9punkt - Die Debattenrundschau

Die Zone der Ratlosigkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.05.2022. Die antisemitischen Äußerungen Sergej Lawrows kommen nicht von ungefähr, sie legen des Kern des putinistischen Verschwörungswahns offen, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog. Verschiedene Berichte prüfen laut Welt und hpd.de Extremismus und Verschwörungsdenken in Deutschland. Bei Zeit online versucht sich Meron Mendel einen Reim aus den Äußerungen Harald Welzers zu deutscher Geschichte zu machen. Nach den nordirischen Wahlen fragt Fintan O'Toole im Guardian, wie es um die irische Vereinigung steht. Elon Musk will Donald Trump wieder auf Twitter zulassen, aber es ist fraglich ob der überhaupt will, berichtet die New York Times.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.05.2022 finden Sie hier

Europa

Die USA haben einen "Lend-Lease Act" beschlossen, der es erlaubt, die Ukraine praktisch unbegrenzt mit Waffen zu versorgen, berichtet Dominic Johnson in der taz: "Vorbild nicht nur dem Namen nach ist das Lend-Lease-Gesetz vom 11. März 1941, das den Weg zu massiven Hilfslieferungen der USA an Großbritannien frei machte. Das Empire unter Winston Churchill wehrte sich damals noch allein gegen das zu dem Zeitpunkt noch mit der Sowjetunion verbündete Nazideutschland sowie Italien und Japan, während die USA offiziell Neutralität wahrten und keine Waffen in Spannungsgebiete liefern durften." Auch die Sowjetunion hätte später ihren großen Sieg über Hitler nicht ohne das massive Lend-Lease-Programms errringen können, betont Johnson.

Die antisemitischen Äußerungen Sergej Lawrows kommen nicht von ungefähr, sondern legen den Kern des Verschwörungswahns in der putinistischen Ideologie frei, meint Richard Herzinger in seinem Blog: "Die eigene hasserfüllte Vernichtungswut wird projektiv diesem im Dunkeln operierenden Feind unterstellt, um dann die exzessive Anwendung jeglicher Form entfesselter Gewalt als reine Verteidigungsmaßnahme zu rechtfertigen." An die "Entschuldigung" Putins gegenüber Naftali Bennett will Herzinger übrigens nicht recht glauben. Der Burgfrieden, den Israel mit Russland geschlossen hat - Russland toleriert Attacken Iraels auf Stellungen der Hisbollah in  Syrien - wird für Herzinger zunehmend brüchiger: "Während Moskau einerseits israelische Schläge gegen den Iran in Syrien toleriert, ist es zugleich der mächtigste strategische Verbündete und stärkste politische wie militärische Unterstützer des islamistischen Regimes in Teheran, dessen offen proklamiertes Ziel die Vernichtung des jüdischen Staats ist."

Die taz hat neulich eine Ausgabe der Nowaja Gaseta beigelegt. Die Autorin Julia Latynina behauptete dort, noch vor Hitler hätte Stalin Pläne für einen Weltkrieg gehabt (wir hatten nicht diesen Aspekt ihres Artikels zitiert, unser Resümee). Das ist eine Geschichtsversion, die gern von Rechtsextremisten verbreitet wird, antwortet Stefan Reinecke in der taz. Reinecke fühlt sich an die Debatte um Ernst Nolte erinnert, der Stalin ebenfalls als Vorläufer Hitlers gesehen hatte. "In diesem trüben Fahrwasser segelt Latynina, die eine gewisse Vorliebe für schrille Meinungen hat. Bei ihr erscheint Putin als Fusion von Hitler und Stalin. Analytisch trägt diese hyperventilierende Rhetorik nichts zur Klärung bei."

An welchem Punkt kann man eigentlich sagen, dass Putin den Krieg verloren hat, fragt Berthold Kohler in der FAZ: "Wer nicht Kriegspartei sein will, tut sich schwer damit, Kriegsziele festzulegen. Allein Washington bekundete, Russland so schwächen zu wollen, dass es keinen weiteren Überfall begehen kann. In Berlin dagegen reichen die meisten Äußerungen nur bis zum angestrebten Waffenstillstand. Danach beginnt die Zone der Ratlosigkeit."

Hinter der Bezahlschranke von Zeit online versucht der Pädagoge Meron Mendel den Auftritt Harald Welzers bei Anne Will zu verdauen. "Bleiben Sie beim Zuhören!" hatte Welzer dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk zugerufen, nachdem er ihn darüber aufgeklärt hatte, dass er, Welzer, als Deutscher mit Kriegserfahrungshintergrund spreche, wenn er vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine warne. So hat sich Mendel das Aufbrechen einer von Welzer oft beklagten "versteinerten Erinnerungskultur" in Deutschland nicht vorgestellt: "Laut Welzers Darstellung hat der Krieg, den die Deutschen einst begonnen haben, sie nachhaltig traumatisiert. Trotz oder gerade wegen dieses an sich selbst verursachten Traumas hätten sie es jedoch geschafft, ihre Niederlage letztlich als etwas Positives zu verstehen, daraus moralische Größe zu gewinnen. Legt Welzer Melnyk nahe, die Ukraine solle sich ergeben, um Kriegstraumata zu vermeiden? Bietet er ihm an, in der Niederlage eine Befreiung zu sehen? Vergleicht er die überfallene Ukraine mit Nazideutschland? Implizit wird der Zivilisationsbruch von Auschwitz zu einer Tugend, zu einer Qualifikation der Deutschen umgedeutet, die durch ihre 'präsente Kriegserfahrung' nun die Ukrainer belehren können. Damit wäre eine neue Stufe der deutschen Erinnerungskultur erreicht."

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk unterstützt das als rechtsextrem geltende Asow-Regiment schreibt Katja Thorwarth bei der FR. Einer ihrer Hauptkritikpunkte an dem Regiment ist, dass es von der rechtsextremen deutschen Kleinstpartei "Dritter Weg" unterstützt werde: "Ebenso als Asow-Unterstützer gilt laut eines Berichts des Deutschlandfunks die rechtsextreme 'Identitäre Bewegung'. Und Botschafter Melnyk? Der legte am 20. März noch einmal nach. Mariupol würde 'mutig verteidigt. Und zwar vom Asow-Regiment'. Der Kreml habe 'hässliche Propaganda verbreitet..., die auch in Deutschland gerne aufgegriffen' werde." Dass Putin der Hauptsponsor des Rechtsextremismus in Europa ist und die meisten Rechtsextremen hierzulande Putin unterstützen, ist sicher Gegenstand eines zweiten Teils der Recherche. Lesenswert zum Asow-Regiment ist dieser Twitter-Thread von Alice Bota.

Ja, Gerhard Schröder, Wladimir Putins Kumpel, war stets zugegen, wenn irgendwo in Deutschland eine neue Gazprom-Pipeline eingeweiht wurde, schreibt Claudius Seidl in der FAZ, aber "meistens in der Gesellschaft höchster Würdenträger der Länder und des Bundes. Noch im August 2015, eineinhalb Jahre nach der Annexion der Krim, die Schröder zwar einen Bruch des Völkerrechts nannte, für den er seinen Freund Putin aber nicht verurteilen wolle, schließlich habe er selbst im Kosovo-Krieg gegen das Völkerrecht verstoßen - im August 2015 also war es Angela Merkel, die Kanzlerin, die gemeinsam mit Schröder das Buch Gregor Schöllgens auf einer Pressekonferenz vorstellte."

Außerdem: Innerhalb von ein paar Wochen sind sieben russische Oligarchen unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen, berichtet Khaleda Rahman in Newsweek. Der im Schweizer Exil lebende russische Autor Michail Schischkin schickt in der NZZ einen überschwänglichen Brief an Europa: "Europa, in diesen schweren Tagen und Wochen bist du du selbst geworden, ich sehe dich auf den Plätzen deiner Städte. Menschen, die gegen den Krieg protestieren und die Menschlichkeit verteidigen, haben wunderbare, schöne Gesichter."

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Sinn Fein errang bei den nordirischen Parlamentswahlen einen historischen Sieg, weil diesmal selbst Protestanten für die Partei der Katholiken stimmten. Und das hatte vor allem einen Grund: Brexit, meint Fintan O'Toole im Guardian. "Diese Entwicklungen werfen zwei sehr wichtige Fragen auf - die Zukunft des Nordirland-Protokolls und ein vereinigtes Irland. Die erste Frage wird durch die Wahl geklärt. Einfach ausgedrückt: Wenn Johnson behauptet, die Menschen in Nordirland zu vertreten, indem er das Protokoll als Vorwand benutzt, um den Konflikt mit der EU wieder aufleben zu lassen, dann lügt er. Die Parteien, die das Protokoll ablehnen - die DUP, die Ulster Unionists und die TUV - haben zusammen 40 Prozent der Stimmen erhalten. Die Befürworter des Protokolls - Sinn Féin, SDLP, Alliance und zwei kleine Parteien - kamen auf 55 Prozent. Wenn die Tories die gestrige Drohung von Dominic Raab wahr machen, 'alle notwendigen Maßnahmen' zu ergreifen, um das Protokoll einseitig zu ändern und damit einen Handelskrieg mit der EU auszulösen, wird dies nicht den Wünschen der nordirischen Wähler entsprechen. Es wird ein vergeblicher Versuch sein, Johnsons Haut zu retten. Was ein vereinigtes Irland angeht, so würde nur ein Narr glauben, dass es bald kommen wird - und nur ein noch größerer Narr würde glauben, dass es nicht in irgendeiner Form näher gerückt ist.
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Internet

Elon Musk will Donald Trump auf Twitter wieder zulassen, berichtet Mike Isaac in der New York Times: "Musk, der im vergangenen Monat eine Vereinbarung zum Kauf von Twitter für 44 Milliarden Dollar getroffen hat, sagte auf einer Konferenz der Financial Times, dass die Entscheidung des Unternehmens, Trump wegen seiner Tweets über die Unruhen im US-Kapitol zu sperren, 'ein Fehler war, weil sie einen großen Teil des Landes verprellt hat und letztlich nicht dazu geführt hat, dass Donald Trump keine Stimme hat'. Allerdings ist weder klar, ob Trump überhaupt zurückkehren will, noch ob Musk sein Wort hält, fährt Isaac fort. "Bei Twitter selbst befürchten Mitarbeiter, dass Musks Enscheidung die jahrelange Arbeit an den Unternehmensrichtlinien in Frage stellen und Investitionen von Millionen von Dollar in die Moderation von Inhalten zunichte machen würde, so vier aktuelle und ehemalige Mitarbeiter."
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Stichwörter: Twitter, Musk, Elon, Trump, Donald

Gesellschaft

Der Rechtsextremismus ist nach wie vor die größte Gefahr im Land Innenministerin, sagte Nancy Faeser bei der Vorstellung der Jahresstatistik des Bundeskriminalamts laut Welt. "Die Zahl der Delikte in den klassischen Bereichen Rechts- und Linksextremismus ging leicht zurück. Eine Zunahme um 15,5 Prozent gab es allerdings auch wieder bei den politisch motivierten Gewalttaten. 3.889 Gewalttaten wurden gezählt, rund zwei Drittel davon Körperverletzungen.

Muslimischer Antisemitismus kann recht heftig sein, berichtet Frederik Schindler in der Welt und zitiert eine Studie, die das American Jewish Committee (AJC) in Auftrag gegeben hat: "So ist etwa gut jeder Dritte in der nicht-muslimischen Bevölkerung der Ansicht, dass Juden den Status als Opfer des Holocaust zu ihrem Vorteil ausnutzten. Unter den deutschsprachigen Muslimen stimmen hier ganze 54 Prozent zu. 23 Prozent der nicht-muslimischen Bevölkerung Deutschlands hängen dem antisemitischen Mythos an, dass Juden zu viel Macht in der Wirtschaft und im Finanzwesen hätten. Bei den befragten Muslimen stimmen sogar 49 Prozent dieser Aussage zu." Auch in der nicht-muslimischen Bevölkerung gibt es große Unterschiede: "So teilen ganze 48 Prozent der befragten AfD-Wähler die Ansicht, dass Juden den Holocaust zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzten, bei den Grünen-Wählern sind es 24 Prozent."

Auch im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg zirkulieren Verschwörungstheorien. Das gemeinnützige Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) ist ihnen nachgegangen (mehr hier). Oranus Mahmoodi  berichtet bei hpd.de darüber: "Eines der zentralen Ergebnisse des CeMAS-Papers lautet: Impfstatus und Verschwörungsglauben haben einen Zusammenhang. Ungeimpfte sind zu rund 56 Prozent auch den Verschwörungserzählungen im Zusammenhang mit Russland und der Ukraine zugetan. Bei den Geimpften sind es nur 14,5 Prozent, die den Fantasiegeschichten zum Ukraine-Krieg nicht abgeneigt sind. Die Forscher befragten in einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung 2.031 volljährige Personen."
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