9punkt - Die Debattenrundschau

Dieser nationalistische Irrsinn

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.04.2022. Wie konnte der Westen "gut zwanzig Jahre lang das geradezu lehrbuchhafte Entstehen, Wachsen und Gedeihen eines erneuerten Totalitarismus 2.0 in Russland" derart ignorieren, fragt Oksana Sabuschko in der NZZ. Zwischen Lieferstopp und Embargo: Wenn es darum geht, die BASF und ihren Gashunger zu verteidigen, argumentiert die FAZ sogar wie die SPD. Gestritten wird in Zeit und FAZ über russische Gewalt: Florence Daub rät, "eine Antwort dafür parat zu haben". In der FR möchte Otfried Höffe die Ukraine zur Vernunft rufen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.04.2022 finden Sie hier

Europa

Wie konnte die westliche Kultur "gut zwanzig Jahre lang das geradezu lehrbuchhafte Entstehen, Wachsen und Gedeihen eines erneuerten Totalitarismus 2.0 in Russland" derart ignorieren, fragt sich die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko fassungslos in der NZZ: Der offensichtlichste Grund "ist natürlich die nie gelernte Lektion über die Sowjetunion, insbesondere der verlogene Diskurs über den Zweiten Weltkrieg, in dem mit stillschweigender Zustimmung alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit dem besiegten Nazi-Totalitarismus zugeschrieben wurden, während der siegreiche kommunistische Totalitarismus zu Kräften kommen und unbeklagt und ungestraft wuchern konnte. Mit der Folge, dass, als an der Spitze Russlands schließlich ein KGB-Offizier stand - Angehöriger einer Organisation, die seit 1918 direkt für die meisten und größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit über eine einzigartig lange Zeitspanne der modernen Geschichte verantwortlich war -, niemand im Westen mehr erschrecken wollte, so wie das etwa bei einem Gestapo-Offizier der Fall gewesen wäre. Und kaum jemandem kam es in den Sinn, dass eine Gesellschaft den Staatsterror nach vier Generationen als Norm hinnehmen würde - denn eine solche Zeitspanne bewegt sich bereits jenseits der Grenze des lebendigen, auf eigener Erfahrung beruhenden Gedächtnisses."

Wieviel Gewalt ist in den Russen? Die Zeit veranstaltet ein Streitgespräch zwischen der Politikwissenschaftlerin Florence Gaub, die Empörung auslöste, als sie in einer Talkshow von russischer Gewaltneigung sprach (hier, etwa ab Minute 45), und Jens Siegert von der Böll-Stiftung, der vor ethnischer Essenzialisierung warnt. In der FAZ erzählt die Autorin Irina Rastorgujewa ("Das Russlandsimulakrum"), die im fernen Osten Russlands auf Sachalin aufgewachsen ist, wie die Gewalt nach der Wende keinen Halt mehr fand, auch wegen des allgegenwärtigen Alkoholismus. Sie selbst wurde fast vergewaltigt. "Dieses Mal endete es gut. Oft endete es schlecht. Ich habe mich lange Zeit um ein Mädchen aus einem Internat gekümmert, das von seinem Vater vergewaltigt worden war. Dem Mädchen wurde wegen der inneren Verletzungen mit acht Jahren die Gebärmutter entfernt. Viele Kinder in Waisenhäusern und Internaten hatten solche Erfahrungen gemacht. Ich kann mich nicht erinnern, dass Psychologen oder Sonderpädagogen mit ihnen gearbeitet hätten."

Florence Daub schreibt heute in der FAZ ebenfalls nochmal zum Thema Gewalt. Europa müsse einsehen, dass seine Ächtung der Gewalt nicht Standard sei. Schon Amerika habe eine ganz andere Gewaltneigung, geschweige denn Russland, wie etwa der Tschetschenienkrieg gezeigt habe: "Dass die russische Bevölkerung grundsätzlich damit einverstanden ist, zeigt sich schon seit Jahren in Umfragen, die Putins Zustimmungswerte besonders dann ansteigen lassen, wenn er außenpolitisch gewaltbereit ist." An die Adresse der europäischen Öffentlichkeit schreibt sie: "Es geht nicht darum, Gewalt wieder zu verherrlichen, sondern eine Antwort dafür parat zu haben, wenn andere sie als Mittel nutzen."

Immerhin ein Ölembargo sei jetzt handhabbar, hat Wirtschaftsminister Robert Habeck bei seinem Polen-Besuch verkündet, ein großer Erfolg, kommentiert Susanne Schwarz in der taz, denn ursprünglich dachte er, dass dieser Punkt erst Ende des Jahres zu erreichen sei: "Polen und Deutschland versuchen also zusammen, Öl für die Raffinerie in Schwedt zu organisieren, die mehrheitlich dem russischen Rosneft-Konzern gehört und Endpunkt der russischen Druschba-Pipeline ist. Die Bundesregierung bereitet sich offenbar sogar darauf vor, Rosneft zu enteignen, sollte das Unternehmen sich weigern, mit nichtrussischem Öl zu arbeiten. Das Kabinett hat diese Woche ein Energiesicherheitsgesetz gebilligt, das das ermöglichen würde, sofern es den Bundestag passiert." Von Gas können sich die Länder nur langsamer lösen, berichtet Eric Bonse in einem weiteren taz-Artikel, und nach dem Stopp der russischen Gaslieferungen an Polen und Bulgarien ist europäische Solidarität vonnöten.

Es ist interessant, auch mal die Kommentare auf den Wirtschaftsseiten zu lesen. In der FAZ verteidigt Bernd Freytag die BASF, die seit Jahrzehnten eine innige Beziehung zur Sowjetunion und dann Russland pflegte, um Gas (und Öl) weit unter dem Marktpreis zu beziehen - das Geheimnis der großen Chemieindustrie in Deutschland und sprudelnder Milliarden, die natürlich auch Arbeitsplätze sichern (hier ein ZDF-Beitrag, auf den sich Freytag polemisch bezieht). Aber wie hätte die BASF anders agieren wollen, fragt Freytag und erstmals argumentiert die FAZ wie die SPD: "Gas aus Russland ist billig und nah. Die Verträge waren wirtschaftlich vernünftig und von politischem Wohlwollen begleitet. Das betrifft bei Weitem nicht nur BASF. Der Glaube an Wandel durch Annäherung ist seit der Ostpolitik von Willy Brandt nie gebrochen. Auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion galt es als Common Sense, den Russen eine wirtschaftliche Perspektive zu bieten. Heute weiß man: Es hat nichts genützt."

Im SZ-Gespräch mit Johan Schloemann glaubt die Ökonomin Helen Thompson indes nicht daran, dass Deutschland sich mittelfristig ganz von russischer Energie lösen kann. "Die Technologie für die ausreichende Speicherung von erneuerbarer Energie ist schlicht noch nicht entwickelt. Die umfassende Energiewende setzt Erfindungen voraus, die noch nicht gemacht wurden. Das bedeutet, dass weitsichtiges Regieren beides im Blick haben muss: den traditionellen Energiemarkt und die Innovation, und das inmitten schwieriger geopolitischer Herausforderungen. Ein Beispiel: China exportiert Mineralien und Metalle, die für den Übergang zu grüner Energie gebraucht werden - für Solarzellen, Wasserstoffzellen und vieles andere; und der Zugang zu entsprechenden Minen in Afrika wird auch immer mehr umkämpft sein."

"Ich beobachte geradezu eine Besessenheit in der Beziehung mit Russland", sagt die ukrainische Autorin und Verlegerin Kateryna Mishchenko im Gespräch mit Cornelia Geißler (Berliner Zeitung): "Und gerade jetzt, wo Russland wie ein schreckliches Spiegelbild von Deutschland des 20. Jahrhunderts wirkt, finde ich es problematisch. Da müssen Sie sich mit den eigenen Traumata beschäftigen und eine starke Position gegen den Krieg Russlands beziehen. Jetzt hat die Politik eine große Angst vor dem Embargo, aber wenn es passiert, wird es nicht so schlimm sein. So war das mit Waffenlieferungen doch auch. Erst wollte man das auf keinen Fall, nun ist es möglich. Deutschland handelt zu langsam, und die Gründe dafür werden nicht laut ausgesprochen."

In der FR ärgert sich der Philosoph Otfried Höffe derweil über die Attacken des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk, den er auch im Verdacht hat, für Steinmeiers Ausladung verantwortlich zu sein: "Als erstes müsste Deutschland den Versuch, den aus ukrainischer Sicht zu freundlichen Umgang Steinmeiers mit Russland in der Zeit, als er deutscher Außenminister war, nachträglich nicht nur zu kritisieren, sondern sogar zu bestrafen, als unzulässigen Eingriff in die eigene Souveränität zurückweisen. Denn ein Ausladen hat den Rang eines Strafens und sucht diesen Rang auch. Dass Steinmeier offen eingestanden hat, sein früherer Einsatz für einen Weiterbau der Gaspipeline Nordstream 2 sei aus heutiger Sicht ein Fehler, spielt hier allenfalls eine sekundäre Rolle. Selbst wenn dieses Eingeständnis nicht erfolgt wäre, bliebe das ukrainische Verhalten recht skandalös. Kein deutscher Politiker schuldet der Ukraine zu einem in der damaligen deutschen Politik hochkontroversen Thema eine Entschuldigung für mangelndes Wohlverhalten."

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Slowenien ist nicht Ungarn oder Polen, atmet Slavoj Zizek in der Welt nach dem Wahlsieg von Robert Golob auf. Aber ganz glücklich ist er nicht, stehe Golob doch wie Macron für die Formel: "Globaler Kapitalismus mit ideologischem Liberalismus". "Die Hauptverschiebung in unserem politischen Raum besteht darin, dass die Opposition zwischen MitteLinks und MitteRechtsParteien durch diejenige zwischen einer großen technokratischen Partei (die für Expertenwissen steht) und ihrem populistischen Gegner ersetzt wird. Aber es gibt eine weitere, überraschende Verschiebung: Was wir erleben, ist etwas, das man mit Christopher J. Bickerton und Carlo Invernizzi Accetti 'TechnoPopulismus' nennen kann: eine politische Bewegung mit großer populistischer Anziehungskraft, die sich für die 'wirklichen Interessen' der Menschen einsetzt, 'weder links noch rechts' steht und verspricht, sich rational und sachlich um die Bürger zu kümmern, ohne mit demagogischen Slogans niedrige Instinkte zu wecken. Der scheinbar ultimative Antagonismus der heutigen Politik, der große Kampf zwischen liberaler Demokratie und rechtem, nationalistischem Populismus, wird so auf wundersame Weise in eine friedliche Koexistenz verwandelt."

"Mein Freund Osman Kavala" ist der FAZ-Artikel des Journalisten Yavuz Baydar in der FAZ überschrieben, ein ohnmächtiger Protest gegen die erneute Verurteilung des Mäzens und Menschenrechtlers in der Türkei. Sie steht für Baydar im Kontext, etwa mit den türkischen Angriffen auf irakische Kudengebiete im Windschatten des Ukrainekriegs, mit dem drohenden Verbot der Partei HDP und mit der Drangsalisierung eines türkisch-armenischen Politikers: "Dieser nationalistische Irrsinn, der auf mehreren Ebenen gleichzeitig stattfindet, lässt für die Zukunft nichts Gutes erwarten."
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Gesellschaft

"Die antisemitische Allianz von Linksextremisten, Linksliberalen und Islamisten" wird leider oft "unterschlagen", sagt der Historiker Michael Wolffsohn, der gerade das Buch "Eine andere Jüdische Weltgeschichte" veröffentlicht hat, im FR-Gespräch mit Claus-Jürgen Göpfert. Er befürchtet, dass sich Juden zunehmend von Europa abwenden. Aber auch in der jüdischen Gemeinde gebe es einen Trend nach rechts: "Unter den Zuwanderern, die nach 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen, existiert eine krasse Ablehnung all dessen, was auch nur nach links duftet. Viele hegen heute sogar Sympathie für die rechte AfD. Diese Menschen haben den sogenannten real existierenden Sozialismus noch erlebt. Auch unter den russischen Einwanderern in Israel findet sich eine starke rechte Tendenz. In Frankreich, wo es kaum 'russische' Juden gibt, hegen, empirisch nachweisbar, etwa 30 Prozent der jüdischen Bevölkerung Sympathien für die Rechte Marine Le Pen." Mit Blick auf den Nahost-Konflikt plädiert er im Gespräch für eine Verbindung aus Bundesstaat und Staatenbund.
 
Marie-Luise Goldmann liest für die Welt eine ganze Reihe Neuerscheinungen zur Debatte um biologisches Geschlecht und Gender, Transsexualität und Feminismus (darunter Alice Schwarzers "Transsexualität" und Kathleen Stocks "Material Girls") und fragt: Sind Transmenschen vielleicht die eigentlich Konservativen? "Manchmal scheint es, als wären Transmenschen die letzten, die Weiblichkeit und Männlichkeit noch feiern, die sie so sehr affirmieren, dass sie dafür Operationen in Kauf nehmen. Vielleicht verläuft die entscheidende Linie im Diskurs also gar nicht an der Grenze zwischen Transbefürwortern und ihren Kritikern (…), sondern zwischen jenen, die an eine Auflösung der Geschlechter glauben und jenen, die ihre identitätsstiftende Kraft in Anspruch nehmen."
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Ideen

Unsere Aufgabe heißt jetzt, "Putin beim Scheitern zu assistieren", sagt Peter Sloterdijk im Gespräch mit Peter Neumann in der Zeit und führt aus: "Es bedeutet, ihn so scheitern zu lassen, dass wir nicht mit untergehen. Als vorerst letzter Vertreter eines großen Planhandelns, angesichts seiner destruktiven Arsenale, muss man ihm so widerstehen, dass man seine Tendenzen zum Verrücktwerden nicht verstärkt." Sloterdijks neues Buch, über das die beiden auch reden, heißt: "Wer noch kein Grau gedacht hat."
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Internet

Im Gespräch mit Jakob von Lindern und Ann-Kathrin Nezik von der Zeit verteidigt EU-Kommissarin Margrethe Vestager ihren "Digital Services Act" und ihren "Digital Markets Act". Auf die Frage, ob sie glaubt, dass soziale Netze designt sind, um qua Algorithmus das Böse im Menschen hervorbringen, antwortet sie: "Ich glaube schon, dass die sozialen Medien mit ihren Like- und Share-Buttons unser inneres Belohnungssystem triggern. Vielleicht werden wir uns in einigen Jahren, wenn die Hirnforschung mehr weiß, fragen: Was haben wir uns mit diesen Technologien bloß angetan? So ähnlich wie bei Asbest. Da haben wir ja auch erst viel später begriffen, wie schädlich es ist."

Nach Elon Musks Twitter-Übernahme setzt der Wirtschaftswissenschaftler Leonhard Dobusch, der auch im Verwaltungsrat des ZDF sitzt, seine Hoffnung in der SZ ausgerechnet auf die Öffentlich-Rechtlichen: "Eine gemeinnützige, auf Basis offener Standards und offener Software entwickelte Alternative zu den dominanten, kommerziellen Plattformen im Netz ist überfällig. Jedenfalls aber führt auf Perspektive ohnehin kein Weg daran vorbei, öffentlich-rechtliche Mediatheken endlich 'social' zu machen. Erste technische Voraussetzungen dafür existieren bereits. So verfügen die Mediatheken von ARD und ZDF schon seit 2020 über einen gemeinsamen Login, der personalisierte Empfehlungen, Wechsel von Geräten und Altersverifikation erlaubt und von Millionen Menschen regelmäßig genutzt wird."

Auf ZeitOnline wundert sich Nils Markwardt indes nicht über Musks neuste Errungenschaft: Die Verschaltung von Finanz- und Meinungsmarkt sei Kern seines Geschäftsmodells, schreibt er: "Die Verbindung von Börsen- und Nachrichtenwesen ergibt sich aus einer funktionalen Verwandtschaft: Nicht nur sind Kurse und Preise letztlich ja auch schlicht Information (etwa über die Verfügbarkeit eines bestimmten Guts), sondern Finanz- und Informationswesen funktionieren gleichermaßen über Rückkopplungseffekte und Feedbackschleifen. Gelesen und geteilt wird das, was gelesen und geteilt wird. Nachgefragt und gekauft wird das, was nachgefragt und gekauft wird (Stichwort Klopapier und Sonnenblumenöl). Unter den Bedingungen des gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus, in dem die sogenannte Realwirtschaft in hohem Maße von Investitionen des Finanzmarkts abhängig ist, hat die Bedeutung von Informationen noch weiter zugenommen. Das heißt: Nicht nur klassische Finanzmarktakteure wie Banken oder Derivatehändler vermögen durch Trends, Hypes und Informationsvorsprünge zu profitieren, sondern auch 'klassische' Unternehmen."
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