9punkt - Die Debattenrundschau

Zynismus, Selbstgefälligkeit und Heuchelei

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.04.2022. Auf ZeitOnline kündigt Kirill Martynow die Gründung einer Nowaja Gaseta Europe an, auch wenn er weiß, dass die Menschen in Russland nicht nur Informationen brauchen, sondern ein kritisches Selbstbild. In Georgien sind russische Emigranten nicht nur willkommen, erfährt die FAZ in Tiflis. Deutschlands Russlandpolitik war schon immer ein Fiasko, erinnern FAZ und NZZ hundert Jahre nach dem Vertrag von Rapallo. Die SZ sendet österliche Friedensbotschaften.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.04.2022 finden Sie hier

Europa

Der stellvertretende Chefredakteur der Nowaja Gaseta, Kirill Martynow, kündigt im Interview mit ZeitOnline an, die letzte unabhängige Zeitung, die in Russland ihren Betrieb einstellen musste, als Nowaja Gaseta Europe mit 33 Mitarbeitern in Litauen weiterführen zu wollen: "Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob mediale Berichterstattung aus dem Ausland fünf oder zehn oder 15 Prozent der Bevölkerung erreicht. Das kann über die Zukunft Russlands entscheiden. Das größte Problem aus meiner Sicht ist nicht, dass die meisten Menschen in Russland keine unabhängigen ausländischen Nachrichten empfangen oder lesen wollen. Sondern, dass die meisten sie nicht zu brauchen glauben. Sie sind zufrieden mit dem, was sie in Russland bekommen und was eine nationale Erzählung bestätigt... Meine Hypothese lautet, dass die meisten Russinnen und Russen wissen, dass die Staatspropaganda lügt. Sie glauben aber, dass die das nur in den Details tut. So können sich die Menschen weiter gut fühlen. Die russische Staatspropaganda sagt: Wir sind das Volk, das die Nazis besiegt hat, deshalb können wir als Nation gar keine bösen Dinge tun. Und deshalb können es auch keine Russen sein, die heute Kriegsverbrechen in der Ukraine begehen. Das Problem scheint mir nicht so sehr zu sein, korrekte Informationen nach Russland hinein zu berichten, sondern die Blase nationaler Mythen in Russland zum Platzen zu bringen. Das wäre schmerzvoll für Russen. Selbstverständlich nicht annähernd so schmerzvoll, wie der Krieg für die Ukrainer ist."

30.000 Russen haben seit Ausbruch des Krieges Zuflucht in Georgien gesucht, wo sie visumfrei einreisen können, nicht verfolgt oder eingezogen werden und für wenig Geld ein vergleichsweise gutes Leben führen können. Für die FAZ tut sich Kerstin Holm in der Kulturszene von Tiflis um, wo viele  mit den Gästen ebenso unglücklich sind wie mit ihrer eigenen prorussischen Regierung: "So sammeln sich seit dem Beginn des Ukrainekrieges hier besonders politisch aktive Emigranten, oppositionelle Aktivisten, Künstler, Journalisten. Doch es kämen ebenso Putin-Unterstützer und Chauvinisten, die Georgien mit seinem kulturellen Kolorit als exotisches Gouvernement ansehen, ereifert sich Medea Metreveli, die alle Russen in Kollektivhaftung nimmt für die Schande des Putin-Regimes, wie sie es nennt, das, Umfragen zufolge, von siebzig Prozent der Bevölkerung unterstützt werde. Daher befürwortet sie derzeit einen Pauschalboykott russischer Kultur. Denn Künstler hätten eine besondere Verantwortung für das Wertesystem in ihrem Land, und die kritischen Stimmen eines Vladimir Sorokin, Michail Schischkin, Viktor Jerofejew, Boris Akunin - die obendrein selbst im Westen lebten - seien einfach zu wenige, ihre Stimmen zu schwach und zu wirkungslos."

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Taktisches Wählen gehört in Frankreich zur "politischen Früherziehung", schreibt Matthieu Praun in der taz: "In Frankreich stimmt man traditionell im ersten Wahlgang für und im zweiten gegen jemanden. Das wird nächste Woche nicht anders sein, wenn Emmanuel Macron gegen Marine Le Pen antritt und damit der zweite Wahlgang von 2017 wiederholt wird. Der Zeichner, Autor und Regisseur Joann Sfar, unter anderem bekannt für die Comicreihe 'Le Chat du Rabbin', brachte seinen Frust darüber noch am Wahlabend in einem Selbstporträt zum Ausdruck. 'Seit ich wählen kann, soll ich für Ärsche stimmen, um Le Pen zu verhindern', legt er sich in einer Sprechblase selbst in den Mund." Wie lange das noch gut gehen wird? "Was Le Pen bislang von einem Sieg abgehalten hat, ist die große Erzählung eines barrage, einer gemeinsamen Blockade gegen rechts. Mit jeder Wahl aber steigt die Gefahr, dass diese Erzählung abstumpft."

Der Guardian möchte dezidiert nicht auf den Plan der britischen Innenministerin Priti Patel anspringen, Asylbewerber nach Ruanda auszufliegen. Das Land, das zu den 25 ärmsten der Welt gehört, bekommt dafür von Britannien, eines der zehn reichsten der Welt, 120 Millionen Pfund Entwicklungshilfe extra: "Es ist längst nicht klar, ob dieses jüngste Beispiel für Patels Politik der performativen Grausamkeit tatsächlich in die Praxis umgesetzt wird, geschweige denn, ob dies in großem Umfang geschieht - oder wirksam ist. Die Bedeutung der Ankündigung vom Donnerstag lag sowohl in ihrem zynischen Timing als auch in ihrem kaltherzigen Inhalt. Boris Johnson wird von seiner Unpopularität getroffen, in die ihn seine Gesetzesverstöße während der Pandemie gerissen haben. Seiner Partei drohen bei den Kommunalwahlen in drei Wochen schwere Verluste. Die Chancen für ein Vertrauensvotum gegen ihn steigen wieder. Für den Premierminister ist eine schlagzeilenträchtige Initiative zur Bekämpfung der Einwanderung ein Ablenkungsmanöver für die Medien und eine Chance, seine einwanderungsfeindlichen Wähler vor den Kommunalwahlen zu mobilisieren."
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Ideen

Der Politikwissenschaftler Samuel Huntington hat für die USA Zyklen erkannt, nach denen das Land alle sechzig bis siebzig Jahre Phasen politischer Eruptionen erlebe, erinnert der Historiker Bernd Roeck in der NZZ. In ihnen bräche der Konflikt zwischen institutionalisierter Macht und Freiheitsidealen hervor: "In solchen Phasen verbreiteter Unzufriedenheit seien Autorität, Spezialisierung und Expertise infrage gestellt worden. Neue Massenmedien hätten wachsenden Einfluss auf die Politik gewonnen. Auch ließ sich das Zirkulieren von Verschwörungstheorien, die von geheimer, unheilbringender Macht raunten, beobachten. Huntington ermittelte vier solcher Phasen: die Revolutionszeit, die Periode der Präsidentschaft Andrew Jacksons (also die 1830er Jahre), die 'progressiv-populistische Ära' nach 1900 und schliesslich die Zeit der Bürgerrechtsbewegung seit den 1960er Jahren. In den Jahrzehnten dazwischen seien die Spannungen durch Zynismus, Selbstgefälligkeit und Heuchelei überdeckt worden."
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Politik

Es war Frank-Walter Steinmeier, der mit der ukrainischen Ausladung an die Presse ging - womöglich hat also er erst den Eklat geschaffen, denkt sich Welt-Autor Thomas Schmid (an Markus Wehners FAZ-Artikel anknüpfend, unser Resümee). Vor allem aber kann Schmid verstehen, dass Steinmeier mit seiner prorusischen Politik in der Ukraine nicht erwünscht ist. Und das gilt auch für die "Kompromisse", die Steinmeier nach Russlands Angriff 2014 vorgeschlagen hatte:"Trotz der ehrlich gemeinten Vermittlungsbemühungen Frankreichs und Deutschlands haben das Minsker Abkommen und die 'Steinmeier-Formel' der Ukraine nie wirklich geholfen. Denn Russland wollte den kleinen Krieg an der Ostgrenze der Ukraine nie beenden, sondern am Laufen halten. Mit Erfolg. Es ist daher eigentlich nicht schwer zu verstehen, dass der ukrainische Präsident heute nicht besonders gut auf den Urheber dieser Formel zu sprechen ist."

Das SZ-Feuilleton versteht sich heute als Friedensangebot. Im Aufmacher wehrt sich Kurt Kister gegen antirussische Ressentiments: "'Alle Russen sind Feinde', sagt der ukrainische Botschafter heute, was auch bedeutet: Alle Russen sind schuld. 146 Millionen Feinde, so viele Menschen leben in Russland, sind eine ganze Menge. Vor dem Krieg hätte man eine Alle-sind-Aussage auf ihren Rassismusgehalt geprüft, weil Alle-sind-Behauptungen zu den grundlegenden Argumentationsmustern der diskriminierenden Ausgrenzung, in schlimmeren Fällen: der Dehumanisierung, der Entmenschlichung von kleineren und größeren Gruppen gehören. (Man kann das gut an Putins Tiraden über den 'wahren' Charakter der Ukrainer sehen.)" Hilmar Klute besucht den Liedermacher und Friedensbarden Hannes Wader.
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Geschichte

Als großes Trauma wirkt der Vertrag von Rapallo für Deutschlands Russlandpolitik. Der berüchtigte Vertrag wurde genau vor hundert Jahren geschlossen, Ostern 1922. Mit dem Vertrag lösten Deutschland und die Sowjetrussland, die beiden Verlierer des Ersten Weltkriegs und internationalen Parias, weltweites Entsetzen aus, wie der Historiker Jörg Himmelreich in der NZZ schreibt: "Die geheime Militärkooperation entsprang dem in Weimar verbreiteten politischen konservativen Denken, eine gemeinsame deutsch-russische Grenze wiederherzustellen, auf Kosten des mit dem Versailler Vertrag erneut gegründeten Polen. Alle nachfolgenden Weimarer Regierungen jeder parteipolitischen Couleur trugen es insgeheim mit. Der Vertrag löste in der westlichen Staatengemeinschaft politisches Entsetzen aus. Deutschland, der unsichere Kantonist, der sich allzu schnell zu deutsch-(sowjetisch)russischen Sonderbeziehungen zulasten Dritter verführen lässt und dessen unbedingter politischer Zugehörigkeit zur westlichen Gemeinschaft man deswegen nie ganz sicher sein kann: Dieses Gespenst entstand damals und lebt bis heute immer wieder auf. Deswegen ist der Vertrag von Rapallo in der Geschichte der internationalen Beziehungen in Europa so legendär. Er setzte nach dem ersten Schock eine Politik der Westmächte in den 1920er Jahren in Gang."

Mit dem eher unspektakulären Inhalt des Vertrags lasse sich das 'Rapallo-Trauma' nicht erklären, erklären zudem die Historiker Robert Kindler und Martin Lutz in der FAZ: "Im Kern vereinbarten beide Seiten 1922 in dem ligurischen Badeort die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und den gegenseitigen Verzicht auf Reparationszahlungen; außerdem trafen sie Absprachen auf wirtschaftlichem Gebiet. Wichtiger war, dass das Abkommen ohne Kenntnis und Zustimmung Großbritanniens und Frankreichs unterzeichnet wurde. Es wurde zum Eckpfeiler einer deutschen Revisionspolitik, die das wirtschaftliche Potential Deutschlands als 'Schwungrad' nutzen wollte, um die Ordnung des Versailler Vertrags zu revidieren. Es ist verständlich, dass dies bei den polnischen, französischen, tschechoslowakischen und anderen Nachbarn von Anfang an auf größtes Misstrauen stieß."
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