9punkt - Die Debattenrundschau

Unter dem Jubel des Westens

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.05.2022. Heute ist ein Gedenktag, an den man sich lange erinnern wird. Von einem als Sieg getünchten Einhalten bis zur Generalmobilmachung ist alles denkbar, schreibt taz-Korrespondentin Inna Hartwich. Viele beschäftigen sich mit Putins Geschichtsklitterungen. In der FAZ spricht Claus Leggewie aber auch Tabuzonen im deutschen Blick auf die Geschichte an. Im Standard bleibt Franzobel bei seiner pazifistischen Position. Im Tagesspiegel fragt Antje Rávik Strubel, was die Aufforderung, mit Putin Frieden zu machen, eigentlich bedeuten soll: "Dass Putin die Ukraine dem Erdboden gleichmachen darf, weil er eine Atommacht ist?" Im Observer fordert Nick Cohen Sanktionen gegen Rupert Murdoch. Aktualisierung von 9.30: Putins Rede blieb vage, Link zu Live-Berichten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.05.2022 finden Sie hier

Europa

Aktualisierung von 9.30 Uhr: Putins Rede scheint recht vage gewesen zu sein, mehr im Live-Bericht beim ZDF. Eine Generalmobilmachung wird offenbar nicht ausgerufen. Hier erste Eindrücke der SZ. Und hier die Live-Berichterstattung der BBC. Der Kreml hat Putins Redemanuspript bereits auf Russisch online gestellt.

In dem ostukrainischen Dorf Bilohoriwka zerstörte eine russische Bombe eine Schule, in der neunzig Menschen Schutz gesucht hatten, 62 werden laut Berichten (hier der Bericht in der taz) noch unter den Trümmern vermutet. In Moskau ist heute  "Tag des Sieges".


Nervosität herrscht in Moskau vor den Paraden. Aber keiner weiß, was Putin ausheckt. Von einem als Sieg getünchten Einhalten bis zur Generalmobilmachung sei alles denkbar, schreibt taz-Korrespondentin Inna Hartwich. Aber eines ist klar: "Der Kreml kapert und kontrolliert die Erinnerung, er macht mit dem vereinfachten, plakativen Wissen über den Zweiten Weltkrieg Politik. Putin hat Geschichte zur treibenden Kraft seines Handelns gemacht und legitimiert dieses damit. '1941-2022' steht derzeit auf manchen Plakaten, so als befände sich Russland immer noch im Krieg, als hätte der Kampf gegen das absolute Böse, den Faschismus, nie aufgehört."

Die taz bringt eine deutsch-russische Solidaritätsausgabe mit der Nowaja Gaseta. Hier schreibt Julia Latynina über den "Tag des Sieges". Die heutige Brutalität der russischen Kriegsführung hat Wurzeln, die in den Stalinismus zurückreichen, schreibt sie. Stalin verheizte seine Soldaten zu Millionen, diese rächten sich an der Zivilbevölkerung der Feinde oder der Freunde: "Der ganz normale Soldat, von den Generälen als Kanonenfutter verheizt, ließ seinen Zorn an der Bevölkerung aus. Auf deutschem Staatsgebiet vergewaltigten sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft geratene russische Frauen und befreite KZ-Häftlinge. In dem Roman 'Die 25. Stunde' des rumänischen Schriftstellers Constantin Virgil Gheorghiu sind die Massenvergewaltigungen und -morde, die die Stalinschen 'Befreier' auf dem Gebiet Rumäniens begangen haben, sehr genau beschrieben. Auf diesem Fundament aus Knochen, Blut und Fleisch baut Putin seinen Kult des 9. Mai auf - den Kult des Großen Vaterländischen Krieges."

Stalin selbst war übrigens nicht so ein Fan dieser Siegesparaden, schreibt FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt. Er störte sich "an der Erinnerung an den Krieg und dessen Verluste; dass Hitlers Vernichtungskrieg wohl 26,6 Millionen Menschen in der Sowjetunion den Tod brachte, wurde erst allmählich bekannt. Niemand sollte Stalins Entscheidungen im und vor dem Krieg hinterfragen; im sogenannten Großen Terror hatte er die Rote Armee gleichsam enthaupten lassen und Angriffswarnungen ignoriert."

Jedem, der behauptet, es habe keine Warnungen gegeben und man hätte es nicht kommen sehen können, sei ein Text von Anna Politkowskaja aus dem Jahr 2004 empfohlen, den die taz-Gaseta heute dankenswerter Weise nochmal nachdruckt: "Mit der Ankunft und der Stärkung Putins ist die sowjetische Rache offensichtlich geworden. Diese verdankt sich nicht nur unserer Schlamperei und Apathie, weil uns die schier endlosen Revolutionen haben müde werden lassen. Das alles geschah unter dem Jubel des Westens. Allen voran Silvio Berlusconi - ein regelrechter Liebhaber und Putins wichtigster Anwalt in Europa. Genauso Tony Blair, Gerhard Schröder, Jacques Chirac, nicht zu vergessen George W. Bush aus Übersee. Niemand stand unserem KGB-Mann im Kreml im Weg." Politkowskaja wurde zwei Jahre später im Alter von 47 Jahren als Geburtsgeschenk für Wladimir Putin erschossen.

Der österreichische Autor Franzobel hatte bereits Ende März die Ukraine aufgefordert, sich zu ergeben, um weitere Tote zu verhindern. Im Gespräch mit dem Standard verteidigt er seinen Essay von damals und kritisiert seine Kritiker: "Ihn erschüttere, wie Leute, die ihre berechtigten Ängste vor einem Atomkrieg formulierten, derart niedergemacht würden. 'Wie schnell in unserer friedlichen Gesellschaft die Kriegsbegeisterung Einzug gehalten hat, ist ungeheuerlich. Es gibt überhaupt keinen Raum mehr für Zwischentöne. Dafür hat man Totschlagargumente wie, dass jeder wohlmeinende Ratschlag aus dem Westen einem verwundeten Ukrainer oder einer vergewaltigten Ukrainerin als Gipfel des Zynismus erscheinen mag. Das stimmt natürlich, sollte uns aber moralisch nicht von der Pflicht entbinden, nach friedlichen Lösungen zu suchen.'"

Im Interview mit dem Tagesspiegel fragt sich Antje Rávik Strubel, was die Aufforderung, mit Putin Frieden zu machen, eigentlich bedeuten soll: "Dass Putin die Ukraine dem Erdboden gleichmachen darf, weil er eine Atommacht ist? Und dann? Frieden um jeden Preis scheint mir im Moment keine Lösung zu sein. Waren wir nicht einmal froh, dass Hitler Einhalt geboten wurde? Die Vorstellung, wir sitzen einfach wieder mit Putin an einem Tisch und nehmen eben hin, dass er sein Schreckenssystem ausweitet, finde ich grauenvoll. Ich habe das ungute Gefühl, dass so ein Frieden vor allem uns zur vorläufigen Beruhigung dient. ... Würden die Ukrainer den Krieg jetzt mit Zugeständnissen beenden: Die Menschen würden trotzdem verschleppt, gefoltert, vergewaltigt, ermordet. Das hört nicht einfach auf."

Die Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann ist nach Deutschland emigriert. Im Interview mit Barbara Schweizerhof und Christine Käppeler vom Freitag erzählt sie, welchen Schikanen konkret man ausgesetzt ist, wenn man in Russland als "ausländischer Agent" gebrandmarkt wird: "Man muss alles, was man veröffentlicht, einschließlich aller Kommentare in den sozialen Medien, mit einem langen Etikett versehen. Wäre ich noch in Russland, wäre ich praktisch zum Leben einer Hausfrau verdammt: Man darf nicht unterrichten, niemand lädt einen mehr zu öffentlichen Diskussionen oder Reden ein. Das wäre zwar nicht verboten, aber wer will sich dem aussetzen? Außerdem muss man dem Justizministerium vier Mal jährlich die eigenen Einnahmen und Ausgaben melden. Zu diesem Zweck muss man sich als GmbH registrieren lassen. Wie man eine Person dazu zwingen kann, eine Handelsgesellschaft zu werden, ist mir ein Rätsel ..."

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Sinn Fein hat zwar in Nordirland erstmals in seiner Geschichte die Wahlen gewonnen und spricht bereits von einem Referendum, berichtet Ralf Sotschek in der taz: Eine Vereinigung Irlands sei aber bei weitem nicht ausgemacht: "Laut dem Nordirland-Friedensabkommen vom Karfreitag 1998 liegt ein Referendum darüber im Ermessen des britischen Nordirlandministers. Glaubt er, dass es Erfolgschancen hat, kann er es anberaumen, heißt es vage im Abkommen."
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Medien

Der Westen sollte nicht nur russische Oligarchen mit Sanktionen überziehen, sondern auch Rupert Murdoch, meint Nick Cohen in seiner Observer-Kolumne. Besonders Fox News und sein Moderator Tucker Carlson nutzten den Krieg für schamlose putinistische Propaganda. Trump-Wähler schätzen das, Putin mögen sie lieber als Biden: "Ihre Sehnsucht nach Diktatur ist größer, wie die Unterstützung für die Leugnung legitimer Wahlergebnisse und für die Faschisten, die den Kongress stürmten, zeigt. Der Hass auf die Liberalen an der Macht ist tiefer." Cohen macht keine Umschweife: "Da es sich um ein Medienkonglomerat handelt, wären Sanktionen ein Angriff auf die Redefreiheit. Ich sage das ganz offen, weil so viele Schriftsteller und politische Akteure so tun, als würden sie keine Zensur fordern, wenn sie genau das tun. Doch in diesem Fall ist die Bedrohung der Freiheit minimal. Murdoch würde nicht für die Enthüllung peinlicher Wahrheiten über den Westen bestraft, sondern für die Verbreitung nachweislicher Lügen für eine feindliche ausländische Macht."
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Gesellschaft

Es passieren auch noch schöne Dinge auf dieser Welt:

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Ideen

In der SZ fürchtet der Philosoph Michael Hampe, wir könnten uns anlässlich des Ukrainekrieges in der Illusion wiegen, "hier stünden die Freien und Guten für Gerechtigkeit und Wahrheit und gegen die lügende Despotie ein" und darüber unsere eigene Neigung zu Radikalismus und vor allem unseren Anteil an der Umweltzerstörung vergessen: "Vielleicht kämpfen die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht nur für unsere bestehenden Freiheiten. Sondern auch gegen unsere Selbsttäuschungen und zukünftigen selbst herbeigewählten Unfreiheiten, indem sie die Fluchtwege vor den Illusionen und Grausamkeiten der Despotie offenhalten. Vielleicht, so darf man hoffen, führt eine Verminderung der russischen Militärmacht, wie sie die USA nun in der Ukraine anzustreben scheinen, nicht nur zu einer Beschädigung des russischen Despotismus, sondern auch zu einem Rückgang der totalitären Tendenzen in Ungarn, Polen und den USA selbst." Eine Hoffnung, die Hampe auch gegenüber den Wählern der AfD, des Rassemblement National und Erdogans hegt.

In der NZZ denkt der Kulturwissenschaftler Thomas Macho über ein "Zoopolis" nach, eine friedliche Gesellschaft des Lebendigen, die auch Tiere mit einschließt. Derzeit leben wir mit Tieren in zwei Dimensionen, meint er: Auf der einen Seite "in einer Welt, die bevölkert wird von Tieren, denen wir einen Namen geben, die wir lieben, bewundern, fotografieren oder betrauern, wenn sie sterben; auf der anderen Seite existiert eine erschreckende und nahezu unsichtbare Welt, in der Tiere massenweise unter grausamen Bedingungen gezüchtet, auf engstem Raum zusammengepfercht ein qualvolles Leben fristen, bevor sie getötet und in Nahrungsmittel transformiert werden, denen ihre Herkunft nicht mehr angesehen werden kann."

Weiteres: Der Kulturhistoriker Philipp Felsch blickt in der SZ zurück auf Ende 1971, als der amerikanische Präsident Richard Nixon das Ende der Goldbindung für den Dollar ankündigte und Jacques Derrida der Welt mit "prophetischer Triftigkeit" die Folgen dieser Entscheidung erklärte.
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Geschichte

Kenntnisreich und aus eigener Anschauung schildert der Osteuropahistoriker Dietmar Neutatz in der FAZ putinistische Geschichtsinszenierungen durch die "Militärhistorische Gesellschaft", die Kirche und in verschiedenen sehr populären Geschichtsmuseen. Überall begegnet er einem "interessanten Kunstgriff": "Während die Zaren glorifiziert und die Revolution gegen sie als schändlich bewertet wurden, erhalten die Kommunisten vom Moment ihrer Machtergreifung an eine positive Wertung, weil es ihnen gelungen sei, die Autorität des Staates wiederherzustellen."

Ebenfalls in der FAZ konfrontiert Claus Leggewie anlässlich des 8./9. Mai verschiedene Geschichtsbilder in Europa. Das deutsche "Nie wieder Krieg" und die Würdigung der ungeheuren sowjetischen Opfer entheilten dabei manche Tabuzonen: "Von den mit der Befreiung verbundenen Gräueltaten der Roten Armee, namentlich den Massenvergewaltigungen, verbot man sich zu sprechen. Tabu war ebenso die Behandlung der in die Sowjetunion heimgekehrten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, die als angebliche Verräter 'filtriert' und in Arbeitslager verschleppt wurden, da sie das Bild eines glatten Sieges über den Faschismus trübten."

Der russische Historiker Sergei Medwedew fürchtet den heutigen Tag in Russland, "weil ich weiß, dass die Staatsmacht diese zeitlich gerne mit gründlichen Säuberungen verbindet", schreibt er in der NZZ. "Der Tag des Sieges hat in Putins Russland eine schwindelerregende Entwicklung erlebt. Aus dem 'Feiertag mit Tränen in den Augen', der er Anfang des Jahrhunderts noch war, wurde eine militärisch-patriotische Show - eine gigantische symbolische Maschine, der das Land unterworfen wurde. ... Der Einmarsch in die Ukraine ist der wichtigste und schrecklichste Effekt der militaristischen 9.-Mai-Religion: Anstelle einer Würdigung des Sieges, eines Festakts zum Kriegsende, anstelle einer Feier des Friedens ist Russland dazu übergegangen, den Krieg zu rühmen. Der Sieg wurde ersetzt durch eine permanente Schlacht. Anstelle eines Aufatmens, eines 'Nie wieder', anstelle des Bannspruchs 'Bloß keinen Krieg', wie er nach 1945 zunächst gepflegt wurde, hat sich Russland die revanchistische Losung 'Wir können das wiederholen' auf die Fahnen geschrieben."

In der FR erinnert Aleida Assmann daran, dass die Deutschen bis in die achtziger Jahre hinein den 9. Mai 1945 nicht als Befreiung erlebten, wie es ihnen 1985 Richard von Weizsäcker nahe legte: Das kam erst später, während die Russen über Jahrzehnte einen "Kult des Krieges" pflegten und "die Opfer des Krieges und die Opfer Stalins eher an Bedeutung verloren haben. In dem Maße, wie hier eine Bewegung von unten nach und nach vom Staat usurpiert worden ist, wurde einer kriegstreibende Politik Vorschub leistet."

Weiteres: In der NZZ beschreibt der Historiker Rasim Marz das schwierige Verhältnis zwischen der Türkei und der arabischen Welt, war doch das Osmanische Reich jahrhundertelang Kolonialmacht und Beschützer der heiligen Stätten des Islams.
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