9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht registrierte Geisterwaffen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.05.2022. Der Verlust von Mariupol ist eine Niederlage für die Ukraine, aber ist er ein Sieg für Putin? Die Medien fragen, was mit den Soldaten aus dem Asow-Stahlwerk geschieht. Die größte Gefahr, dass sich der Ukraine-Krieg internationalisiert und das die Nato hineingezogen wird, besteht auf dem Meer, schreibt der Oxforder Militärhistoriker Lawrence Freedman in seinem Blog. In Afghanistan werden wieder Frauen ermordet, schreibt eine anonyme afghanische Autorin in Zeit online. In Frankreich setzen sich Feministinnen laut Charlie Hebdo für den Burkini ein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.05.2022 finden Sie hier

Europa

Der Verlust von Mariupol ist für die Ukraine eine verlorene Schlacht, aber ist er für die Russen ein Sieg? Barbara Oertel glaubt es in der taz nicht: "Welche Bilder werden jetzt um die Welt gehen? Die russische Fahne gehisst und der 'Sieg' zelebriert. Die Feier steigt inmitten der Ruinen Mariupols - die Stadt, von der nur noch wenig übrig geblieben ist. Ukrainische Soldaten, die mit dem Kombinat Asowstahl die letzte Bastion räumen und einem unsicheren Schicksal, ja wenn nicht gar ihrem Tod entgegengehen." Zum Schicksal der Soldaten des Asow-Stahlwerks, die nun offenbar doch nciht ausgetauscht werden, schreibt Bernhard Clasen in der taz: "Dieses Mal scheinen die russischen Medien, die von einer Gefangennahme sprechen, näher an der Wahrheit zu sein, als die ukrainische Seite. Schon am Morgen nach ihrer Ankunft in einem Krankenhaus, so die russische Journalistin Irina Kuksenkova vom staatlichen russischen Fernsehen, würden die ersten Verhöre beginnen."

Laut FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt, haben sich nicht alle Soldaten auf dem Gelände des Stahlwerks ergeben, aber wieviele geblieben sind, ist unklar. Die Gefangennahme hat vor allem für die russische Propaganda Symbolkraft: "Die letzten Verteidiger von Mariupol auf dem 'Asowstal'-Gelände haben Moskau schon lange als Inkarnation des Bösen gedient. Neben ukrainischen Soldaten handelt es sich um Nationalgardisten. Ihre Einheit ging aus dem nationalistischen Freiwilligenbataillon 'Asow' hervor, das im Kampf gegen die russische Landnahme 2014 entstand. Seit der Eingliederung in die Nationalgarde gelten neonazistische Strömungen in dem Verband als überwunden, die russische Propaganda benutzt die 'Asowzy' aber dennoch als Beleg dafür, dass man gegen 'Nazis' kämpfe."

Bernard-Henri Lévy veröffentlichte noch vorgestern ein Gespräch mit dem Vizekommandeur der Einheit, Ilja Samoilenko, (unser Resümee in der Magazinrundschau). Er erklärte, warum die Soldaten so lange ausharrten: "Weil sie uns töten wollen. Und zwar alle. Und einen nach dem anderen. Wir haben Fälle von Kameraden, die sie gefangen genommen haben. Sie haben sie hingerichtet, unter Missachtung der Kriegsgesetze. Ihre Mütter haben ein Foto von ihnen erhalten, das mit ihrem eigenen Handy aufgenommen wurde. Einen von ihnen haben sie erstickt, den Kopf in einer Plastiktüte, mitten in einem Roggenfeld."

Die größte Gefahr, dass sich der Ukraine-Krieg internationalisiert und die Nato hineingezogen wird, besteht auf dem Meer, schreibt der Oxforder Militärhistoriker Lawrence Freedman in einem seiner Blogbeiträge: "Solange die Blockade andauert, entstehen nicht nur für die Ukraine, sondern auch für den Rest der Welt echte Probleme. Im ersten Monat des Konflikts wurden mindestens acht Handelsschiffe in ukrainischen Häfen und im Schwarzen Meer angegriffen. Eines davon, die 'Helt', sank vor der Küste von Odessa, nachdem es vermutlich auf eine Mine aufgelaufen war, wobei zwei Besatzungsmitglieder ums Leben kamen. Viele Handelsschiffe sitzen in ukrainischen Häfen fest und können nicht auslaufen. Die Versicherungsprämien für Schiffe, die das Gebiet befahren wollen, sind inzwischen unerschwinglich."

Politiker in Deutschland, Frankreich und Italien rufen nach einem Waffenstillstand. Der französische Russland-Experte Nicolas Tenzer warnt auf der Website des Thinktanks CEPA: "Einen eingefrorenen Konflikt zu akzeptieren, würde Wladimir Putin eine Art Genugtuung verschaffen. Zwar wäre es ihm nicht gelungen, die gesamte Ukraine oder wenigstens die gesamte Region Donbas und Odessa zu erobern, wie er gehofft hatte. Aber die Stabilisierung der derzeitigen Landnahme könnte ihm ganz recht sein. Sie würde eine große Instabilität im Herzen Europas bedeuten; die Ukraine bliebe de facto ein Staat, der seiner vollen Souveränität beraubt wäre; sie könnte wahrscheinlich nicht ohne Weiteres der EU beitreten - Mitglieder der EU könnten diese Aussicht umso weniger akzeptieren - und erst recht nicht der Nato. Schließlich würde ihre wirtschaftliche Entwicklung ausgebremst, mit den schwerwiegenden sozialen Problemen, die dies verursachen würde und die sich gegen die Regierung wenden könnten."

Der Ukraine-Krieg legte offen, dass die Mentalität des "Wandels durch Handel" und der "Friedlichen Koexistenz" an Komplizentum grenzen kann, schreibt Peter Mathews im Perlentaucher. Diese Mentalität regiert aber auch auf ganz anderen Politikfeldern, etwa in der Innenpolitik, wo man den Politischen Islam der großen, meist von undemokratischen Staaten subventionieren Islamverbände hofiert. "Der Gewinn für die politisch Verantwortlichen bestand offenbar allein darin, dass man 'im Gespräch blieb' und keine eigene Haltung formulieren musste. Positive Ergebnisse dieser Zusammenarbeit in Sachen Integration tendieren gen Null. Bürgerschaftliches Engagement, Konfliktbearbeitung durch die Islamverbände blieben unter Null."

Weiteres: FAZ-Korrespondent Schmidt berichtet auch über Recherchen exilierter russischer Journalisten über die russischen Illusionen vor dem Krieg: "Alle Quellen stimmten... darüber überein, dass die russische Führung davon ausgegangen sei, die eigene Armee werde in der Ukraine nicht auf ernst zu nehmenden Widerstand stoßen." Viel retweetet wird die Meldung des Odessa-Journal, dass die Angreifer die landwirtschaftliche Genbank der landwirtschaftlichen Yuriev-Akademie in Charkiw, eine der größten der Welt, zerstört haben.

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In Frankreich gestattet die Stadt Grenoble den Burkini in ihren Schwimmbädern, während sich gleichzeitig die verbliebene Linke unter der Fahne des Populisten Jean-Luc Mélenchon sammelt - seine Partei befürwortet den Burkini. Charlie Hebdo titelt: "Ein Kartoffelsack einigt die Linke".

Leider spaltet der Streit auch den Feminismus, schreibt Laure Daussy ebenfalls in Charlie Hebdo: "Linke und Feministinnen müssen das patriarchalische Verbot, ihren Körper zu zeigen - der von den Religionen immer schon als unrein angesehen wird - in Frage stellen und kritisieren und dürfen es nicht gutheißen. Wenn das Diktat, den weiblichen Körper zu bedecken, von traditionellen Katholiken ausginge, würden Linke und Feministinnen es zu kritisieren wissen. Im Gegensatz dazu haben hier mehrere feministische Persönlichkeiten Aufruf mit dem Titel 'En mai, mets ce qu'il te plaît!' (zieh im Mai an, was du willst) unterzeichnet, um den Burkini zu bejahen."
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Politik

Man muss nicht mal an das Attentat in Buffalo denken, um diesen Bericht im Tagesspiegel mit Grausen zu lesen:  "Die Zahl der Waffen in privater Hand hat in den USA einem Regierungsbericht zufolge in den vergangenen zwanzig Jahren extrem zugenommen. Laut dem am Dienstag veröffentlichten Bericht des Justizministeriums haben allein US-Waffenhersteller zwischen 2000 und 2020 mehr als 139 Millionen Schusswaffen für den kommerziellen Markt hergestellt. Dazu kommen 71 Millionen importierte Waffen. Dem stehen nur 7,5 Millionen Exporte gegenüber. Sorgen bereiten der Regierung indessen nicht registrierte 'Geisterwaffen'. ... Vergangene Woche hatte die Gesundheitsbehörde CDC erst erklärt, dass die Zahl der Todesfälle durch Schusswaffen in den Vereinigten Staaten im Jahr 2020 einen 'historischen' Anstieg erfahren hatte. Die USA verzeichneten demnach 19.350 Tötungsdelikte mit Schusswaffen - ein Drittel mehr als 2019."

In Afghanistan werden seit Machtübernahme der Taliban immer häufiger Frauen getötet. (Nicht, dass das hier auch nur eine Feministin hinter dem Ofen hervorlocken würde.) "Die Zahl brutal ermordeter Mädchen und Frauen stieg täglich. Ihrer Leichen entledigte man sich auf Müllkippen, in Straßengräben oder in verwinkelten Gassen im Niemandsland", schreibt eine anonym bleibende Afghanin im Zeit-Blog "10 nach 8": "Nur eineinhalb Monate, nachdem die Taliban in Afghanistan wieder Präsenz zeigten, fand man in Masar-i Scharif Forusan Safi tot auf. Die Frauenrechtlerin und Dozentin an der Universität von Balch, und mit ihr zwei Studentinnen, eine Ärztin und eine Polizistin, waren keines natürlichen Todes gestorben", man hatte sie hinterrücks erschossen. "Am 15. Januar 2022 war die junge Zeinab Abdollahi mit ihrer Familie auf dem Heimweg von einer Hochzeit. Nachdem alle den Kontrollpunkt der Taliban in Kabuls 13. Bezirk passiert hatten, erschoss ein Talib das Mädchen. Ebenfalls am 19. März 2022 stieß jemand in einem Bezirk der Provinz Kandahar in einem Abwasserkanal auf eine Frauenleiche. Am 23. März entdeckte man auf einer Müllkippe im Westen Kabuls die Leiche eines jungen Mädchens, an den Händen gefesselt. Obwohl aus Angst vor Repressalien der Taliban kaum öffentlich über Opferzahlen gesprochen wird, berichteten Menschen in den sozialen Medien von weiteren mysteriösen Morden durch Ortsansässige."
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Ideen

In der NZZ ist Paul Jandl gerührt, wie fleißig Prominente in den letzten Monaten offene Briefe verfassten, um sich zu den drängendsten Probleme der Welt zu äußern. Bisschen eitel auch? Naja, gut gemeint ist es jedenfalls: "Wer schlechten Sachen dienen möchte, würde keine offenen Briefe schreiben. Für gewöhnlich kann der offene Brief also auf einen Konsens setzen, dem es ohnehin egal ist, ob sich auch Alice Schwarzer, Daniel Kehlmann oder Juli Zeh unter ihm einreihen. In diesem Sinn wäre es gut, wenn jetzt einmal ein bisschen Ruhe einkehrte. Wenn nicht gleich morgen wieder schlaflose Intellektuelle und Künstler der Welt sagen, wie man sie retten könnte. Uns ist alles Gute recht. Wir sind ganz bei Olaf Scholz. Auch wir respektieren jeden Pazifismus und jede Haltung."
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