieren werden. (…) Der Krieg in Bosnien ist zugleich ein Indiz dafür, wie weit moralische Empörung politisch trägt. Die westlichen Staaten wussten über die Massaker Bescheid, gingen jedoch - von diplomatischen Protesten abgesehen - erst Jahre später militärisch dagegen vor."
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Gesellschaft

Kein deutscher Intellektueller kritisiert die Waffenlieferungen oder zumindest die Ächtung nicht nur russischer Künstler, wundert sich der Schriftsteller Christian Baron in der SZ: "Auch in der russischen Armee dienen nicht die Kinder der großstädtischen Intelligenz, sondern die der Armen. Ihnen hat der schwerreiche Wladimir Putin die Invasion in der Ukraine befohlen. Darum ist es richtig, wenn die deutsche Politik von 'Putins Krieg' spricht. Der Kolumnist Sascha Lobo verwarf im Spiegel diese Losung kürzlich, indem er mitteilte, man solle 'die russische Bevölkerung nicht samt und sonders aus ihrer Verantwortung rausentschuldigen'. Das ist lupenreines Westplaining: Aus der demokratischen Sicherheit in einem Land, das sich 1945 nicht selbst vom Faschismus befreien wollte, wirft Lobo dem angeblich blöden und feigen Russen vor, dass er sich nicht von Putin befreit. .... Putin erkaufte sich die Zustimmung dieser Menschen durch eine Mehrung bescheidenen Wohlstands. Wer sich nicht offen gegen Putins autoritäre und korrupte Herrschaft stellte, hatte seine Ruhe. Darum ist es umso fataler, dass der Westen neben Waffenlieferungen voll auf Wirtschaftssanktionen setzt, denn die treffen in ihrer derzeitigen Ausgestaltung in Russland kaum Putin und oder die Oligarchen, sondern überwiegend die Armen."

Im Tagesspiegel (hinter Paywall) reagiert die Schriftstellerin Natascha Wodin indes auf einen ebendort abgedruckten Text des ukrainischen Lyrikers Oles Barleeg, in dem dieser seiner Wut auf Russland freien Lauf ließ. Wodin verurteilt vor allem den "deutschen Kulturbetrieb, der einem unverhohlen rassistischen Text eine Plattform zur Verfügung stellt": "Darf unsere Solidarität mit der Ukraine so weit gehen? Darf ihr verständlicher Hass gegen die Russen der unsere werden? Gerade der unsere, die wir die Russen einst zu Untermenschen erklärt haben, die wir 24 Millionen Sowjetbürger, Väter, Mütter, Kinder, umgebracht, zahllose russische Städte und Dörfer verwüstet, Millionen zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt haben? Dürfen wir jetzt schuldlose Russen auf der Straße anpöbeln und attackieren, russische Bücher aus Bibliotheken entfernen, russische Komponisten aus Konzertprogrammen streichen, russischen Künstlern Auftrittsverbot erteilen?"
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Ideen

Durch den Krieg in der Ukraine wird die "Idee des Westens" wiederbelebt, fürchtet der Politologe Ernst Hillebrand von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in der taz: "Garniert wird die Rückkehr des Westens mit dem angenehmen Gefühl der moralischen Überlegenheit - ein Gefühl, das postkoloniale Identitätsdebatten, die Ahnung, dass der Irak- und der Libyenkrieg vielleicht doch nicht ganz den Idealen des Völkerrechts entsprochen hatten, sowie die mit dem Klimawandel verbundenen Selbstvorwürfe in letzter Zeit doch ein bisschen angekratzt hatten."

Man kann Putins Regime, das von der Autokratie in die Diktatur abgerutscht ist, durchaus auch als faschistisch bezeichnen, sagt der Moskauer Soziologe Greg Yudin in einem Interview mit David Ernesto García Doell in analyse & kritik, das viel retweetet wird: "Die Besessenheit vom Wesen der ukrainischen Nation und ihrer Entsprechung mit der russischen Nation ist das, was als besonders nazistisches Element und nicht nur als faschistisches hervorsticht. Als anekdotischen Beleg möchte ich hinzufügen, dass es unter den russischen Eliten seit langem eine Menge Bewunderer Mussolinis gibt. Ich empfehle auch einen Blick in Putins Artikel im National Interest von 2020, in dem er die Ursachen des Zweiten Weltkriegs erläutert. Es ist aufschlussreich, wie oft er in diesem Artikel Polen für diesen Krieg verantwortlich macht, im Vergleich zu Deutschland."

Außerdem: Als Reaktion auf die ultra-liberale Idee des Rechts auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit erleben wir seit einigen Jahren einen Rückfall in ethnisches Denken, schreibt Julian Nida-Rümelin in der Welt und plädiert deshalb für ein republikanisches Verständnis von Staatsbürgerschaft.
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Medien

Wütend schreibt schreibt Szczepan Twardoch in der FAZ über einen Text Marina Owsjannikowas in der Welt. Die ehemalige Journalistin des russischen Staatsfernsehens beklagt dort, dass sie nach Ihrem Auftritt mit einem "Nie Wieder Krieg"-Schild persönliche Schikanen aushalten muss. Twardoch fordert: Wenn "eine prominente Funktionärin der Putin'schen Propaganda (aus Respekt vor dem Metier nenne ich sie nicht 'Journalistin')... die Stimme in westlichen Medien erheben will, dann sollten ihre ersten Worte den russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine gelten. Butscha, Irpin, den Massengräbern, den vergewaltigten Ukrainerinnen."
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