9punkt - Die Debattenrundschau

Eine elementare Asymmetrie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.04.2022. Im Donbass scheint in dieser Nacht die russische Großoffensive begonnen zu haben. Hierzulande geht die Diskussion weiter, besonders auch um den Kollateralschaden Frank-Walter Steinmeier. in der FAZ rät Peter Graf Kielmansegg, Putins Drohung mit der Atombombe ernstzunehmen. Die taz recherchiert, was ein Gas-Boykott für die russische Wirtschaft bedeuten würde - viel. Und will Olaf Scholz der Ukraine Geld geben, aber keine Waffen, fragt die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.04.2022 finden Sie hier

Europa

Die lang befürchtete russische Großoffensive im Donbass-Gebiet scheint in dieser Nacht begonnen zu haben. Sehr aktuell berichtet die Welt.

Warum will Olaf Scholz der Ukraine eine Milliarde Euro geben, fragt eine entgeisterte Alexandra Föderl-Schmid in der SZ. Will er sich damit von Waffenlieferungen freikaufen? "Bundeskanzler Olaf Scholz will mit dieser Umgehungskonstruktion eine direkte Lieferung vermeiden, indem Deutschland lieber die Rechnung übernimmt. Es ist der Versuch, niemanden zu verprellen - auch nicht die Friedensbewegung, die an diesem Osterwochenende mit den Friedensmärschen ein starkes Zeichen gesetzt hat. Gleichzeitig zeugt die weitere Ablehnung von Waffenlieferungen auf direktem Weg an die Ukraine auch von einer noch immer vorhandenen Rücksichtnahme in der SPD auf Wladimir Putin und seine Befindlichkeiten. Mit diesem Vorgehen wird die Bundesregierung den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung in Kriegszeiten nicht entkräften können, zumal Deutschland zu den Bremsern gehört, was ein Öl- und erst recht ein Gasembargo gegen Russland betrifft."

Stefan Laurin versucht bei den Ruhrbaronen ein Psychogramm der SPD, die weiter so gern an Putin glauben würde, wenn er nur nicht solche Angriffskriege führte: "Die SPD setzte bis zuletzt auf die Machthaber im Osten. Ob die polnische Gewerkschaft Solidarnosc oder die Bürgerrechtler in der DDR: Alles, was sich jenseits staatlicher Strukturen organisierte, egal ob in der Bundesrepublik oder in anderen Staaten, war und ist der SPD fremd. Das Staatstragende liegt in den Genen der SPD. Das ist nicht immer schlecht: Die SPD hielt an der Weimarer Republik fest, als Liberale und Konservative längst dabei waren, die erste deutsche Demokratie zu verraten. Ob Hartz IV oder Radikalenerlass: Die SPD war auch in der Bundesrepublik fast immer bereit, sich für das Land und gegen die Interessen der Partei zu stellen. Das Tragische ist, dass die SPD auch bereit ist, staatliche Herrschaft anzuerkennen, die nicht demokratisch legitimiert ist."

Sigmar Gabriel, kurzzeitiger Außenminister Deutschlands, verteidigt im Spiegel seinen Vorgänger Frank-Walter Steinmeier gegen den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk, der Steinmeier vorgeworfen hatte, wahre Spinnennetze intensiver Beziehungen zu Russland geknüpft zu haben: "Spinnennetze dienen bekanntlich dem Fang und der anschließenden Verwertung der Beute. Auf den Punkt gebracht insinuiert dieser Vergleich, dass der frühere Kanzleramts- und Außenminister die Interessenvertretung Russlands in Deutschland mitorganisiert habe. Das ist wahrheitswidrig und bösartig. Wahr dagegen ist, dass der Außenminister Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel mehr als alle anderen in Europa dafür getan hat, die Ukraine zu unterstützen."

In der SZ ist Nils Minkmar schockiert von der Routine, mit der Politiker und Medien in Frankreich und Deutschland zum Alltag übergehen, "als sei der Überfall auf die Ukraine und ihr Kampf um jene Werte, die die meisten in Europa bloß geerbt haben, ein nerviger Störfall und nicht ein historischer Moment der Wahrheit. An dem es zumindest nicht schaden kann, öfter mal zu sagen, was man in den kommenden Jahren und Jahrzehnten anders machen möchte als Putin. Was unser Plan wäre und mit welchen Institutionen, Kräften und Personen man ihn umsetzen möchte. Und wie es dazu kommen konnte, dass Europa sich in eine energetische und - es kommt nur noch auf den Zufall eines einzigen Wahltages am Sonntag an - politische Abhängigkeit zu einem Schwerkriminellen begeben hat."

Ziemlich deutlich äußert sich der italienische Premierminister Mario Draghi im Interview mit Luciano Fontana vom Corriere della Sera: "Wie wollen wir das Grauen von Butscha nennen, wenn nicht Kriegsverbrechen? Ich verstehe, dass Begriffe wie 'Völkermord' oder 'Kriegsverbrechen' eine genaue rechtliche Bedeutung haben. Es wird Zeit und Gelegenheit sein, zu prüfen, welche Worte am besten zu den unmenschlichen Handlungen der russischen Armee passen. Dennoch müssen wir anerkennen, dass der amerikanische Geheimdienst in den letzten Monaten vor und während der Invasion über die genauesten Informationen verfügte."

Wer angesichts der bevorstehenden russischen Großoffensive nicht jetzt Waffen liefert, macht sich der Beihilfe zum Völkermord schuldig, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog: "Der Hintergrund dieser wirren Suche nach Ausflüchten ist die obsessive Angst, durch zu großes militärisches Engagement für die Ukraine zur 'Kriegspartei' zu werden. Als bräuchte Putin, wenn er denn Deutschland an irgendeinem Punkt zur 'Kriegspartei' deklarieren und entsprechend angreifen will, dafür irgendeinen konkreten Vorwand!"

Wir sind "in einen neuen Weltkonflikt eingetreten", schreibt der Politologe Peter Graf Kielmansegg auf der Gegenwart-Seite der FAZ. Er fürchtet einen langen Krieg. Und "Die Drohung mit Atomwaffen ist in einer Konstellation mit vielen Ungewissheiten durchaus geeignet, die Handlungsspielräume des Westens einzugrenzen. Putin weiß das. Er weiß, dass er mit der nuklearen Drohung eine elementare Asymmetrie zwischen Autokratie und Demokratie zu seinen Gunsten aktivieren kann. Und arbeitet mit dieser Drohung."

Bernhard Pötter erzählt in einem gut recherchierten Hintergrundartikel in der taz, was es technisch bedeuten würde, wenn Europa kein russisches Gas mehr abnimmt: "Der gut eingespielte Ablauf der Förderung müsste unterbrochen werden. Denn Speicher von der Größe der täglich abfließenden Mengen gibt es an den Feldern kaum - und 'die Speicher in Russland sind nach unseren Informationen voll', sagt Franziska Holz, Energieexpertin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Anders als Deutschland, wo die Speicher trotz hoher Preise und gegen den ökonomischen Sachverstand leer sind, haben die Russen vor dem Ukrainekrieg ihre Reserven aufgefüllt." Gazprom ist in Russland praktisch identisch mit dem Staat, erläutert Holz weiter: "Gazprom habe weltweit fast eine halbe Million Angestellte, nur etwa die Hälfte davon arbeiteten bei der Ausbeutung von Rohstoffen: 'Der Konzern finanziert Schwimmbäder, Kitas, Bibliotheken, wer dort arbeitet, bekommt sein Gehalt von Gazprom. Wenn das Geld nicht mehr fließt, wird das schwierig.'"

Boykott hin oder her. Schon vor dem Krieg war es unter Putin mit der russischen Kultur rapide bergab gegangen, schreibt Wladimir Sorokin im Spiegel: "Die intellektuelle und kulturelle Degeneration von Putins Elite in diesen zwei Jahrzehnten hatte einen verheerenden Einfluss auf die Gesellschaft. Sie äußert sich vor allem in der Sprache: Sie ist primitiv geworden, lexikalisch und semantisch stark simplifiziert. Elaborierte Sprache auf der Straße zu hören ist heutzutage sogar in Moskau eine Seltenheit geworden."

Außerdem: In der Welt amüsiert sich Deniz Yücel über die beleidigten deutschen Reaktionen auf die Ausladung von Bundespräsident Steinmeier durch den ukrainischen Präsidenten Selenski: "Von der Welt bis zur taz, stets im selben Fräulein-Rottenmeier-Ton: 'Affront, geht gar nicht, Affront, was erlaube sich Selenski?, Affront, Affront!'" Und Sicherheitsexpertin Lauren Zabierek erklärt im Interview mit Christian Jakob, warum russische Hackerattacken im Krieg bisher so gut wie keine Rolle spielen.

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Die quälend langsame Aufarbeitung der NSU-Morde geht weiter. Im bayerischen Landtag wird ein neuer Untersuchungsausschuss gebildet, berichtet Dominik Baur in der taz: "Warum, fragen die Parlamentarier, wurde zehn Jahre lang in die völlig falsche Richtung ermittelt, wurden fast alle Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund außer Acht gelassen? Und warum wurden Hinterbliebene und Überlebende wie Tatverdächtige behandelt? Der Grüne Toni Schuberl vermutet hier einen Fall von institutionellem Rassismus: 'Ich will da jetzt keinem einzelnen Ermittler eine rassistische Haltung unterstellen.' Aber der Reflex sei eindeutig gewesen: Aufgrund des Migrationshintergrunds der Opfer habe man die Täter im Bereich der Clankriminalität gesucht."

Gegenüber Ungarn werden Sanktionen der EU sehr wirksam sein, verspricht der ungarische Historiker Krisztián Ungváry im Gespräch mit Ralf Leonhard in der taz: "Ungarn hängt vollständig von den Geldtransfers aus der EU ab. Es ist sogar so, dass sich dieses Orbán-System eigentlich nur durch die Finanzierung aus der EU richtig entfalten konnte. Die "Errungenschaften", derer sich Orbán zu Hause rühmt, kommen alle aus den Geldtöpfen aus Brüssel. Ich finde es sehr tragisch, dass man in Brüssel mehr als zehn Jahre lang nichts gegen diesen Verräter der europäischen Wertegemeinschaft unternommen hatte. Schlimmer sogar: Man hat ihn eher begünstigt. Im ungarischen Fall würden Sanktionen extrem schnell ihre Wirkung zeigen, anders als in Russland."
Archiv: Europa

Kulturpolitik

In NRW hat es Ina Scharrenbach, Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung (CDU), geschafft, das Denkmalschutzgesetz des Landes zu kippen. Künftig sollen nicht mehr unabhängige Denkmalschutz-Experten über Abriss oder Sanierung alter Gebäude bestimmen, jetzt dürfen das einfache Angestellte einer Gemeinde, auch ohne jede Fachkenntnis. Dabei ist die Behauptung, der Denkmalschutz stehe dem Klimaschutz im Wege oder verhindere die Nutzung alter Gebäude als Wohnungen, längst widerlegt, ärgert sich in der SZ Laura Weißmüller. Das zeige nicht zuletzt die preisgekrönte Renovierung der Naumannsiedlung in Köln. "Die Wohnsiedlung aus den Zwanzigerjahren wurde nicht nur umfassend saniert, sondern auch verdichtet - statt 450 gibt es dort nun 611 Wohnungen - trotzdem wurde der Charakter des Quartiers erhalten. Neuen Wohnraum in Denkmalen zu schaffen, auch in Industriebauten oder in Kirchen, dagegen spreche gar nichts, solange möglichst viel von den Spuren der Geschichte bewahrt wird, sagt Steffen Skudelny [Vorstand der Deutschen Stiftung Denkmalschutz]. Das könne maßgeblich bei der Bekämpfung von Wohnungsnot helfen. Was aber im Sinne des Denkmalschutzes nicht ginge: 'Investoren, die meinen vom Denkmal nur profitieren zu können.' Das Prinzip Luxus-Sanierer will von alten Gebäude nur die Fassade übrig lassen und die Immobilie hochpreisig vermarkten." Das wird jetzt offenbar leichter in NRW.
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Ideen

Die Perlentaucher-Redaktion ist in den Streik getreten. Und weigerte sich den ganzseitigen FAZ-Artikel des Soziologen Stefan Hirschauer vom "SFB Humandifferenzierung" an der Universität Mainz zu lesen, der so überschrieben ist: "Das Geschlecht ist irrelevant geworden." Unterzeile: "Warum soll man Frauen und Männer, die man in fast allem Wesentlichen für gleich hält, ein Leben lang unterscheiden? Diese Mystifikation ist längst überholt."
Archiv: Ideen
Stichwörter: Gender, Gender Studies