9punkt - Die Debattenrundschau

Im Orkus irgendwelcher Massenspeicher

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.04.2022. Jürgen Habermas himself meldet sich in der SZ zum Ukraine-Krieg. Die Lektüre seines Artikel ist auf 18 Minuten zu veranschlagen. Kurz zusammengefasst: Olaf Scholz hat recht, aber die Ukraine soll natürlich Waffen kriegen. Und dann finden wir sicher einen Kompromiss. Putin hat seine Atombombendrohung seit Jahren vorbereitet, indem er die Protokolle des Kalten Krieges außer Kraft setzte, schreibt Edward Luce in der Financial Times. Im Tagesspiegel erklärt Caroline Fetscher, warum der Postkolonialismus, für den alle Macht im Westen liegt, mit dem Ukraine-Krieg nichts anfangen kann.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.04.2022 finden Sie hier

Europa

Tag 65 des Krieges. Der Bundestag hat die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine bewilligt. Russland hat Kiew beschossen, während UN-Generalsekretär António Guterres zu Besuch in der Stadt war, meldet der Guardian.

Allein mit seiner Atombombendrohung hat Putin die Welt schon vor eine grundsätzlich neue Situation gestellt, meint Edward Luce in der Financial Times: "Ohne dass es den meisten Menschen bewusst ist, tritt die Welt in die gefährlichste Phase seit der Kubakrise 1962 ein." Aber auch hier zeigt sich, dass der Westen schläfrig war, denn Putin hat seine Drohung seit Jahren vorbereitet: "Das Konzept der wechselseitig gesicherten Zerstörung, das sich nach 1962 durchsetzte, sieht vor, dass jede Seite einen klaren Einblick in die Routinen und Denkweisen der anderen Seite hat. Der größte Teil des Informationsaustauschs, der eingeführt wurde, ist im letzten Jahrzehnt aufgegeben worden. Putin hat die Protokolle des Kalten Krieges außer Kraft gesetzt und sogar russische Nuklearwissenschaftler, die sich mit ihren US-Kollegen treffen wollen, beschuldigt, Spione zu sein."

Die Russen leben in einer "Fernseh-Realität, die den Leuten seit Jahren erzählt, sie seien das Licht der Welt, während die Ukraine und der Westen die Dunkelheit verkörpern", sagt Viktor Jerofejew im Dlf-Gespräch mit Gisa Funck. Russland sei eine Zivilisation, die "immer noch eher asiatisch als europäisch ist. Dort glaubt man eher an einen Kult der Macht als an Humanismus", deshalb zähle ein Menschenleben nicht viel, fährt er fort: "Da ist nichts an demokratischer Mentalität zu zerstören in Russland. Stattdessen herrscht eine brutale Mentalität vor, die eigentlich noch aus der mittelalterlichen Mongolen-Zeit stammt. Meine Landsleute sind also tatsächlich nicht reif für die Demokratie, weil sie gar nicht wissen, was das ist. Sie schauen auf den Westen und halten eine Demokratie für eine schwache Staatsform voller Kompromisse. Und die Fernsehpropaganda verstärkt dieses Denken."

Bis es in Deutschland, das sich für sein Gas bisher fast ausschließlich auf Gerhard Schröder und Wladimir Putin verließ, LNG-Terminals für Flüssiggas gibt, wird es wohl fünf Jahre dauern, erklärt der Anlagenbauer Tobias Puklavec im Gespräch mit Nick Reimer in der taz: "Normalerweise dauert die Ausschreibung 6 Monate, dann folgen die Vorarbeiten zum Anlagendesign, das genehmigt werden muss. Bis zum Baubeginn vergehen so anderthalb Jahre. Die Politik hat zugesagt, das Verfahren zu beschleunigen, es gibt ja schon Vorarbeiten von 2020. 3 Monate dauert es, das Fundament zu konstruieren, 8 Monate die Auslegung des Terminals, der Bau der Anlage weitere 30 bis 36 Monate: Ergibt zusammen vier bis fünf Jahre."

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In der SZ wundert sich der französische Historiker Olivier Christin nicht über die Wahlenthaltung und Demokratieverdrossenheit vieler Franzosen. Die zwei Gegner standen eigentlich von Beginn an fest, viele Franzosen mussten im zweiten Wahlgang für jemanden stimmen, den sie sich eigentlich nicht wünschten: "Die beiden Kontrahenten waren schon seit Langem bestimmt (respektive von sich selbst bestimmt worden); im Grunde seit ihrer ersten Konfrontation 2017. Sie und er hatten den jeweils anderen als einzig wirklichen Gegner bezeichnet, in einem zynischen Pakt, der das Verschwinden der alten Regierungsparteien (der linken PS und der konservativen LR) beschleunigen sollte. Diese hatten sich seit 1981, seit der Wahl von François Mitterrand, die Macht geteilt. Für Macron verkörperte Le Pen den Populismus und Nationalismus. Für Le Pen spiegelten sich in Macron die Eliten, die von der Globalisierung profitierten und abgekoppelt von der Realität sind."
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Kulturpolitik

Rund 200 Kulturdenkmäler hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine schon beschädigt oder zerstört, schreibt Vanessa Fatho in der FAZ: "Das ukrainische Kulturministerium und die staatliche Agentur für Kunstausbildung haben die Spendeninitiative 'Save Ukranian Culture' gestartet. Mit den Mitteln sollen zerstörte Kulturdenkmäler wiederaufgebaut, Kunstwerke digitalisiert und Kulturinstitutionen unterstützt werden. Das Besondere: In Kooperation mit dem Blockchain-Anbieter Everstake nimmt die Initiative auch Kryptowährung an. Bisher ist mit der Nutzung der digitalen Zahlungsmittel schon eine Summe von mehr als hundert Millionen Dollar an Hilfsprojekte für die Ukraine gespendet worden."

Unter Applaus werden in der Ukraine derweil die ersten russischen und sowjetischen Denkmäler abgerissen, meldet unter anderem Jörg Häntzschel in der SZ: "Viele ukrainische Gemeinden sind außerdem dabei, Straßen umzubenennen, die an Russland erinnern. In Dnipro wird die Straße der 30. Irkutsk-Division ab sofort Straße der ukrainischen Soldaten heißen. In Kiew sollen 60 Straßen umbenannt werden, darunter auch der Leo-Tolstoi-Platz und die gleichnamige U-Bahn-Station. Im Dorf Fontanka bei Odessa entschieden sich die Verantwortlichen - etwas überstürzt vielleicht - , die Wladimir-Majakowski-Straße in Boris-Johnson-Straße umzubenennen, weil der britische Premier Tage zuvor Waffenlieferungen versprochen hatte."
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Wissenschaft

Die Deutsche Forschungsgesellschaft untersagt die Kooperation mit russischen Forschungsinstitutionen. Auch Studentenaustausch und ähnliches funktioniert nicht mehr bisher. Die Historikerinnen Julia Herzberg und Alexandra Oberländer warnen im Freitag, dass vor allem diejenigen russischen Historiker betroffen seien, "die bislang am besten mit dem 'Westen' vernetzt waren. Das Aussetzen der Kooperationen wird besonders spürbar für diejenigen, die häufig in Gegnerschaft zu diesem Krieg stehen, nicht zuletzt, weil sie Kontakte ins Ausland hatten. Den Historikern in Russland, die kein Interesse an Kooperation hatten, mögen die Sanktionen egal sein; ihr Forschungsalltag wird sich weniger radikal verändern."

Ähnlich argumentiert die Moskauer Verlegerin humanwissenschaftlicher Bücher Irina Prochorowa im Gespräch mit Kerstin Holm in der FAZ: "Ich verstehe solche Leute und Organisationen. Sie sind verzweifelt, sie wollen unbedingt der Ukraine helfen, irgendetwas tun. Aber leider hilft das überhaupt nicht. Es zerstört nur die Zivilgesellschaft in Russland. Die Verlagswelt ist das letzte Forum für Gedankenfreiheit. Informationsisolation ist das Schlimmste, was passieren kann."
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Stichwörter: Verlagswelt

Ideen

Jürgen Habermas himself greift in die Diskussion um den Krieg in der Ukraine ein: Auf 18 Minuten schätzt die SZ die Lesezeit für seinen Artikel. Aber kriegt er die Sache klar? In Deutschland sei ein "schriller, von Pressestimmen geschürter Meinungskampf über Art und Ausmaß der militärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine ausgebrochen", schimpft er zunächst. Im wesentlichen verteidigt er dann Olaf Scholz' unscharfe Linie. Deutlich wird Habermas selbst nicht, das Gespräch mit Putin will er aber nicht abreißen lassen, so viel wird klar: "In meinem Alter verhehle ich nicht eine gewisse Überraschung: Wie tief muss der Boden der kulturellen Selbstverständlichkeiten, auf dem unsere Kinder und Enkel heute leben, umgepflügt worden sein, wenn sogar die konservative Presse nach den Staatsanwälten eines Internationalen Strafgerichtshofes ruft, der weder von Russland und China noch von den USA anerkannt wird. Leider verrät sich in solchen Realitäten auch der doch noch hohl klingende Boden einer erregten Identifizierung mit den immer schriller gewordenen moralischen Anklagen der deutschen Zurückhaltung. Nicht als hätte es der Kriegsverbrecher Putin nicht verdient, vor einem solchen Gericht zu stehen; aber noch nimmt er im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Sitz einer Vetomacht ein und kann seinen Gegnern mit Atomwaffen drohen. Noch muss mit ihm ein Ende des Krieges, wenigstens ein Waffenstillstand verhandelt werden."

"Weder Scholz noch Merkel noch irgendein anderer deutscher Politiker, nicht einmal der grausam verpeilte Zyniker Schröder, tragen eine Schuld, die mit jener Putins sinnvoll zu vergleichen wäre", schreibt der Historiker Norbert Frei ebenfalls in der SZ und erinnert daran, dass dank der Ostpolitik "vier Jahrzehnte lang ein kalter Frieden zwischen den Blöcken herrschte (in dem es sich im Westen natürlich angenehmer lebte als im Osten) und drei weitere Dekaden lang wenigstens der große Krieg in Europa undenkbar blieb". Mehr noch: "Von diesen Geschäften - in den USA schon damals kritisch beäugt - hat die energiehungrige bundesdeutsche Wirtschaft, ergänzend zu ihren Hauptbeziehungen im Westen, vortrefflich profitiert, und mit ihr der damals noch gern so genannte Otto Normalverbraucher, für den der sozioökonomische Lift auch deshalb jahrzehntelang nur in eine Richtung fuhr. Unter der Formel 'wirtschaftlicher Riese, politischer Zwerg' fühlten sich die aus Notwendigkeit und Einsicht postnational gewordenen Westdeutschen wohl." Oder vielleicht allzu pudelwohl?

Hinter dem irreführenden Untertitel "Darf man in Diktaturen Urlaub machen?" (und hinter der Paywall) greift Caroline Fetscher im Tagesspiegel einen interessanten Gedanken auf. Sie kommt auf den "irregeleiteten Kulturrelativismus der postkolonialen Theorie" zu sprechen, der Kritik an Autokratien verpönt: "Kritik an undemokratischen Zuständen, etwa in arabischen oder afrikanischen Staaten, gilt dabei als postkoloniale Arroganz. Ursachen für die Existenz von Autokratien, Diktaturen, Kleptokratien und 'Failed States' im globalen Süden verortet die wirkmächtige Diskursmode generell im globalen Norden. Dessen koloniales, imperialistisches Erbe manifestiert sich heute in einer 'euro-amerikanischen Matrix der Macht', verantwortlich für alle Übel der Welt. (...) So richtig und wichtig es ist, Europas Kolonialepoche historisch aufzuarbeiten, so gern übersehen die Postcolonial Studies, dass die einstigen Kolonialimperien heute Demokratien sind, die sich ihrer ambivalenten Geschichte stellen und Frieden in Freiheit ermöglichen. Dennoch wird es in einschlägigen Texten als 'Menschenrechtsimperialismus' bezeichnet, bei 'anderen Kulturen' und 'anderen Systemen' Menschenrechte anzumahnen."
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Politik

"Kern des Nahost-Konflikts ist ein Paradoxon: Die Existenz Israels ist die Geschäftsgrundlage der Hamas, des Islamischen Dschihad und der vielen anderen Organisationen, die sich die Befreiung der Region von Juden auf die Fahnen geschrieben haben", schreibt der Historiker Julien Reitzenstein in der Welt: "Die Hamas - und andere Terrororganisationen wie etwa der islamische Dschihad - gehören seit Jahrzehnten zu den weltweit erfolgreichsten Crowdfunding-Organisationen. Doch wie es beim Crowdfunding einmal so ist: Geld fließt, wenn die Idee viele Menschen überzeugt - und das Produkt medial sehr präsent ist. Das Geld fließt wohl am reichlichsten dann an die Hamas, wenn sie tut, was ihr 'Grundgesetz' verspricht, die Hamas Charta: 'Israel existiert und wird weiter existieren, bis der Islam es ausgelöscht hat.' Auch wenn die Hamas bei Bedarf moderate Töne anschlägt: Die Charta wurde nie zurückgezogen oder offiziell geändert - sie ist der Wesenskern und Leitlinie dieser Organisation."
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Gesellschaft

Im Tagesspiegel wird Sebastian Leber übel bei dem Gedanken, dass bei den diesjährigen Demos am 1. Mai wieder Antisemiten geduldet werden: "Ein Grund, warum Antisemiten geduldet werden, ist sicherlich, dass sie es bei Bedarf verstehen, ihren Judenhass halbwegs zu verschleiern und ihre Auslöschungsfantasien etwa als 'antiimperialistisch' zu verklären. Oder sie behaupten, Nationalstaaten müssten doch sowieso überwunden werden auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft. Aber von den 193 Staaten, die derzeit existieren, wird am Sonntag in Berlin namentlich nur von einem einzigen die Abschaffung gefordert werden. Und natürlich ist das antisemitisch. Es macht fassungslos, wie viele Linke den Judenhass in der eigenen Szene weiterhin leugnen."
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Kulturmarkt

500 Jahre nach Erfindung des Taschenbuchs kommt die "Demokratisierung des Wissens" ausgerechnet durch Open-Access-Publikationen an ihr Ende, schreibt der Kulturwissenschaftler Jan Söffner in der NZZ. Durch digitale Übertragungswege sei der Preis für die Verbreitung von Texten faktisch auf null gegangen: "Gefördert wurde dieses Geschäftsmodell von der Politik wie auch von vielen Universitäten - und zwar dadurch, dass sie Open-Access-Publikationen, also digitale Gratispublikationen, einforderten. Sie verlangten damit unwissentlich, dass akademische Bücher in den Orkus irgendwelcher Massenspeicher versenkt und dort, wenn überhaupt, von akribisch suchenden Wissenschaftern aufgefunden werden sollten." Aber auch mit dem Gegenteil von Open Access, nämlich Wissenschaftsverlagen wie Elsevier kann Söffner nichts anfangen: "Der Preis für das Buch beziehungsweise die Online-Lizenzen wird so hoch gesetzt, dass die Universitäten, die zum Kauf verpflichteten Wissenschaftsbibliotheken und indirekt die Steuerzahler das Geschäft der Konzerne auch an dieser Stelle finanzieren." Die Antwort auf diese Problematik ist laut Söffner das Taschenbuch!
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