9punkt - Die Debattenrundschau

Unordnung mit Macht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.04.2022. Jürgen Habermas' Verteidigung von Bundeskanzler Scholz schlägt Wellen: SZ und Tsp loben den Artikel als Dokument abwägender Vernunft, die FAZ sieht darin Wolodimir Selenski denunziert. Ein Offener Brief auf Emma rät der Ukraine, die Waffen niederzulegen. In der taz fürchtet Fjodor Krascheninnikow einen Sieg Wladimir Putins. In der FAS erklärt Christopher Lauer Elon Musks Twitter-Kauf zum Internet-Gau. Nicht einmal mit Anarchie hat das was zu tun, ergänzt Le Monde.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.04.2022 finden Sie hier

Ideen

Großen Wellen schlägt Jürgen Habermas' gestriger Artikel in der SZ, in dem er die "schrille" Debatte um die Waffenlieferungen kritisierte, Bundeskanzler Olaf Scholz verteidigte und seine eigene Ratlosigkeit angesichts des politischen und moralischen Dilemmas bekundete, in das der russische Angriff auf die Ukraine den Westen und vielmehr noch ihn selbst stürze. In der FAZ reagiert Simon Strauss empört: "Das, was Habermas' Wortmeldung so zweifelhaft macht, ist nicht sein oberlehrerhafter Aufruf zur Mäßigung, nicht seine widersprüchliche Charakterisierung des russischen Präsidenten (in einem Absatz wird er als 'rational kalkulierender Machtmensch', im nächsten als 'unberechenbar' vorgestellt), nicht seine reflexhafte Verteidigung einer sozialdemokratischen Politik, die von heute aus gesehen alles andere als rational gehandelt hat - es sind vor allem die rhetorisch ummantelten, fahrlässigen Denunziationen der ukrainischen Regierung. Nicht nur Selenskyjs 'gekonnte Inszenierung' wird abwertend angeführt, sondern auch dessen eindrucksvolle Verzweiflungsrede vor dem Deutschen Bundestag als 'moralischer Ordnungsruf' desavouiert. Habermas versteigt sich sogar dazu, auf ukrainischer Seite den Versuch einer 'moralischen Erpressung' festzustellen."

Olaf Scholz könnte nichts besseres passieren, als von Jürgen Habermas, dem Philosophen der abwägenden Vernunft, verteidigt zu werden, meint dagegen Kurt Kister in der SZ. Er hat es aber auch nötig, denn bei Scholz verschmelze die politische Erfahrung zu einem intransparent sprachlosen Kern: "Dies ist in Zeiten, in denen dank digitaler Jederzeit-Technik das ins Mikrofon gesprochene Wort, der inszenierte Auftritt, das nächtliche Video eigentlich zu den schweren Waffen zählen, besonders misslich. Da gibt es einerseits den ukrainischen Präsidenten, der zu Ostern gravitätisch und scheinbar diskret von hinten gefilmt durch eine wie von Kerzen erleuchtete, eigentlich dunkle Kirche schreitet. Der Mann muss nicht einmal sprechen, weil dies eine zur viralen Verbreitung geschaffene Ikonografie ist, die man als Muslim, Christin oder Atheist gleichermaßen versteht. Und dann gibt es andererseits Olaf Scholz, der an einem Stehpult seine Waffenexportpolitik in einer Weise einkreist, bei der man nicht weiß, ob das Pult, an dem Scholz spricht, nicht mit mehr Leben erfüllt sein könnte als der Sprechende."

Im Tagesspiegel schätzt Gregor Dotzauer dagegen die "wohltuende Abgeklärtheit" und bezwingende Klarheit: "Wenn in ferner Zukunft einmal ein Dokument gesucht wird, das der heillosen Zerrissenheit dieser Zeit exemplarisch Ausdruck verleiht: Habermas hat es geschrieben." Thomas Ribi resümiert in der NZZ respektvoll Habermas' Beitrag, ahnt aber vor allem die Ausweglosigkeit: "Mit der 'Verhängung drastischer Sanktionen', das ist für Habermas klar, hätten die westlichen Staaten keinen Zweifel an ihrer faktischen Kriegsbeteiligung gelassen. Umso mehr müssten sie jeden weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen. Und zwar weil der Entscheid darüber, wo die Grenze des faktischen Kriegseintritts überschritten sei, nicht bei ihnen liege, sondern bei Putin. Krieg, heißt das, folgt nicht dem Recht, sondern den Regeln, die die Macht setzt."

Im taz-Interview mit Sebastian Moll erklärt Yascha Mounk noch einmal kurz und bündig, warum viele Formen der Identitätspolitik kontraproduktiv sind: "Die liberale Demokratie ist nicht naturgegeben, und damit wir sie bewahren können, brauchen wir Institutionen, Schulen, Medien, Universitäten, die über diese Gruppen hinaus ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugen."
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Europa

Der im litauischen Exil lebende russische Journalist Fjodor Krascheninnikow macht sich in der taz kaum Hoffnungen auf ein baldiges Ende von Wladimir Putins Herrschaft. Im Gegenteil fürchtet er, dass der Krieg gegen die Ukraine Putins Autokratie noch stabilisieren wird. Und auch für die Ukraine sieht er schwarz: "Die Tragödie von Butscha hat die Welt aufgewühlt. Im Kreml aber hat man allem Anschein nach aus dieser Geschichte ganz andere Schlüsse gezogen: Um weitere Skandale dieser Art zu vermeiden, hat man beschlossen, einmal eroberte ukrainische Gebiete nie mehr zu verlassen - jedenfalls nicht freiwillig. Deshalb werden in den nunmehr besetzten Gebieten alle Maßnahmen ergriffen, um sie Russland möglichst schnell einzuverleiben. So gesehen ist ein sowohl militärischer als auch politischer Sieg Putins leider schon jetzt eine realistischere Perspektive als seine Niederlage."

In der FAZ beschreibt Kerstin Holm das Zerwürfnis, vor dem die kritische russische Intelligenzija steht. In den Westen gehen können vor allem Künstler oder Akademiker mit guten Beziehungen. Sie werden durch Konformisten ersetzt: "Die meisten Intellektuellen und Künstler aber sind im Land geblieben. Sie dürfen, wenn sie nicht ihre Anstellung verlieren, Auftrittsverbot bekommen oder ins Gefängnis gesperrt werden wollen, den Krieg nicht kritisieren. In den sozialen Netzwerken werfen Emigranten und Dagebliebene einander nun oft Kollaboration vor beziehungsweise Flucht ins vergleichsweise leichte Leben im Westen. Dabei wäre Solidarität unter Putin-Gegnern, auch über Landesgrenzen hinaus, besonders wichtig, finden oppositionelle Intellektuelle, die trotz Möglichkeiten der Ausreise sich bewusst zum Bleiben entschieden haben wie der Petersburger Stadtparlamentarier Vitali Bovar oder jene Petersburger Literaturwissenschaftlerin, die darum bittet, ihren Namen nicht zu nennen. Nur mit vereinten Kräften, so glauben die beiden, könne man das imperiale Regime in Russland mittelfristig demontieren."

In einem Offenen Brief an Olaf Scholz melden sich auf Emma 28 AbweichlerInnen zu Wort, darunter Svenja Flaßpöhler, Alexander Kluge, Dieter Nuhr, Alice Schwarzer, Antje Vollmer, Martin Walser, Harald Welzer, Ranga Yogeshwar und Juli Zeh. Sie finden, dass auch für die Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung Grenzen habe: "Zwei solche Grenzlinien sind nach unserer Überzeugung jetzt erreicht: Erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen. Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis."

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In Lothringen und in Saarland ist die wirtschaftliche Lage einigermaßen vergleichbar, beide Regionen leiden unter dem Ende des Bergbaus, aber Frankreich wählt dort rechtsradikal, Deutschland sozialdemokratisch, stellt Nils Minkmar in der SZ fest und überlegt: "So muss also auch in Frankreich ein weiterer, ein kultureller und mentaler Faktor hinzukommen, der die objektiv vorhandenen sozialen Missstände so kanalisiert, dass allein die extreme Rechte die politische Antwort zu sein scheint: der Rassismus. Um ihn zu erkennen, genügt der Fokus auf die 'abgehängten' und sozial Deklassierten nicht, denn es handelt sich bei diesem modernen rassistischen Diskurs um ein Projekt intellektueller und wirtschaftlicher Eliten. Ihr zeitgemäß verpackter Rassismus wirkt als ideologischer Kitt für reaktionäre Menschen in allen Schichten und macht sich die Energie ihres sozialen Protests zu eigen. Der Rassismus hat in Frankreich solche Ausmaße angenommen, dass eine Marine Le Pen ihm kaum noch offen zu thematisieren braucht."
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Urheberrecht

23 Jahre dauert nun schon der Rechtsstreit zwischen Kraftwerk und Moses Pelham um zwei Sekunden aus dem Kraftwerk-Track "Metall auf Metall", den Pelham zusammen mit Sabrina Setlur in dem Song "Nur mir" zur Dauerschleife loopte. Jetzt hat es am Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG) Hamburg eine weitere Entscheidung gegeben, die Frédéric Döhl im Tagesspiegel als bahnbrechend beschreibt, weil sie den neu geschaffen Pastiche-Begriff auf den Fall nach dieser langen Odyssee anwendet: "Und - das ist die große Nachricht - sie wird weitergehen, zurück zum Bundesgerichtshof (BGH), bei dem die Sache bereits vier Mal war. Und aller Voraussicht nach erneut zum Europäischen Gerichtshof (EuGH).
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Stichwörter: Loop, Urheberrecht, Kraftwerk

Medien

In der FAS fragt sich auch der frühere Piraten-Politiker Christopher Lauer, warum ausgerechnet Elon Musk das Verantwortungsgefühl mitbringen sollte, das man für das Betreiben von Twitter benötigt: "Aus eigener Erfahrung aus mehr als zwanzig Jahren Internetnutzung kann ich berichten, dass das Thema freie Meinungsäußerung eigentlich und ausschließlich nur von denen vorgebracht wird, die mit Kritik an dem Quatsch, den sie gerade ins Netz geblasen haben, nicht klarkommen. Es scheint ein weitverbreitetes Problem zu sein, dass Menschen das Recht, ihre Meinung frei zu äußern, mit einem Phantasierecht verwechseln, nicht kritisiert oder ignoriert werden zu dürfen. Schaut man sich an, wie Musk mit Menschen umgeht, die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen, um ihn oder seine Unternehmen zu kritisieren oder auch nur Fragen zu stellen, muten seine Anwandlungen, die Meinungsfreiheit wie eine Monstranz vor sich herzutragen, ein wenig wie Satire an."

Elon Musk liebt Twitter und er hasst Regeln, hält der Medienwissenschaftler Michael Seemann in der taz fest, der Musk nicht nur als Meinungsfreiheitsabsolutisten unheimlich findet, sondern auch als Unternehmer: "Der hohe Kurs der Tesla-Aktie ist der wichtigste Grund für Musks Reichtum. Die ungeheure Marktkapitalisierung des Unternehmens - aktuell eine knappe Billion Dollar - ist schwer zu erklären. Tesla musste die zehn nächstgrößeren Autohersteller der Welt komplett ersetzen und dann noch ordentlich wachsen, um diesen Investorenerwartungen zu entsprechen. Dabei verkauft Tesla derzeit nicht mal eine Million Fahrzeuge im Jahr. Allein VW verkauft zehnmal so viele. Der Bloomberg-Kolumnist Matt Levine hat die sogenannte Elon-Markt-Hypothese aufgestellt: 'So wie der Finanzmarkt derzeit funktioniert, berechnet sich der Wert von Anlangen nicht nach ihren Einnahmen, sondern nach der (assoziativen) Nähe zu Elon Musk.' Das gilt nicht nur für den Aktienmarkt, sondern auch für Musks Engagement in Kryptowährungen. Sein Hypen und Fallenlassen von Bitcoin und Dogecoin führte immer wieder zu enormen Kursschwüngen, auch wenn dieses Engagement hauptsächlich aus wenigen nur halb ernstgemeinten Tweets bestand."

Aber auch mit Anarchie habe das, was Musk vorschwebe, nichts zu tun, betont Olivier Hamant in Le Monde: "Wie der Journalist und Theoretiker Pierre-Joseph Proudhon sagte, ist Anarchie 'Ordnung ohne Macht'. Im Gegensatz dazu schlägt Elon Musk vor, jede Meinung in der Unmittelbarkeit seines sozialen Netzwerks zu teilen. Es handelt sich also um das genaue Gegenteil: Unordnung mit Macht."
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