9punkt - Die Debattenrundschau

Das Freizeitverhalten der Gesundheitsämter

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.05.2022. Ein Team von Reuters-Journalisten ist nach Butscha zurückgekehrt und macht einige der Täter namhaft. Oxana Matiychuk in der SZ und Herfried Münkler in der NZZ fragen, wie die Brutalität der russischen Soldaten zu erklären ist. Die Moscow Times erklärt, wie die Moskauer Eliten ihr schmutziges Geld in Zeiten der Sanktionen waschen. Laut New York Times ist die Übersterblichkeit durch Corona dreimal so hoch wie bisher bekannt: 15 Millionen Tote.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.05.2022 finden Sie hier

Europa

Ein Team von Reuters-Journalisten ist nach Butscha zurückgekehrt, hat mit Zivilisten gesprochen und Dokumente ausgewertet, die vor Ort gefunden wurden, darunter den Ausweis eines Soldaten und einen Liebesbrief, den ein anderer russischer Soldat in Butscha zurückließ - die Reporter konnten so einige der Soldaten der für die Massaker verantwortlichen Truppen sogar namhaft machen. Auffällig ist, dass alle Truppen eine ziemlich direkte Verbindung zu Putin selbst haben: "Wie aus einem am Tatort gefundenen Ausweis hervorgeht, befanden sich unter den Besatzungstruppen auch Angehörige der russischen Sicherheitstruppe Vityaz. Die Einheit, deren Anwesenheit in Butscha hier zum ersten Mal aufgedeckt wird, untersteht dem Kommando der Russischen Nationalgarde. Ihr Chef, Wiktor Solotow, der sich für diesen Artikel nicht äußern wollte, ist ein ehemaliger Leibwächter Putins und untersteht direkt dem russischen Präsidenten." Auch tschetschenische Truppen waren vor Ort und wohl an den Massakern beteiligt.

Den Unterzeichnern des Emma-Briefs und anderen, die eine Kapitulation der Ukraine fordern, legt Dominic Johnson in der taz ein paar Wahrheiten ans Herz: "Das 'Gleichgewicht des Schreckens' zwischen Russland und dem Westen ist intakt. Aber es muss eben auch aufrechterhalten werden. In Moskau wird zwar täglich mit Atomraketen auf Berlin oder London gedroht, aber in Reaktion darauf die Ukraine fallenzulassen wäre falsch: dann wäre die Drohung erfolgreich gewesen, weitere Drohungen würden folgen. Ebenso würde die Hinnahme eines russischen Sieges in der Ukraine den russischen Überfall im Nachhinein legitimieren, weitere Überfälle auf andere Länder würden folgen."

"Die sadistische und fantasievolle Lust an der Gewalt, am Foltern der Zivilisten durch die russischen Soldaten erscheint für viele Menschen 'im Westen' unfassbar", schreibt die Schriftstellerin Oxana Matiychuk heute in ihrem Tagebuch aus der Ukraine (SZ): "Doch in Wirklichkeit ist sie nicht neu, sondern steht in der Nachfolge der russländischen zaristischen und später sowjetischen 'Tradition'. Obwohl man an dieser Stelle relativieren muss: Eine ähnliche 'Tradition' gab es überall in Europa, sonst hätten wir heute keine Museen für mittelalterliche Folter. Auch die Inquisition soll außerordentlich erfinderisch ihren realen oder vermeintlichen Gegnern die Grundlagen des wahren Glaubens 'vermittelt' haben. Das humanistische und aufklärerische Gedankengut setzte sich im Abendland nach und nach durch, doch je weiter östlicher, desto weniger flächendeckend geschah das. Man soll sich keiner Illusion hingeben: Die humanistische Bildung war keine Grundlage des sowjetischen Bildungssystems."

Plünderungen verstoßen nicht nur gegen das Kriegsvölkerrecht, sondern schwächen auch die Disziplin der Truppen, erinnert Herfried Münkler in der NZZ. Aber die russische Militärführung sieht dem Beutemachen ihrer Soldaten tatenlos zu. Ein"Grund dafür könnte sein, dass die russische Führung infolge erheblicher logistischer Mängel ihre Soldaten nur schlecht versorgen kann und deswegen die Plünderungen hinnimmt. Und ein dritter Grund schließlich mag darin bestehen, dass sie mit der Lizenz zum Beutemachen den Kampfeswillen ihrer offensichtlich nicht besonders motivierten Soldaten heben will. Das jedenfalls sind alternative Erklärungen zum Verdikt von der notorischen Unzivilisiertheit des russischen Militärs. Was freilich nicht heißt, dass Zivilitätsdefizite beim russischen Agieren in der Ukraine keine Rolle spielten."

Die Ukraine hat eine Zukunft, Russlands Zukunft hat Putin zerstört, schreibt Lena Gorelik, deutsche Schriftstellerin mit russischen Wurzeln, ebenfalls in der SZ. Aber nicht alle RussInnen sind Putin-Anhänger, mahnt sie: "Schätzungen zufolge sind es mehr als 200 000 Menschen, die Russland bereits verlassen haben, und viele mehr, die zu fliehen versuchen, und die im Ausland - auch hierzulande - alles andere als mit offenen Armen empfangen werden; eine Fluchtbewegung, die unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung bleibt. Genauso wie häufig Protestbewegungen aus Russland unter dem Radar bleiben, seien es Sabotageakte gegen die russische Armee, in der Öffentlichkeit erhobene Stimmen und manchmal das von Jugendlichen 'Nein zum Krieg' gesprühte Graffito - kleine Aktionen, die meist große Repressionen nach sich ziehen."

Sehr viel retweetet wird ein Artikel von Yevgenia Albats in der Moscow Times. Ihr ist es gelungen, mit einigen Angehörigen der höheren Stände in Moskau zu sprechen, die sich sämtlich anonym und recht weinerlich äußern. Mit dem Krieg ist eigentlich keiner einverstanden, schon aus höchstpersönlichen Erwägungen: "Die jungen Leute sind zornig. Für viele sind ihre Geschäfte zusammengebrochen, ihre Ersparnisse wurden aufgrund von Sanktionen in den Banken eingefroren, und sie können ihr schmutziges Geld nicht mehr ins Ausland schicken. Da der Geldverkehr, der Bargeldmarkt und andere Dinge im Zusammenhang mit Finanzen ebenfalls von den Tschekisten ([Sicherheitsdiensten) kontrolliert werden, hatten viele von ihnen bereits in Kryptowährungen investiert. Aber aufgrund der Sanktionen wurden sie von den großen Kryptowährungsbörsen abgeschnitten." Allerdings haben sie auch Wege gefunden, die Sanktionen zu umgehen: Sie kaufen Goldbarren, fliegen damit nach Dubai und tauschen sie dort um.

Hannover hat Herrenhausen, das Steinhuder Meer, und den "Wind of Change" der Scorpions, der hier permanent durch die Fußgängerzone weht. Und dann ist da Gerhard Schröder, der in der SPD doch bis zuletzt äußerst einflussreich war und seine Strippen schon in den Neunzigern besonders gern in Hannover zog. Zur Moskau-Connection in Hannover gehört auch die Migrationsbeauftragte des Landes, eine gewisse Doris Schröder-Köpf, die sich gern mal bei Sputnik äußerte, schreibt Reinhard Bingener in der FAZ: "Das war schon damals ein eklatanter Verstoß gegen die guten Sitten einer wehrhaften Demokratie. Dass Schröder-Köpf... ihr damaliges Handeln auch heute noch als 'ganz normal' bezeichnet und im Namen des Landes nun ukrainische Flüchtlinge begrüßt, ist ein untragbarer Zustand."

Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sollen inzwischen mehr als 600.000 Flüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland angekommen sein, schreibt der Politologe Friedrich Püttmann, der im Tagesspiegel am Beispiel der der syrischen Flüchtlinge in der Türkei das Narrativ überprüft, dass kulturelle Ähnlichkeit die Willkommenskultur beeinflusst: "Die anfängliche Aufnahmebereitschaft ist mit der Zeit einem Gefühl der kulturellen Bedrohung gewichen, und inzwischen hat sich die politische Stimmung in dem wirtschaftlich krisengebeutelten Land deutlich gewendet. Eine große Mehrheit der Türkinnen und Türken verlangt die baldige Rückkehr der Geflüchteten nach Syrien - trotz des anhaltenden Krieges dort. Und zwar selbst unter jenen, die wie die Syrerinnen und Syrer Arabisch oder Kurdisch als Muttersprache sprechen oder sich als praktizierende Muslime verstehen. Der Grund dafür ist, dass sich zwar Gemeinsamkeiten zwischen Menschen von außen bestimmen lassen mögen, nicht aber das subjektive Empfinden von Ähnlichkeit."

Ach, und außerdem: Wolodimir Selenski hat Frank-Walter Steinmeier doch noch angerufen und ihn nach Kiew eingeladen, meldet etwa das Handelsblatt. Wladimir Putin hat sich beim israelischen Premierminister Naftali Bennett für die antisemistischen Äußerungen seines Außenministers Sergej Lawrow entschuldigt, meldet die New York Times. Und Alexander Lukaschenko findet laut AP, dass sich der Krieg jetzt doch ein bisschen sehr in die Länge zieht. Und Atombombenabwürfe in seiner Nähe wären ihm auch nicht so genehm.

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Die Überreste der französischen Linken - Sozialisten, Kommunisten, Ökologen - haben sich der "France Insoumise" des Linkspopulisten (und -putinisten) Jean-Luc Mélenchon untergeordnet, berichtet unter anderem Michaela Wiegel in der FAZ. Gemeinsam ziehen sie nun in die Parlamentswahlen im Juni. "Mélenchon hat dabei die öffentliche Debatte mit der irreführenden Vorstellung manipuliert, die Franzosen könnten den künftigen Regierungschef in direkter Wahl bestimmen. Seine Bündnispartner mussten unterzeichnen, dass sie ihn als Premierminister wollen. Kaum war er mit einem Stimmanteil von knapp 22 Prozent aus der Präsidentenwahl ausgeschieden, erhob er die Parlamentswahlen zur 'dritten Runde'."
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Kulturpolitik

Die außergerichtlichen Vergleichs-Verhandlungen mit den Hohenzollern sind gescheitert, meldet Jörg Häntzschel in der SZ: "Das geht aus einem Schreiben des brandenburgischen Finanzministeriums an das Verwaltungsgericht Potsdam hervor, über das der Berliner Tagesspiegel berichtet hat. Vertreter des Bunds und der Länder Berlin und Brandenburg haben laut dem Bericht beschlossen, die Verhandlungen, die seit 2014 geführt und 2019 unterbrochen wurden, nicht fortzusetzen."

Das "anti-adelige Ressentiment in diesem Land hat sich wieder einmal durchgesetzt", ätzt Tilman Krause in der Welt. Dabei habe Georg Friedrich Prinz von Preußen alles für eine gütliche Einigung getan und auch nicht mehr als "lächerliche 1,4 Millionen Euro" verlangt. Aber: "Dieses Land, in dem die Ideologen, die immer ganz genau wissen, was ist und sein soll, den Ton angeben, ist zu einem Aushandeln von Konflikten mit der einstmals herrschenden Klasse auch über hundert Jahre nach dem Untergang der Monarchie noch nicht reif."
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Wissenschaft

Die Inzidenzen gehen in Hundertersätzen zurück, am Montag meldete das RKI nicht mal einen Todesfall für den Tag zuvor. Ist Corona besiegt? Weit gefehlt, meint Werner Bartens in der SZ und fragt: "Wer testet sich denn derzeit noch freiwillig?" Überhaupt "konnte man sich samstags und sonntags kaum irgendwo testen lassen, deshalb geben die meisten Gesundheitsämter und Landesbehörden am Wochenende auch keine Zahlen an das RKI weiter, deswegen melden etliche Landkreise ihre Zahlen nicht mehr, oder erst gesammelt und verspätet - und deshalb taucht es eben nicht am Montag in der Statistik auf, wenn jemand, dem das Freizeitverhalten der Gesundheitsämter egal ist, am Sonntag an Corona stirbt. Statt damit freundlicherweise bis Montag zu warten, wenn er von der gut erholten Fachkraft ordnungsgemäß mitgezählt werden kann. Elf von 16 Bundesländern haben am vergangenen Wochenende offenbar keine Zahlen gemeldet, wie lückenhaft die übrigen verstreut gemeldeten Angaben waren, lässt sich nur vermuten."

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat mal nachgezählt. Die Übersterblichkeit durch Covid während der bisherigen Pandemie lag bei 15 Millionen Toten weltweit, berichten Benjamin Mueller und Stephanie Nolen in der New York Times. Bisher hatte man 6 Millionen geschätzt. Aber manche Staaten waren mit offiziellen Zahlen ein bisschen schüchtern: "In Mexiko war die Zahl der überzähligen Todesfälle in den ersten beiden Jahren der Pandemie doppelt so hoch wie die offizielle Zahl der Covid-Todesfälle der Regierung, so die WHO. In Ägypten war die Zahl der überzähligen Todesfälle etwa zwölfmal so hoch wie die offizielle Covid-Zahl. In Pakistan war die Zahl achtmal so hoch." Eine internationale Expertengruppe hat monatelang mit verschiedenen statistischen Methoden an den Zahlen gearbeitet, so die Artikelautoren. "Die Zahlen lagen seit Januar vor, aber ihre Veröffentlichung wurde durch Einwände Indiens verzögert, das die Berechnungsmethode für die Zahl seiner Bürger anzweifelt. Den Schätzungen der WHO zufolge entfiel fast ein Drittel der weltweit überzähligen Todesfälle - 4,7 Millionen - auf Indien."
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