9punkt - Die Debattenrundschau

Immer groteskere Formen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.05.2022. Am Montag ist "Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus". Putin will ihn auch in Mariupol begehen, berichtet die taz. taz und Guardian erzählen, wie Putin diesen Tag immer mehr zu einer Propagandashow für seine eigene Geschichtsversion umbaute. Der russische Begriff dafür ist: Pobedobesie, "Siegeswahn". Der Musiker Wolfgang Müller, Autor einer wichtigen Replik auf den Emma-Brief, wendet sich in der NZZ gegen eine Rhetorik der Angst. In der FAZ fragt Hubertus Knabe, wie es eigentlich um das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst steht. HPD.de erinnert an die Beschneidungsdebatte vor zehn Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.05.2022 finden Sie hier

Europa

Am Montag ist für Putin "Tag des Sieges", auch wenn er weniger zu feiern hat, als er sich ausgemalt hatte. Feiern möchte er leider auch in Mariupol, berichtet  Bernhard Clasen in der taz: "Für den 9. Mai, den 'Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus', plant Russland große Feierlichkeiten in Mariupol. In Windeseile werden zweisprachige gegen russischsprachige Schilder ausgetauscht. Aus Moskau ist mit Sergei Kirienko, dem Vizechef der Präsidialadministration, Putins Ukrainebeauftragter in der Stadt eingetroffen. Seine Aufgabe sei es, so die russischsprachige Plattform von BBC, die Feierlichkeiten vorzubereiten."

Der von Putin immer aufwendiger inszenierte "Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus" ist die deutlichste Anknüpfung an die Zeit der Sowjetunion, schreibt der belarussische, in Deutschland lehrende Philosoph Alexander Friedman ebenfalls in der taz: "Während eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Krieg und seinen Schrecken grundsätzlich unerwünscht war, galt das offizielle russische, im Grunde genommen den politischen Bedürfnissen der russischen Führung angepasste sowjetische Narrativ des 'Großen Vaterländischen Krieges' als die einzig richtige, ja einzig mögliche Darstellung der Kriegsgeschichte, die den postsowjetischen Staaten aufgebürdet werden und deren Anbindung an Russland stärken sollte."

Ein wahrer "Siegeswahn", russisch Pobedobesie, habe seit Putin um sich gegriffen, so Friedman. Über ihn schreibt auch der Osteuropakorrespondent des Guardian, Shaun Walker. "Das Phänomen nahm immer groteskere Formen an: Schulen veranstalteten Aufführungen, bei denen sich die Kinder als sowjetische Soldaten verkleideten; Menschen, die als gefangene Nazis posierten, wurden durch die Straßen geführt. Immer mehr Gegner des modernen Russland wurden als Nazis, Neonazis oder Nazi-Komplizen gebrandmarkt." Dazu gehört dann natürlich auch die von Putin betriebene Fälschung der Gechichte: "In modernen russischen Darstellungen der sowjetischen Kriegsanstrengungen werden unbequeme Aspekte wie der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und die anschließende Aufteilung Europas oder die interne Deportation ganzer ethnischer Gruppen durch Stalins Regime während des Krieges stillschweigend übergangen."

Und das gleichgeschaltete russische Fernsehen liefert die Propaganda: "Viele Journalist*innen in Russland werden als Mediensoldaten gesehen, die von oben diktierte Botschaften unters Volk bringen sollen", schreibt taz-Korrespondentin Inna Hartwich. "Weil sie beim Staat arbeiten und dabei sehr gut verdienen, müssen sie die Arbeit der Regierung unterstützen und in ihrer Berichterstattung die Entscheidungen des Staates mittragen. Deshalb sprechen die Reporter*innen im Staats-TV stets von 'wir', wenn sie über die russische Regierung berichten."

Ian Garner sammelt auf Twitter russische Propagandavideos. Ob es diese Manifestation allerdings in das offizielle Programm des "Tags des Sieges" schafft, ist fraglich:


In der Berliner Zeitung - immer mehr eine "Stimme des Ostens" - macht der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow auf die Verantwortung der EU für Putins Krieg aufmerksam: "Ich bin nicht bereit, dass man die Ostpolitik jetzt einfach entsorgt, nur weil Wladimir Putin imperiale Kriege führt und weil man jahrzehntelang mit der russischen Seite keine konsequente Agenda zu einer friedlichen postsowjetischen Welt entwickelt hat. Die Europäische Gemeinschaft hat gemeinsam nicht deutlich gemacht, was man eigentlich will."

Ulrich Speck findet allerdings in der NZZ: "Die SPD bringt den meisten Ballast mit in eine Epoche, in der es europäische Sicherheit einstweilen nur noch gegen Russland geben kann, wie auch Scholz in seiner Zeitenwende-Rede eingeräumt hat. Über viele Jahre haben Schröder, Steinmeier und Gabriel die Energiebeziehung zwischen Russland und Deutschland vorangetrieben und sie mit harten Bandagen gegen Kritiker verteidigt."

Der Musiker Wolfgang Müller hat eine viel zitierte Erwiderung auf den Emma-Brief geschrieben (unser Resümee). Im Interview mit Michael Schilliger in der NZZ bekräftigt er nochmal seine Kritik an der Angst-Rhetorik des Briefs: "Die Drohung Putins ist ja so unberechenbar, dass wir eigentlich kaum etwas tun können, um sie zu entfernen. Diesmal ist es ein Panzer, den man an die Ukraine liefert. Das nächste Mal droht er mit dem Atomschlag, wenn wir das Öl nicht mehr in Russland einkaufen. Israel muss seit seiner Gründung damit leben, dass es durchgehend mit der Vernichtung bedroht wird. Damit müssen wir vielleicht auch lernen zu leben. Mit dem Brief geschieht nun das Gegenteil."

Von Israel aus betrachtet ist die lange Zeit zögerliche Haltung der Bundesregierung befremdlich, schreibt Richard C. Schneider bei libmod.de: "Das Zögern des Kanzlers wird hier aber natürlich auch in einem historischen Kontext gesehen. Haben die Deutschen nicht immer und immer wieder betont, sie hätten aus der Geschichte gelernt? Bei jeder Gelegenheit wird 'Nie wieder!' und 'Wehret den Anfängen!' gerufen. Aber hat sich irgendjemand mal wirklich Gedanken gemacht, was das eigentlich bedeutet? Dass man Tyrannen mit Macht, auch militärischer Macht, entgegentreten muss und nicht mit Appeasementverhalten? Die meisten Israelis können die deutsche Haltung nicht verstehen."

Außerdem: F.C. Delius zeichnet in der SZ ein boshaftes Porträt Friedrich Merz', der es nun endlich geschafft habe, den Parteivorsitz der CDU zu übernehmen und dabei "wie nebenbei die Auslösung des 3. Weltkriegs, des Atomkriegs zumindest in Kauf zu nehmen, indem er die Regierung vor sich hertreibt?" Und ebenfalls in der SZ fordert A.L. Kennedy, satirisch gemeint, "Rettet Londongrad".
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Kulturpolitik

In Berlin-Karlshorst gibt es ein Deutsch-Russisches Museum (Website), dessen Gremien mit Vertretern verschiedener Länder besetzt sind. Hubertus Knabe sieht sie sich in der FAZ ein bisschen genauer an. Das Museum hat sich von Putins Krieg zwar distanziert, aber im Vorstand sitzt neben belarussischen Vertretern auch ein ergebener Propagandist Putins, Wladimir Lukin. (Der ukrainische Vertreter hat seit der Besetzung der Krim nicht an Tagungen der Museumsgremien teilgenommen.) Das noch zu DDR-Zeiten gegründete ehemalige "Museum der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg" könnte auch deutschen Behörden und Staatskulturministerin Claudia Roth Kopfzerbrechen bereiten, so Knabe: "Die Frage, ob es Pläne gebe, die Trägerschaft des Museums zu verändern, und wenn ja, in welcher Form, lassen die Verantwortlichen unbeantwortet. Die Pressestellen von Annalena Baerbock und Claudia Roth teilen lediglich mit, dass die Sitzungen des Trägervereins 'bis auf Weiteres' ausgesetzt seien."
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Politik

Die in den USA drohende Entscheidung des Supreme Court gegen das bisherige Abtreibungsrecht hätte leider auch international Signalwirkung, fürchtet Patricia Hecht in der taz: "Die USA nun sind - ob gerechtfertigt oder nicht - in Bezug auf Menschenrechte noch immer ein Anker vor allem für westliche Demokratien. Kippen die USA, kippt ein immens wichtiger Player im globalen Tauziehen um Frauenrechte. Für viele lateinamerikanische Staaten mit restriktiver Gesetzgebung beispielsweise ebenso wie für das rechts regierte Polen wäre es ein Leichtes, mit Blick auf die USA das eigene Verbot dann auch zu beklatschen. Auch die deutsche Rechte und die sogenannte 'Lebensschutz'-Szene würde mindestens diskursiv vom Rückenwind enorm profitieren."
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Religion

Vor zehn Jahren entschied das Kölner Landgericht, dass die Beschneidung eines Jungen Körperverletzung sei. Das Urteil löste eine kurze, aber erbitterte Debatte aus (hier die Perlentaucher-Übersicht der Debatte), die Bundesregierung und Bundestag eilends durch ein Gesetz beendete, mit dem dieser Eingriff den Eltern ausdrücklich gestattet wird. Der Richter und Kolumnist Thomas Fischer hält das Kölner Urteil im Gespräch mit Daniela Wakonigg von hpd.de bis heute für richtig: "Wer sich beschneiden lassen will, aus welchen Gründen auch immer, darf das selbstverständlich tun. Es geht darum, ob Eltern/Sorgeberechtigten das 'Recht' einzuräumen ist, ihre eigenen (!) Moral- oder Religionsvorstellungen mit Gewalt durch nicht revidierbare körperliche Eingriffe an ihren Kindern zu 'verwirklichen'." Zum Jahrestag des Urteils sind einige Veranstaltungen geplant, mehr hier.
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